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Der Adel in der Krise
ОглавлениеFür das Gebiet der späteren Eidgenossenschaft wurde bezeichnend, dass dieser Militärstand bald an Bedeutung verlor. Die hochadligen Edelfreien (nobiles) starben früh weitgehend aus: die herzogliche Linie der Zähringer 1218, die Hauptlinie der Kyburger 1264, die Grafen von Rapperswil 1283. Bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts wurden auch die niederen Adelsgruppen stark geschwächt, vor allem der ursprünglich dienstbare Ritteradel, die «Ministerialen» oder milites. Die Gründe für deren Krise waren vielfältig, teils zufällig, teils strukturell, lagen aber nicht im Kampf mit «freien Bauern», wie man es sich später ausdachte. Als Ritter gingen die Adligen grundsätzlich einem lebensgefährlichen Beruf nach. Andere Familienmitglieder unterwarfen sich als hohe Kleriker dem Zölibat und blieben deswegen ohne erbberechtigte Nachkommen. Den milites boten sich zwei Wege aus der Krise: Einerseits war dies der Fürstendienst vor allem bei den Habsburgern oder – längerfristig aussichtsreicher – bei den Savoyern, in deren Gefolge sie als sogenannte «Landesadlige» Hof-, Verwaltungs- oder Kriegsdienst leisteten; und andererseits die Einbürgerung in eine Stadt, wo sie als Patrizier (mit dem Titel «Ritter») eine herausragende Stellung innehatten, sich aber doch zusehends an bürgerliche Werte und Tätigkeitsfelder anpassten. Beide Strategien beinhalteten einen Statusverlust, wie er für Hochadlige kaum denkbar war. Wie manche milites wichen sie deshalb dem Druck oft räumlich aus, mittelfristig vor allem in das Gebiet nördlich des Rheins. Andere (Raub-)Ritter leisteten dem Niedergang Widerstand, indem sie die Fehde suchten. Gerade damit gerieten sie aber ins Visier der sich ausbildenden Landesherrschaft – sei es diejenige von Fürsten oder, wie im eidgenössischen Raum, von Städten oder Ländern, die sich verbanden. So schränkten sie den Handlungs- und Gestaltungsraum der selbstständigen wie der habsburgischen Adligen zusehends ein: Nur an der eidgenössischen Peripherie konnten sich die Grafen von Toggenburg, Thierstein, Greyerz und Neuenburg bis ins 15. Jahrhundert behaupten, dort allerdings durchaus als Verbündete und nicht als Feinde der Eidgenossen.
Strukturell wurde die Stellung des Adels in ganz Europa durch die allgemeine demografische und wirtschaftliche Krise des 14. Jahrhunderts in Frage gestellt. Eine Ursache war das Ende des «mittelalterlichen Klimaoptimums» des 11. bis 13. Jahrhunderts, worauf die Durchschnittstemperaturen sanken. Diese «kleine Eiszeit» sollte bis ins 19. Jahrhundert anhalten. 1322/23 war ein erster extrem kalter Winter, die Ostsee schon im November vereist. Das «Magdalenen-Hochwasser» vom 21./22. Juli 1342, als die halbe normale Jahresregenmenge fiel, überschwemmte auch weite Teile der Schweiz und zerstörte grosse Mengen von Kulturland. Nach weiteren nassen und teilweise extrem kalten Sommern folgte als nächste Katastrophe die aus Asien eingeschleppte Pest, die 1348/49 etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung hinwegraffte und fortan regelmässig wiederkehrte, etwa einmal pro Jahrzehnt. Diese Entwicklung traf den Adel hart, während die Vollbauern ihre relative Stellung insgesamt verbessern konnten. Wegen der Todesfälle nahm ihre Zahl ab, der bebaubare Boden aber nicht, sodass sie bessere Arbeitsbedingungen für ihre gefragten Dienste aushandeln konnten: Abgabenermässigung, Schuldenerlass und Erbleihe mit weitgehend freiem Verfügungsrecht. Widrigenfalls fanden sich Alternativen bei einem anderen Grundherrn oder in den entvölkerten Städten. Insbesondere waren die Bauern nicht bereit, die festgeschriebenen Grundzinsen zu erhöhen, auch wenn sie etwa durch die extensive Viehwirtschaft auf ungenutztem Land höhere Einnahmen erzielten. Die «Realteilung», das heisst die Erbteilung auf die Nachkommen zu gleichen Teilen, schmälerte zusätzlich die Einkünfte einer Grundherrschaft. Von diesen Erträgen hing es aber ab, ob ein Adliger standesgemäss leben, also den Anforderungen eines elitären Lebensstils genügen konnte, der auch wegen Importen des Fernhandels immer mehr kostete. Für die Grundherren tat sich so eine Schere auf zwischen stagnierenden Einnahmen und wachsenden Ausgaben.