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3. Die Kuriositätenausstellung

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Irgendwie kam es mir ziemlich schwachsinnig vor. Auf die Idee zum Bunker zu fahren, mit dem Auto, würde ich nur kommen, wenn es in Strömen regnete, aber die Sicherheitsvorgaben ließen nichts anderes zu.

Es war einer dieser Frühlingstage, an denen sich das Wetter nicht entscheiden konnte, ob es regnen oder nicht regnen sollte, ob die Sonne scheinen oder nicht scheinen sollte, teilweise war es bewölkt und teilweise nicht. Nur auf eins hatte sich das Wetter festgelegt, es wehte nur ein leichter Wind.

Es hatte etwas erhabenes, als ich über die Brücke fuhr und am Kiosk links abbog. Die Ehre, einen Firmenwagen zu besitzen, hatte ich noch nie, und als sich das Garagentor automatisch öffnete, der Hundeführer grüßte, kam ich mir schon ein wenig stolz vor. Es war ein gutes Gefühl trotz aller Dekadenz.

Die Autoschleuse passierte ich als wäre es Routine. Ich fuhr in Richtung Aufzug und wollte gerade einparken, als Dirty Harry von weitem unmissverständlich winkte, ich sollte weiter auf ihn zufahren. Langsam fuhr ich vor und je näher ich ihm kam, desto mehr erkannte ich die Ungeduld in seinem Gesicht. Kurz bevor ich ihn erreichte, zeigte er mit dem rechten Arm nach rechts und mit dem linken winke er in diese Richtung. Ich verstand die Anweisung sofort und folgte. Als ich in die Parklücke fuhr, konnte ich lesen: „Herr Müller“. Auf einem Nummernschild an der Wand stand tatsächlich mein Name: „Herr Müller“. Ich konnte es kaum glauben.

Ich stieg aus und grüßte: „Morgen, Harry.“

„Morgen, Thomas“, lächelte er zurück, wobei er sich an seine Dienstmütze fasste: „Anweisung von der Alten. Du sollst den besten Parkplatz bekommen.“

„Danke.“

„Bei der scheinst du was gut zu haben?“

„Wieso?“

„Na ja“, kam er ins Stottern und zog seine Mütze nachdenklich aus, „normal ist das nicht, dass die Alte sich persönlich um Parkplatzangelegenheiten kümmert. Also ich meine…“, stotterte er weiter, „ich könnte dir auch einen größeren Wagen geben.“

„Ach lass mal, wie ich gestern schon sagte, der Wagen passt ganz gut zu uns und wir haben uns auch schon dran gewöhnt.“

„Ja dann…“, sagte er verständnislos und schüttelte den Kopf. Er ging zum Aufzug, wo ein Automat stand und steckte einen Schlüssel hinein. „Thomas, komm her bitte, wir müssen dich ins System scannen.“

Ich gehorchte und legte meine rechte Hand auf eine Glasplatte und schaute in ein Gerät.

„Bitte jetzt ruhig“, kam die nächste Anweisung.

Rechts von mir hörte ich etwas brummen, ähnlich einem Kopierer, gesehen habe ich nur ein grünes Licht. Als ich aufschaute war die Aufzugstür schon offen.

„Wenn du eine verschlossene Tür öffnen willst, halte Ausschau nach diesen Gerätschaften. Wenn sich die Tür nicht öffnet, ist die nicht kaputt, sondern du hast keine Berechtigung. Das wird aber so gut wie nie vorkommen.“

„Wieso? Wenn ich fragen darf.“

„Du hast eine sehr hohe Berechtigungsstufe. Ich hab bei der Alten sogar nochmals nachgefragt, ob sie sich nicht geirrt hat. Das hätte ich lieber bleiben lassen.“

„Sie hat dir unmissverständlich klar gemacht, dass du ihre Anweisungen zu befolgen hast und nicht zu hinterfragen?“

„Genau so hat sie es gesagt“, von der Selbstsicherheit eines Dirty Harry war nun wenig übrig, „nur in einem Ton, da rollen sich bei mir die Fußnägel auf. Sei bloß vorsichtig, die Alte hat Haare auf den Zähnen.“

„Wird schon gut gehen“, sagte ich kurz angebunden und ging in den Aufzug.

Oben angekommen, wiederholte sich die Prozedur mit dem Gebläse und die Tür öffnete sich nach kurzer Zeit. Aber diesmal empfing mich niemand, daher beschloss ich den Weg zurückzugehen, den mich Frau Dr.Dr.Dr. begleitet hatte und Sie werden es nicht glauben, aber ihr wunderbarer Duft schien noch immer in der Luft zu liegen.

Im Zimmer war niemand, auf dem Sekretär standen eine Ansammlung von kleinen Flaschen und zwei Thermoskannen, Gläser, Tassen und eine Schale mit Gebäck. Ich setzte mich und wartete, was sollte ich auch anderes tun.

Nach kurzer Zeit hörte ich: „Guten Morgen, Herr Müller.“

Reflexartig drehte ich mich um und wollte auch grüßen, als ich Rex sah, er lag bereits in seiner Ecke und döste. Ich hatte ihn nicht kommen hören.

„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen, mein neues Outfit, so sagen die jungen Leute doch heute, Herr Müller.“

Sie strahlte. Sie trug ein farbenfrohes Sommerkleid mit Blumenmotiven.

„Wau, guten Morgen“, sagte ich angenehm überrascht, „mit Ihnen würde ich mich um diese Zeit aber auch nicht in einer Fußgängerzone sehen lassen“

„Warum das denn nicht?“

„Um diese Tageszeit ist die Stadt voller Rentner und die würden mich alle fragen: Wer ist die bezaubernde Frau an ihrer Seite?“, schleimte ich.

„Hört, hört, ein Charmeur alter Schule, wo gibt es so was noch. Wäre ich nur fünfundzwanzig Jahre jünger, ich würde Sie nicht als Vorleser anstellen, sondern als Gärtner“

Bevor ich mich darüber wundern konnte, kam von der älteren Dame, die den Rollstuhl schob, synchron mit Rex ein „Wuuf“ hervor. Ich war so perplex, dass ich nicht wusste was ich sagen sollte. Die Alte Dame wurde auf ihren gestrigen Platz geschoben, und niemand schien sich über das gerade Geschehene zu wundern, daher beschloss ich, nicht nachzufragen.

„Den Schwestern sagte ich gestern, sie sollten für Ihr leibliches Wohl sorgen, hat sie der Anordnung entsprochen? Sind Sie ausreichen versorgt.“

Ich schaute auf den Sekretär: „Gewiss, äußerst großzügig.“

„Und hat man Ihnen das Buch herausgelegt.“

„Ja“, auf dem Tisch lag ein in Leinen gebundenes Buch. In goldenen Prägebuchstaben stand darauf: „Der Besuch der alten Dame“. Ich schlug es auf. In großer Schrift stand mit Füllfederhalter geschrieben. „Für meine liebenswerteste Kritikerin, 06.06.1956, seine Unterschrift“.

„Mit persönlicher Widmung. Haben Sie Ihn etwa persönlich gekannt?“, fragte ich ungläubig.

„Ja, natürlich, ich war noch jung, in der Gesellschaft noch vertreten. Warum wundern Sie sich? Glauben Sie mir etwa nicht?“, antwortet sie ein wenig beleidigt.

„Aber sicher doch glaube ich Ihnen, nur habe ich noch niemanden getroffen, der mein großes Vorbild getroffen hat. So zu schreiben wie er, das wäre fantastisch, so simpel, so leicht, so aussagekräftig und doch ist jedes Detail bis aufs kleinste durchdacht.“

„Zu dem damaligen Zeitpunkt habe ich viele Künstler und dergleichen kennengelernt. Die gingen bei uns ein und aus, wie Fliegen in einem heißen Sommer. Ich bin so alt, mich wundert nur, dass ich Napoleon nicht persönlich gekannt habe. Oder die Rothschilds. Ich meine natürlich den alten und nicht einer seiner fünf Söhne. Irgendwie scheint mich der Sensenmann vergessen zu haben, oder er hat sich in der Tiefgarage verlaufen und findet den Aufzug nicht.“

„Wenn ich sagen darf, nach heute morgen, glaube ich, er hat von Dirty Harry noch keine Sicherheitsakkreditierung bekommen.“

Wir lachten beide herzlich.

„Ich weiß nicht, ob ich fragen darf, aber…gestern sprachen wir auch schon über den Herrn.“

Sie verstand direkt, dass ich Harry nicht meinte.

„Machen Sie sich mal keine Sorgen, ich habe noch keinen unmittelbaren Termin mit diesem Herrn vereinbart und ich habe es auch noch nicht vor. Ob es ihm ein Vergnügen bereiten wird, mich kennen zu lernen, wage ich zu bezweifeln. Je älter man wird, je näher rückt die unausweichliche Tatsache. Die Frage die Sie aber wirklich interessiert, ist: Ob ich vor dem Tod Angst habe?“, sagte sie ganz kühl mit Bedacht.

„Ja, Sie scheinen so unerschrocken, als würden Sie geradezu darauf warten. Meine Urgroßmutter war genauso am Ende ihres Lebens.“

Sie wurde unruhig, sah mit schräger Kopfhaltung auf ihren Schoß und rieb sich, wie gestern, den Daumen. Rex hob den Kopf und auch ihn überkam eine gewisse Unruhe. Sie schien intensiv nachzudenken. >Ich kannte sie kaum. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Hätte ich das mit dem auf den Tod warten nicht sagen sollen?<, fragte ich mich schuldbewusst. Es dauerte noch eine gewisse Weile, bis sie mit zittriger Stimme begann: „Das tue ich auch. Der Tod ist unumgänglich und ohne ihn wäre Leben nicht möglich. Evolution könnte ohne Tod nicht stattfinden. Vor dem Tod habe ich keine Angst, habe ich nie gehabt. Warum auch, ich hatte ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben, wer kann das schon von sich behaupten!“

Sie fing sich wieder, ihre Stimme wurde stabiler, sie hob den Kopf und sah mich an: „Vor dem Sterben hatte ich schon Angst, vor einem langen Todeskampf, jedoch mit zunehmendem Alter ließ auch das nach. Mein Körper ist ausgelaugt, gelähmt, selbst Lesen ist schwierig geworden und ehrlich gesagt, ein Wrack bin ich, da ist nicht mehr viel übrig geblieben um zu kämpfen. Es wird Zeit für Neue Platz zu machen. Auch wenn es keinen Gott geben sollte, so kann ich mich mit dem Gedanken abfinden, dass meine Moleküle und Atome in andere Lebewesen übergehen. Leben und leben lassen.“

„Glauben Sie denn an Gott?“

„Glauben Sie denn daran?“

„Ich weiß nicht“, musste ich achselzuckend eingestehen und es überkam mich eine seltsame Traurigkeit.

„Dann gehören wir der gleichen Glaubensgemeinde an. In jungen Jahren habe ich oft darüber nachgedacht und dann den Beschluss gefasst meine Lebenszeit nicht mehr mit dem für und wider zu verschwenden. Der Atheismus stand mir in jungen Jahren sehr nah, zur damaligen Zeit war ein Glaube an Gott auch unmöglich. Aber Atheisten sind auch Gläubige, nur dass sie nicht an Gott glauben. Einen Wissenden habe ich noch nicht gefunden, daher sind Glaubenskriege, wenn es sie denn überhaupt geben soll, auch so absurd. Wenn sie sich aus Wissenheit töten würden, könnte ich es vielleicht noch ein wenig verstehen. Ich denke, wir sind uns einig, wir gehören zu der Gruppe der: Lass dich Überraschenden“

>Ich habe noch keine Zeile gelesen und wir sind schon beim Leben nach dem Tod gelandet.<, dachte ich sorgenvoll und fragte mich: >Wo das noch hinführen soll?< Eins war mir jedoch damals schon klar: >Bei der Dame musst du alle sieben Sinne wach halten, mit „nur“ Vorlesen wird es nicht getan sein, sonst wirst du, in den Gesprächen die noch bevorstehen, sang- und klanglos untergehen.< Daher beschloss ich meinen Anfall von Melancholie zu beenden.

„So habe ich die Glaubensfrage noch nicht betrachtet, aber Ihre Ausführung ist logisch und Sie haben recht, ich gehöre wohl zu den „Las dich Überraschenden“. Aber wäre es nicht besser, an ein Leben nach dem Tode zu glauben.“

„Besser, ist wohl das falsche Wort. Einfacher wäre es“, sagte sie spöttisch. „Wer wirklich felsenfest davon überzeugt ist, dass es nach dem Leben weiter geht, für den ist der Tod leicht hinnehmbar, fast erstrebenswert. Darauf basieren Selbstmordattentate. Lassen wir die Diskussionen, denn niemand weiß, was wirklich geschehen wird. Wenn dem so wäre, gäbe es nur eine Religion und erwarten Sie von mir nicht, auf meine alten Tage, aus reinem Selbsterhaltungstrieb der Bigotterie zu verfallen. Wenn ich in meinem Zustand in die Ewigkeit eingehen soll, kann ich darauf sehr gut verzichten.“

„Von Ihnen könnte ich bestimmt noch viel lernen, wenn…“, ich traute mich nicht weiter zu reden und schämte mich dafür, was ich dachte.

„Sprechen Sie es nur aus: Wenn Sie nur länger leben würden. Das hätte aber zur Folge, dass Sie mich bezahlen müssten, und ich nicht Sie.“

Wir lachten wieder, ich ein wenig verlegen.

„Auch wenn einige Körperteile langsam aufgeben, aber Ihr Gehirn funktioniert noch bestens.“, konterte ich.

„Auch das ist eine Täuschung, aber so manchen Idioten und Dilettanten schlage ich immer noch um Längen.“

„Bestimmt“, sagte ich und wurde nachdenklich, >ob sie mich damit meint?<

„Seien Sie nicht traurig, wäre ich nicht alt und würde mich das Lesen nicht sehr anstrengen, hätten wir uns nie kennengelernt, und Sie hätten keinen Job“, tröstete sie mich.

„Das stimmt auch wieder, Ihr Pragmatismus ist bewundernswert und gleichzeitig erschreckend.“

„Er macht das Leben schwerer…..und erleichtert die Tatsache des Todes zu ertragen.“

Ich bemerkte, dass ich wieder melancholisch wurde und nichts dagegen tun konnte: >Soll wirklich mit dem Tod alles vorbei sein? Würde ich sie…< Da wurde mein Anfall von Schwermütigkeit abrupt ausgebremst.

„Können wir nun anfangen!“ sagte sie bestimmt.

„Sicher, sofort“. Ich schlug das Buch auf und begann:

„Erster Akt…… Glockenturm eines Bahnhofs, bevor der Vorhang……“ und schon war jeder Anflug von Bitterkeit oder Sorge verflogen. Ich habe viel darüber nachgedacht, aber bis heute keine befriedigende Antwort gefunden. Wenn ich lese und das Buch lässt es zu, vergesse ich Zeit und Raum, alles um mich herum wird verschwommen, unwirklich. Dabei strengt es mich überhaupt nicht an. Ich kann stundenlang lesen. Dabei vergesse ich die menschlichsten Bedürfnisse wie Essen, Trinken und manchmal den Gang zur Toilette, was bis jetzt aber noch immer gut gegangen ist.

„Zweiter Akt…“

„Moment mal, brauchen Sie keine Pause?“

„Nein“, sagte ich kurz und tonlos.

„Aber ich brauche eine“, antwortete sie bestimmend. „Essen Sie doch etwas.“

„Nein danke, ich würde mir aber gerne etwas zu trinken nehmen.“

„Bedienen Sie sich ruhig, nur zu!“

Ich nahm mir ein Glas, was bestimmt für den Genuss von Whisky gedacht war, drehte es um und stellte es ab. Es war sehr schwer, wahrscheinlich aus Kristallglas, irgendwelche Motive waren eingeschliffen, die ich aber nicht zuordnen konnte. Dann öffnete ich eine kleine Flasche Cola und schenkte ein. Als ich sie fragen wollte, ob ich ihr auch etwas einschenken sollte, sah ich, dass sie einen Schlauch im Mund hatte. Dieser war an einem Bügel befestigt.

„Funktioniert das elektrisch?“, fragte ich banal.

„J…a“ kam es etwas kärglich. „Entschuldigung ich hab mich verschluckt, letzte Woche pumpte es zu wenig, jetzt zu viel. Es gibt zu viele Idioten und Dilettanten auf der Welt. Ich hasse Stümperei. Sie machen aber Ihre Arbeit sehr gut, und Rex scheint es auch sehr gut zu gefallen.“

„Wie kommen Sie darauf? Soweit ich bemerken konnte, hat er nur einmal den Kopf kurz gehoben.“

„Das ist es gerade. Wenn meine Tochter liest, schnauft er oft, als hätte er Asthma im fortgeschrittenen Stadium, und wenn sie einen Fehler liest, täuscht er immer Schnupfen vor und niest. Meine Tochter wird dann ganz nervös und macht dann noch mehr Fehler, er schnauft und niest dann häufiger, und so dreht sich die Spirale, bis… vor zwei Wochen, da hat sie das Buch nach ihm geschmissen.“

„Und hat er sich das gefallen lassen?“

„Natürlich nicht, er ist aufgesprungen und hat sie abgeleckt, im Gesicht, das hasst sie wie die Pest und danach hat er sich aufs Buch gelegt. Damit war die Lesestunde beendet. Der alte Junge ist schon durchtrieben.“

Sein Schwanz bewegte sich ganz schnell ein paar Mal hin und her.

„Sie lassen das zu?“

„Warum nicht. Ich musste die ganze Woche Nietzsche hören. Ich war froh, dass dem Spuk ein Ende gesetzt wurde. Seitdem weigert sie sich zu lesen und ist beleidigt. Sie wartet auf eine Entschuldigung von ihm. Da kann sie lange warten. Er ist nämlich auch beleidigt und ignoriert sie ebenfalls. Er würdigt sie keines Blickes, das geht so weit, dass er sie umläuft, wenn sie im Weg steht.“

„Was macht sie dann?“, fragte ich irritiert.

„Zur Seite gehen und aufpassen, gegen ihn zieht sie den Kürzeren, da helfen ihr Geschwafel und ihre Doktortitel auch nicht weiter, die sind ihm egal. Lange hält sie das sowieso nicht aus und gibt nach.“

„Passiert das öfters?“, fragte ich weiter und dachte dabei: >Du bist im falschen Film.<

„Nicht öfters“, sagte sie gelassen, „so drei bis fünf mal im Jahr“. Sie machte eine Pause und als ich etwas sagen wollte, kam Sie mir zuvor und flüsterte: „Gestern habe ich mit Rex ausführlich gesprochen und Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, er wird sich ab jetzt anständig benehmen.“

„Wuuf“, kam es aus der Ecke und der Kopf flog hoch.

„Rex“, zischte die Alte Dame leise, aber bestimmt, ohne einen Zweifel zu lassen, wer hier der Herr im Haus war. Daraufhin rollte der Kopf direkt wieder zu Boden und Rex wackelte zweimal langsam mit dem Ohr.

„Noch jubeln sie dem Bürgermeister zu, als der das Angebot der Claire Zachanassian ablehnt, Ill im Namen der Gerechtigkeit, für eine Milliarde zu töten. Doch sie fangen an zu konsumieren auf Schulden, in der Hoffnung oder Gewissheit, einer wird es schon richten, nur sie natürlich nicht. Damit machen sie sich schuldig. Sie machen sich Abhängig von Frau Zachanassian, denn sie werden ohne ihren Anteil an der Milliarde, ihre Schulden nie zurückzahlen können. Damit haben sie das Todesurteil für Ill gesprochen. Es ist nur eine Frage der Zeit,“ bilanzierte sie mit einem hämischen Lächeln.

„Claire muss nur warten“, pflichtete ich bei.

„Und das kann sie gut, sie hat fast ihr ganzes Leben auf diesen Zeitpunkt gewartet. Einer wird es schon richten. Handelt unsere Gesellschaft nicht genauso?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Das Goldene Kalb der Gesellschaft ist längst der Konsum geworden und hat die Religionen längst abgelöst. Ein Leben für den Konsum,“ antwortete sie schlagfertig, wie auswendig gelernt.

„Aber die Gesellschaft spekuliert nicht auf den Tod eines Menschen.“

„Nein, aber sie duldet, den Tod von zigtausenden, was in meinen Augen das gleiche ist.“, kam es ohne Pause zurück, als hätte sie es schon tausendfach vorgetragen.

„Das verstehe ich nicht!“

„Ganz einfach. Durch den Preiskampf und Profitgier werden die Arbeiter in Drittländern bis aufs Blut ausgepresst. Ihre Bezahlung reicht nicht zur Ernährung, Krankenversorgung geschweige den zu einem würdigen Leben. Kakao, der in unserer Schokolade ist, der von Ihren Kindern mit Genuss verzehrt wird, ein reines Luxusgut, das unseren Gaumen erfreuen soll, wurde vielleicht von südafrikanischen Kindern gepflückt, die von Ihren Eltern oder Händlern an Plantagenbesitzer verkauft wurden. So wie die Güldener den Tod von Ill in Kauf nehmen für ihren Konsum und Wohlstand, nehmen wir in Kauf, dass unser Konsum, unser Wohlstand auf der Ausbeutung der Allerärmsten beruht. Dabei nehmen wir auch in Kauf, dass die Preise, die wir für ihre Produkte zahlen, nicht für ihren Lebensunterhalt reichen. Eine Jeanshose kostet in Bangladesch im Einkauf für Großhändler unter vier Euro“

„Ist das so?“, wunderte ich mich.

„Mit tausend prozentiger Sicherheit.“

„Dann sind wir nicht besser als die Güldener Bürger!“ resümierte ich und fragte: „Was kann man dagegen tun?“

„Nichts, ob Sie eine Jeans für zwanzig oder hundert Euro kaufen, der Einkaufspreis kann der gleiche sein.“

„Nein, das kann doch nicht sein?“

„Es ist so und Sie können nichts daran ändern. Es gibt für Produkte keine Zertifizierungspflicht in Hinsicht auf menschenwürdige Herstellung.“

„Und warum nicht?“

„Es interessiert niemanden. Es gibt zwar Lippenbekenntnisse von Politikern in diese Richtung, wenn zum Beispiel eine dieser Sklavenfabriken abfackelt und es hunderte von Toten gibt. Aber Arbeiter aus Drittländern haben bei uns nun mal kein Wahlrecht, und wer will schon höhere Preise?“

„Und daran kann man nichts ändern?“

„Natürlich könnte die Gesellschaft das ändern. Auf diese Sklavenprodukte eine Sondersteuer erheben, ähnlich hoch wie der Mehrwertsteuer zusätzlich und dann direkt ohne Abzüge den Armen zukommen lassen. Der Billigramsch würde sich dadurch kaum verteuern. Dummes Gewächs kolportieren sie im Chor, da ist sich das Volk mit den Politikern mal einig, aber handeln tut keiner. Darf ich ihnen einen Rat für ihr weiteres Leben geben“

„Aber sicher! Ich bitte darum.“, sagte ich interessiert.

„Bewerten Sie Menschen nur nach dem was sie tun und nie nachdem was sie sagen. Einzig und allein bewerten sie das Handel des einzelnen, alles andere sind nur hole Worte.“

„Ja, das werde ich mir gut merken“, antwortete ich und ich dachte: >Das solltest du wirklich beherzigen.<

Ich versuchte nun, Zeit zu gewinnen, das war alles ein bisschen zu viel Inhalt für mich, in so kurze Zeit. Irgendwann, so befürchtete ich, würde ich mich verplappern, wie gestern mit der Faltencreme und dann wäre ich geliefert. Ich habe nicht vor das schöne Parkett hier zu versauen, noch gönne ich dem Kalb Fußball zu spielen, außerdem möchte ich morgen hier auch noch Geld verdienen, wir haben es bitter nötig.

>Sei auf der Hut<, sagte ich daher zu mir selbst.

Ich schenkte mir Cola nach und machte mich über die Plätzchen her, obwohl ich vormittags sonst nie Süßes zu mir nehme. Aber ich war nun am Zug, ich musste was sagen. Ich trank noch mal und überlegte: >Das mit der Schokolade war nun wirklich kein netter Zug. Ich mag diese dunkle Leckerei nämlich über alles, und jetzt bekommt sie einen ganz faden Beigeschmack. Ob das wirklich stimmt? Die Frau wird mir langsam ungeheuerlich. Sie scheint mehr zu wissen als google. Auf alles hat sie eine Antwort und das rasend schnell. Meine Jeans, da habe ich ein gutes Gewissen, die werden in der Türkei gefertigt. Ein Freund bringt mir diese immer aus dem Urlaub mit, als Plagiat der großen Marken. Obwohl er meint, dass wären gar keine Plagiate, sondern würden in den selben Fabriken wie die Originalen produziert. Mir fällt aber noch immer nichts Intelligentes ein zu diesem heiklen Thema. Zu allem Überfluss bemerke ich, dass mein Plätzchen mit Schokolade überzogen ist. Mir ist nicht klar auf welcher Seite sie steht. Sie ist mit Sicherheit reich aber sympathisiert sie mit den Reichen, welche die Armen ausnützen oder hält sie zu den Armen? Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig.< Ich wählte die dritte Möglichkeit: Thema wechseln, wie bei den Kindern, wenn sie mit ihren Mädchenproblemen kommen.

„Und was fasziniert Sie so sehr an dem Buch?“, fragte ich, um von dem unangenehmen Thema wegzukommen.

„Mich? Mich fasziniert nichts an dem Buch besonders. Sie haben es ausgesucht. Aber wenn Sie schon fragen. Die Tatsache, dass der einzelne Mensch, individuell verschieden handelt, jedoch wenn er in der Gruppe auftaucht, sein Handeln absolut berechenbar ist.“

>Geschafft anderes Thema erreicht. Jetzt Standardfrage abrufen.<

„Wie begründen Sie das?“

„Sie zweifeln es nicht an?“

„Ihnen zu widersprechen scheint zwecklos.“

„Geben Sie nicht auf! Ich bestehe darauf…“, sagte sie voller Selbstzufriedenheit und fügte hinzu. „Ein einzelner Mensch kann sehr differenziert handeln, da wir sehr verschieden sind, und er daher schwer zu berechnen ist. Er handelt mit mehr oder weniger Gewissen, und die Bedürfnisse, die zuerst befriedigt werden sollen, können sehr verschieden sein. Bei einer Gruppe sieht das ganz anders aus. Es werden sich die Bedürfnisse durchsetzen, auf denen sich der Zusammenschluss begründet oder aber es werden sich die durchsetzen, welche am häufigsten bzw. stärksten vorkommen. Oft kommt es dabei zu den absurdesten bzw. perversesten Handlungen, weil keiner meint dafür persönlich verantwortlich zu sein.“

Ich versuchte nachzuvollziehen: >Wovon redete die eigentlich? Bedürfnisse von Gruppen. Wer macht sich über solche Dinge Gedanken. Die musste bestimmt nie Toiletten putzen oder Schulbrote schmieren. Ich bin dran, ich muss was sagen. Hoffentlich kann ich bald wieder lesen.<

„Haben Sie dafür ein Beispiel?“, fällt mir nur ein.

„Jede Menge. Ein Umweltschutzverein ist gegen Windräder, weil der Vogelflug beeinträchtigt wird, Lärmemissionen entstehen usw. Gleichzeitig ist er aber auch gegen den Bau von Braunkohlekraftwerken, wegen der CO2-Emissionen. Gegen Atomkraftwerke sind sie sowieso, da brauche ich überhaupt keine Gründe aufzuzählen. Aber gegen den Gebrauch von elektrischer Energie ist er nicht. Das ist absurd! Oder haben Sie schon mal einen Umweltschutzverein gesehen, der für eine Rationierung der Energie geworben hätte? Das wäre aber der richtige Weg. Stellen Sie sich vor, jeder Bürger dürfte nur eine bestimmte Menge von Energie verbrauchen.“

„Oh, wenn ich unterbrechen darf…“, und in dem Moment wird mir klar, dass ich das tunlichst unterlassen sollte, aber Rex bewegt sich kein bisschen, daher rede ich verwundert weiter, „…aber erzählen Sie so etwas nicht meiner Großen, damit würden Sie eine Grundsatzdiskussion auslösen, die Sie nicht gewinnen können.“

„Ich denke, Ihre Tochter ist sehr intelligent, warum sollte sie mir nicht zustimmen können.“

„Wegen der Energie…“, sagte ich vorsichtig und möchte eigentlich nicht widersprechen, „Sie würde direkt bemängeln, dass Energie nicht verbraucht werden kann, sondern nur umgewandelt wird. Die Diskussion hatten wir schon mal, dabei ging es um Energieverschwendung.“

„Ihre Tochter hat natürlich Recht. Keine Frage. Aber wer redet schon von unnützer oder verschwenderischer Energieumwandlung? Im täglichen Sprachgebrauch wird nun mal der Begriff der Energieverschwendung benutzt, damit die Dilettanten und Idioten dieser Erde und die Germanisten nicht zu vergessen, mitreden können.“

Schon hatte ich mein Fett weg, und der Köter wackelte zweimal mit dem Schwanz.

Ohne zu triumphieren dozierte sie weiter: „Die Umweltorganisationen sollten den hohen Energieverbrauch der Bürger rügen. Die Ursache des Problems. Da wagen sie sich aber nicht ran, weil sich dann jeder an die eigene Nase fassen müsste. Aus technischer Sicht ist es völliger Quatsch, durch den Einsatz von zwei Tonnen Eisen, Plastik und Gummi fünfundsiebzig Kilo zu transportieren. Auch ist es völliger Unsinn, wenn der Durchschnittsbürger einen Wohnraum von fast fünfzig Quadratmetern benötigt. Das Vernünftigste wäre ein Energiepass, mit dem jeder Bürger die gleiche Energiemenge zugeteilt bekommt, über die er frei verfügen kann, und ihm auch freigestellt wird, einen Teil seines Kontingents anderen zu verkaufen. Aber das wird nie geschehen. Vernunft und menschliches Verhalten passen so zusammen wie Feuer und Wasser.“

Ich dachte noch: >Schöner Vortrag, soll ich nun mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopfen…<

„Und die Reichen können sich dann wieder freikaufen, die haben ja Geld genug. In Wirklichkeit trifft es dann wieder die anderen fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung, die nicht reich sind“, dabei dachte ich: >Was sagst du da? Halt doch einfach nur die Klappe.“

„Wahrscheinlich neunundneunzig Prozent, aber das war schon immer so und daran wird sich auch nichts ändern“, verbesserte sie mich.

Da wackelte der Köter tatsächlich schon wieder mit dem Schwanz.

„Sehen Sie, Rex ist der gleichen Meinung.“

„Sie können sehen wenn er mit dem Schwanz wedelt?“

„Nein, ich kann das Klopfen auf dem Boden hören. Früher hat er das nicht gemacht, als ich noch besser sah.“

>Wahrscheinlich hat er mit dem Kopf genickt oder mit der Pfote Zeichen gegeben, bei dem Köter ist ja alles möglich, nachfragen werde ich aber nicht, die zwei sind mir schon bizarr genug, da kann ich gern auf weitere Details verzichten<, fiel mir beiläufig ein.

„Ach so“, antwortete ich verwundert, „aber wenn Sie erlauben, möchte ich ein Bemerkung machen?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an“, sagte sie überlegen.

„Mit Ihrer Hütte hier, tragen Sie aber auch nicht gerade dazu bei, dass die Pro-Kopf-Wohnfläche in den Keller rauscht“, versuchte ich die Interessen der breiten Bevölkerungsschicht unseres Landes zu vertreten, auch wenn ich Gefahr lief meinen Job zu verlieren, welchen ich gerade erst ergattert hatte.

>Hallt doch bloß deine Klappe…<

Schlagartig fing Rex an mit Schwanz zu wedeln, wie ein Scheibenwischer bei Schlagregen.

„Wir bewohnen die Etage mit fünf Personen und einem Hund.“, versuchte sie sich zu rechtfertigen.

Das Wedeln wurde langsamer.

„Um wie viele Quadratmeter handelt es sich denn…zwei, drei tausend oder mehr?“

Er legte wieder einen Zahn zu.

„Der größte Teil auf dieser Etage sind Technikräume und Geschäftsräume, und du, Rex sei mal ganz ruhig, du benötigst den meisten Platz.“

Schlagartig war das Wedeln vorbei, und er spielte toter Hund.

„Der Hund?“, fragte ich argwöhnisch.

„Wer denn sonst, meine Räumlichkeiten sind eher bescheiden.“ räusperte sie sich. „Ich brauche kein Laufbecken, Solarium, Laufbänder und das ganze Zeugs. Ein Bad, Schlafzimmer und Wohnzimmer reichen. Er ist derjenige, der soviel Platz in Anspruch nimmt.“

Der Hund stellte sich weiter tot.

„Wenn du dich schon mit ihm verbrüderst, steh auch dazu!“, forderte sie Rex auf.

Aus der Ecke kam ein leises Jaulen, und Rex legte seine Pfote auf sein Gesicht.

„Er hat seine eigenen Räume?“, fragte ich kopfschüttelnd.

„Aber sicher, er muss sich bewegen können, er braucht seine Freiheiten. Wer braucht die nicht? Dafür braucht er sehr viel Platz, er ist ein sehr großer Hund. Rausgehen können wir leider nicht mehr.“

„Wieso?“

„Na sehen Sie sich doch Rex an.“

„Wegen seiner Größe meinen Sie?“

„Stellen Sie sich vor, ich mit Rex in der Fußgängerzone und Karl schiebt meinen Rollstuhl. Da meinen die Leute, wir wären vom Zirkus, die Kuriositätenausstellung. Größter Hund und größter Mensch, sowie älteste Frau der Welt.“

„Mit Dirty Harry und Rex, da haben Sie schon recht, wenn mir die begegnen würden, käme ich mir auch vor, als wäre ich Einwohner von Liliput. Schade, dass der Park unten nicht öffentlich zugängig ist, sonst könnte ich abends, wenn…“

„Nein, nein, das ist nett gemeint“, unterbrach sie mich. „Seitdem ich den Schlaganfall hatte, weicht er nicht mehr von meiner Seite, nur noch um seine kleinen und großen Geschäfte zu machen.“

Rex richtete seinen Kopf auf und schaute mich mit seinen großen treuen Augen an. Er tat mir nun richtig leid. >Auch die tollste Hundewohnung, kann wohl keine grüne Wiese ersetzen,< dachte ich.

„Wie lange haben wir den noch?“

>Jetzt scheint sie ablenken zu wollen. Sie ist der Boss.<

„Eine halbe Stunde.“

„Dann lesen Sie doch noch ein wenig. Dann kann ich Ihre Stimme noch ein wenig genießen“, forderte sie mich höflich auf. „Jetzt kommt der Abschnitt, in dem die Stadtoberen auch dem Konsum verfallen und sie sich damit in die Abhängigkeit der Frau Zachanassian begeben. Jemanden von sich abhängig zu machen, bedeutet Macht über ihn zu haben.“

Der Vorleser der Alten Dame

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