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6. Selbst der Jaguar hört auf zu knurren

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Er war wieder da, der Milvus milvus, ein lateinischer Name, den selbst ich behalten konnte, zweimal das gleiche Wort hintereinander, wie komisch ist das denn? Was wird man sich dabei wohl gedacht haben? Für mich war er der schönste Vogel, es gab bestimmt exotischere Vögel, sicherlich, aber unter den Greifvögeln war er für mich der Schönste. Er hatte seine Überwinterung im Süden Europas überlebt und war zurückgekommen, um in unserem schönen Park auf Mäusejagd zu gehen. Er wird sich bestimmt auch an der Müllkippe bedienen, aber brüten wird er wieder hier, wie all die anderen Jahre. Hochspannungsmasten, Gefahren der Zivilisation gab es hier nicht und auch keine Windräder, denen jährlich mehr als vierzig, in unserem schönen Land, zum Opfer fallen. Wenn ich von der Alten Dame zurückkam, wollte ich mit dem Fernglas von meinem Schlafzimmerfenster zum Horst in der alten Eiche schauen, um zu sehen, ob beide schon eingetroffen waren. Als ich jetzt auf der Mitte der Brücke stand, war er genau über meinem Kopf, vielleicht zwanzig Meter hoch. Da ich als Beutetier nicht infrage kam, beobachtete er mich vielleicht und dachte: >Den Spanner mit dem Fernglas gibt es auch noch immer.< Wenn er mich bekackt hätte, würde dieses seine Gedanken bestätigen. Jetzt breitete er wieder seine gesamte Spannweite aus, die ungefähr ein Meter sechzig betrug und segelte davon.

Den ziemlich kräftigen Schnabel, der an der Basis gelb und an der Spitze schwarz war, konnte ich wie die gelben Beine und die schwarzen Krallen deutlich erkennen. Meine Fernsicht ließ nichts zu wünschen übrig. Was sehr erfreulich war. Von unten wirkte der Rote Milan recht kontrastreich, sehr viele weiße, schwarze und braunrote Schattierungen wechselten sich ab.

Gestern nach der Arbeit habe ich noch mal am Kiosk angehalten, um Yusuf zu seinem Geburtstag zu gratulieren.

Vor Jahren hatte er mir sein Geburtsdatum verraten. Ich las laut in einer der Zeitschriften über eine Fußballlegende, an den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, überhaupt habe ich Probleme mit Namen, der in Kürze einen runden Geburtstag feierte, und er sagte: „Da ich auch geboren.“

Er freut sich immer wie ein kleines Kind, wenn ich ihm gratulierte: „Du gedacht an Yusuf, vielen, vielen Dank.“

Und jedes Mal muss ich mit ihm ein Bier trinken. Nur werden es dann drei oder vier Büchsen, immer. Diesmal auch, wenngleich ich beträchtlichen Widerstand leistete. Daher ließ ich den Wagen stehen und fuhr mit der S-Bahn zum Elternabend, obwohl ich mich schon darauf gefreut hatte, im Wagen vorzufahren.

Den Restnachmittag verbrachte ich damit, im Internet zu forschen, wie ich meine Fahne los wurde, dabei vergaß ich nach der Ankunft des zweiten Milans zu schauen. Auf die Idee, den Alkoholgeruch durch geruchsintensive Nahrungsmittel zu überdecken, wie Zwiebeln oder Knoblauch, verzichtete ich. Starken Kaffee zu trinken, erschien mir unproblematisch. Ich trank dann fünf oder sechs Tassen, und der Lehrerin fiel meine Alkoholfahne nach meiner Einschätzung nicht auf, was mir sehr wichtig war, sonst hätte sie bestimmt gedacht: >Armes Kind, jetzt ist dein Vater auch noch dem Suff verfallen.<

Ein wenig Hoffnung wollte ich der Lehrerin schon lassen. Die Überdosis Kaffee forderte natürlich ihren Tribut, nicht nur, dass ich bis drei Uhr wach lag, sondern in Verbindung mit dem Bier auch andauernd, zur Toilette musste. Normal wäre das kein Problem gewesen, aber bei dem Elternabend schon, der musste dann immer unterbrochen werden, weil ich, wie immer, als einziger kam. Der Lehrerin log ich vor, dass ich jetzt einer Arbeit nachgehe, die es nicht erlauben würde oder bei der es nur schwer möglich wäre, eine Toilette aufzusuchen. Was richtig war, als ich noch bei einem Paketdienst arbeitete. Sie interessierte sich nicht wirklich dafür und fragte auch nicht nach. Ich glaubte sowieso, dass sie im Insgeheimen bitter enttäuscht war, dass ich immer kam. Einen Elternrat konnten wir nie wählen und wenn ich daheim bliebe, könnte sie nach fünf Minuten gehen. So reden wir ein wenig über die Schule und die Kleine, wobei mir immer auffiel, dass sie versuchte eine große Distanz zu wahren. Sie würde sich schon etwas Sorgen machen, nicht darüber, dass sie den Abschluss nicht bekommen würde. Den würden alle bekommen. Was mich doch sehr wunderte, da jedes Jahr ein paar Schüler wiederholten. Sie drückte es vorsichtig aus: „Einige Schüler wären zu anstrengend, um nicht versetzt zu werden. Außerdem wäre bei denen sowieso Hopfen und Malz verloren.“

Ich dachte nur: >Es heißt doch: Wer aufgibt, hat verloren. Hier heißt es wohl: Wer aufgegeben wird, ist verloren.<

Die Kleine hätte den Wunsch geäußert, Tierpflegerin zu werden, genauer gesagt Pferdewirtin, weil sie seit Jahren schon Pferde pflegen würde und auch unglaublich gut mit Tieren umgehen könnte, und das würde ihr halt Sorgen machen. Ich ließ sie wissen, diesen Wunsch hätte sie schon seit Jahren, wo denn das Problem sei. Jugendliche von dieser Schule bekämen keine Lehrstelle. „Ganz ehrlich, mit dem Stempel der Schule auf dem Zeugnis, sind sie abgestempelt.“ Nur dann wenn sie Beziehungen hätten, sie ein Verwandter einstellte, vielleicht noch bei der Müllabfuhr, aber sonst. Ich sollte meine Tochter darauf vorbereiten, damit die Enttäuschung nicht so groß würde.

Dann wollte ich am letzten Elternabend auch mal ehrlich sein: „Ich denke, Sie erfüllen hier keinen Lehrauftrag, sondern verwalten die Schüler solange, bis sie in die Sozialhilfe übergehen.“

„Genau so ist es. Besser hätte man es nicht beschreiben können“, antwortete sie mit einer Selbstverständlichkeit, die mir Angst machte, und ich war froh, dass der Albtraum Schule bald vorbei war. Kurz danach verabschiedeten wir uns. Sie wünschte mir viel Glück für meine Kleine und auch für mich, was ich erwiderte und sie ein wenig verwunderte oder verunsicherte.

Die Kohletabletten hätte ich besser aus dem Leib gelassen, oder zumindest die Dosierung anders wählen sollen. Es wäre besser gewesen, die Lehrerin hätte mich für einen Alkoholiker gehalten. Am nächsten Tag konnte ich noch, danach fünf Tage nicht mehr, der vierte und fünfte Tag waren wirklich schlimm, und als es dann klappte, hatte ich das Gefühl, es würde mich zerreißen.

Rex war schon im Büro und saß auf den Hinterbeinen, direkt vor meinem Stuhl. Er schien auf mich zu warten, wie meine beiden Mädchen, früher im Bett, wenn ihre Mutter sie fertig gemacht hatte und sie darauf warteten, dass ich ihnen eine Gutenachtgeschichte vorlas.

Er war nicht aufgeregt, sondern gutgelaunt und sein Schwanz ging hin und her. Als die Alte Dame hineingeschoben wurde, begrüßte sie mich mit den Worten: „Morgen, Herr Müller, sehr schön Sie zu sehen, ich hoffe Sie sind bester Laune. Rex konnte es überhaupt nicht abwarten, dass sie erscheinen. Er hat heute mal nicht verschlafen. Gestern war er sehr beleidigt, als Sie aufhörten. Ich hab ihm aber erklärt, dass Sie heute weiterlesen werden und wie ich sehe, hat er Ihnen verziehen.“

„Da bin aber froh, dass es dir so gut gefällt, wenn Sie nichts dagegen haben, können wir sofort anfangen.“

„Aber sicher doch, beginnen Sie, mir gefällt es auch und entschuldigen Sie nochmals meine Entgleisung gestern, aber ich kann es nun mal nicht leiden, wenn Talente durch Inkompetenz verschwendet werden.“

Ich erzählte ihr von meinem gestrigen Erlebnis beim Elternabend.

„Über die menschliche Tragödie, die dahinter steckt, denke ich, brauchen wir uns nicht zu unterhalten, da Sie ein gebildeter Mensch sind. Aber betrachten wir die wirtschaftliche Unvernunft des Staates einmal. Ein Schüler, der nach Abschluss nicht ins Berufsleben integriert wird, erhält bei einer angenommen Lebenserwartung von fünfundsiebzig Jahren sechzig Jahre lang Unterstützung vom Staat. Nehmen wir an fünfhundert Euro im Monat, das sind Herr Müller?“

>Kleinhirn an Großhirn wo ist der Taschenrechner?<

„Ach Herr Müller, 360.000 Euro. Wenn alles gut geht. Sitzt er ein, kostet das circa einhundertfünfzig Euro pro Tag. Aber was viel schlimmer ist, Leute die auf Hilfen vom Staat angewiesen sind, geben diesen Status häufig an die nächste Generation weiter und diese an ihre Kinder und so weiter, was rein wirtschaftlich betrachtet einen viel größeren Schaden verursacht als die ursprünglichen 360.000 Euro.

Jetzt stellen Sie sich vor, dieses Geld würden sie einsetzen, um den Schüler in das Berufsleben zu integrieren. Der zahlt zum guten Schluss noch mit den Steuern die angefallen Kosten zurück. Folgekosten durch die nächste Generation entstehen nicht, wenn er seinen sozialen Status weitergibt. Ein Heimplatz kostet 4.500 Euro im Monat. Eine bessere Investition gibt es nicht. Aber… Vielleicht verstehen Sie mich jetzt, wenn ich im Zusammenhang von Politikern und Beamten immer von Dilettanten und Idioten spreche.“

„Ich denke, wir werden es nicht ändern können. Ich verstehe Sie sehr gut. Wir werden uns damit abfinden müssen. Mir geht es genauso wie Ihnen.“

„Werden wir… Lesen sie bitte, Lesen sie“, forderte sie mich mit gesenktem Kopf und resignierender Stimme auf, dabei legte sie die gesunde Hand in die gelähmte.

So las ich dann von der spontanen, waghalsigen Spritztour, mit dem alten klapprigen Lada, zur Geburtstagsparty, auf der sie nicht eingeladen waren, von Maiks großer Liebe Tatjana, die leider nicht erwidert wurde. Von der großen Urlaubsreise mit der Schrottkiste, die schlecht durchdacht war, dafür aber mit um soviel mehr Herz, Mut und Ausdauer von den beiden durchgezogen wurde. Und Rex war glücklich, jedes dieser kleinen Abenteuer begeisterte ihn aufs Neue. Er wedelte mit dem Schwanz, hechelte, trat mit den Vorderpfoten auf der Stelle. Die Begegnung mit Isa und die beginnende Romanze, weckte starkes Interesse in ihm. Er legte sich nicht einmal hin. Nach kurzen Unterbrechungen schlug ich das Buch mit den Worten zu: „Für heute ist Schluss.“, womit Rex nicht einverstanden war, er legte seine Pfote auf meinen Oberschenkel und schaute mich bettelnd an.

„Rex, jetzt ist gut“, ermahnte ihn die Alte Dame. „Herr Müller, kommt morgen wieder, da liest er den Rest“, was Rex aber nicht wirklich interessierte. Erst als die Alte Dame ihm erklärte, dass ich Essen für meine Töchter kochen müsste, nahm er die Pfote runter und war auch nicht mehr beleidigt.

„Werden Ihre Töchter morgen kommen?“, vergewisserte sich die Alte Dame.

„Die Kleine ist schon ganz aufgeregt, unser Rexilein kennen zu lernen“, dabei streichelte ich unserem gutgelaunten Hechler über den Kopf.

„Oh, Rex freut sich auch schon, als ob Weihnachten kurz vor der Tür steht.“

Das Rex Geschenke zu Weihnachten bekam, verwunderte mich nicht: „Aber woher weiß er denn, wann Weihnachten ist?“

„Ganz einfach, er riecht den Weihnachtsbaum, der wird bei uns traditionell Heiligabend aufgestellt, dann wird er unruhig und läuft immer vor dem Kaminzimmer auf und ab. Aber er muss bis nach der Christmette warten, dann ist Bescherung.“

„Und was bekommt unser Rexilein so geschenkt?“, fragte ich ihn anschauend.

„Von meiner Tochter…na Sie wissen schon.“

„Einen Apportierknochen.“

Das Furzkissen ertönte.

„Von den Schwestern bekommt er Leckereien. Da freut er sich immer drauf, Tofu-Spezialitäten.“

Rex schüttelte seinen Kopf hin und her, wie ein nasser Hund.

„Karl schenkt ihm immer einen Spaziergang im Wald, was nicht immer einfach ist,… aber da fragen sie besser nicht nach, bitte.“

Der Schwanz geht hin und her.

„Und von mir hat er eine Zehnerkarte bekommen…“

Die Alte Dame hörte auf, da Rex anfing, sich wie ein Irrer hin und her zu rollen, vor Freude, das ist offensichtlich, als hätte er eine Million Läuse.

„Eine Zehnerkarte für den Saunaclub?“, wollte ich Rex foppen, der sich aber nicht stören ließ.

„Ach Herr Müller, lassen sie den Unsinn, nachher kommt er auch noch auf falsche Gedanken, beim männlichen Geschlecht weiß man ja nie“, sagte sie ernst.

Ich wollte mich entschuldigen, dass ich mir nur einen Spaß erlauben wollte, da kam sie mir zuvor: „Für den Zoo.“

„Für den Zoo? Ich denke, da dürfen keine…“, ich konnte mich noch rechtzeitig bremsen.

„Sehr gut gemacht, Herr Müller“, lobte mich die Alte Dame, „Sie fangen langsam an ihn zu verstehen, das mag er auch überhaupt nicht, denn er benimmt sich bestimmt besser als die meisten Menschen. Wir haben das mit dem Zoodirektor verhandelt. Abends oder morgens vor oder nach den Besuchszeiten darf er rein.“

„Das war aber großzügig von dem Herrn.“

„Großzügig von dem Herrn?… Nehmen Sie keine Lokalnachrichten wahr…? Dieses Jahr wurde das neue Dschungelhaus eingeweiht.“

„Oh, Sie waren die Industriegruppe.“

„Schwamm drüber!“, sagte sie lässig und wedelte mit der funktionieren Hand gönnerhaft durch die Luft. „Es war ja für einen guten Zweck, nicht wahr Rex? Und die Tiere mögen dich. Die Löwen, Tiger, Gorillas, Giraffen, Pferde und alle die anderen, kommen dann an den Zaun, um dich zu begrüßen, selbst der Jaguar hört auf zu knurren.“

Rex blieb auf dem Bauch liegen, bellte, wackelte mit Ohren und Schwanz und hechelte.

„Sehen Sie wie aufgeregt er ist. Ich konnte leider nur einmal mit, wegen der Nachwehen des Schlaganfalls…“

„Vielleicht schaffen wir es, einmal alle zusammen den Zoo zu besuchen, wenn die Mädchen die Schule hinter sich haben. Es sind ja nur noch ein paar Wochen.“

„Ja, das wäre schön, darüber würden wir uns sehr freuen. Ostern versaut Rex aber regelmäßig. Er sucht nicht mit den Augen. Er verspricht es jedes Jahr, aber er hält sich nicht daran. Er meint, wir würden es nicht merken, aber er findet die Sachen schneller, als wir sie verstecken, er riecht sie halt.“

„Böser, böser Rex“, tadelte ich ihn, was ihn nicht im Geringsten tangierte und seinem Freudenausbruch auch nicht Abbruch tat. „So, jetzt muss ich aber wirklich gehen.“

„Bestellen Sie Ihren Kindern schöne Grüße und es würde mich sehr freuen…“, brach sie ab.

Rex rappelte sich auf und erwies mir die Ehre, mich zum Aufzug zu begleiten, er machte das zum ersten Mal.

In der Tiefgarage begegnete ich Frau Dr.Dr.Dr., Karl war gerade dabei ihre Koffer auszuladen, ich begrüße sie freundlich und erkundigte mich, ob der Kongress zu ihrer Zufriedenheit verlaufen wäre, worauf ich eine ruppige Antwort bekam, was mich wenig störte. Ich wünschte ihr ein schönes Wochenende und unterrichtete sie, ihre Mutter hätte mich für morgen bestellt, was wenig Freude in ihr auslöste, auch das war mir gleichgültig, denn ich genoss insgeheim den Duft, den sie verbreitete und nicht die schlechte Laune.

Der Vorleser der Alten Dame

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