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5. Gib mir einen Kuss zum Abschied

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Frau Dr.Dr.Dr. kam ins Zimmer, ging ohne Notiz von mir zu nehmen an mir vorbei, wobei ich sehr wohl von ihr Notiz nahm. Ihr Auftreten war außerirdisch, heute im taillierten, hauteng geschnittenen, marineblauen Nadelstreifenhosen-anzug, weiter Reversausschnitt, von Bluse oder Ähnlichem weit und breit nichts zu sehen. Sie blieb vor ihrer Mutter stehen, beugte sich vorne über, dabei nahm ich noch viel mehr Notiz von ihr, umarmte ihre Mutter, die sich nicht bewegte und zur Decke schaute: „Hallo Mutti….ich bin wieder da.“

Der Hund schaute auf, als er Frau Dr.Dr.Dr. sah, fiel er wie von Blitz getroffen zusammen und rührte sich nicht mehr. Selbst die Atmung wurde langsamer.

„Sehr schön…“, sagte sie etwas trocken. Anstandshalber fügte sie noch hinzu: „Wir haben dich sehr vermisst….“

„Ich h…“

„Dabei warst du nur ein paar Tage weg, mein liebes Kind“, unterbrach die Alte Dame.

„Für mich…..“

„Du siehst sehr gut aus, mein Kind. Der Urlaub hat dir sehr gut getan.“

„Ich war nicht im….“

„Daher hab ich beschlossen und weil du dich so aufopferungsvoll um mich die ganze Zeit kümmerst, ohne jemals auf dich Rücksicht zu nehmen oder auf deine Karriere, oder was noch viel schlimmer ist, auf deine Patienten, dein gesamtes Privatleben hast du meiner Fürsorge untergeordnet, darum habe ich, ohne wenn und aber, beschlossen an deinen Urlaub noch ein paar Tage anzuhängen.“

„Ach, du bist die allerbeste Mutti aber…“

„Mein Kind, keine Widerworte, du musst jetzt auch mal an dich denken. Beeil dich dein Flieger wartet.“

„Aber ich bin doch gerade erst hier und muss doch zuerst einmal schauen, wie es dir geht und dem kleinen Rexilein.“

Nach „Rexilein“ setzte beim Hund die Atmung aus.

„Mein Kind, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, wir werden auch ohne dich die paar Tage zurecht kommen, die Schwestern sind auch noch da und du hast es dir wirklich verdient. Bitte, mach mir die Freude und flieg. Der Flieger wartet schon.“

„Ich muss doch erst noch packen.“

„Haben die Schwestern bereits für dich erledigt. Der Chauffeur wartet in der Tiefgarage auf dich.“

„Ihr wollt mich loswerden!“

„Nein, bestimmt nicht, wir wollen nur dein Bestes.“

„Dann verabschiede ich mich aber noch von Rexilein.“

„Der schläft“, sagte die Alte Dame, ohne zum Hund zu schauen.

Frau Dr.Dr.Dr schaute zum Hund: „Immer wenn ich komme schläft er“, war sie sichtlich enttäuscht, „dabei hab ich ihm was mitgebracht.“

„Gib es mir, ich gebe es ihm, wenn er wach ist, er wird es zu schätzen wissen.“

Aus der Handtasche zog sie einen großen Knochen mit Schleife, dabei fragte sie: „Aber was macht Ihr beide denn nur ohne mich?“

„Wir versprechen dir, anständig zu bleiben, und wir werden auch mit dem Sterben warten bis du wieder da bist.“

„Sag so was Furchtbares nicht!“

„Sterben gehört zum Leben halt dazu, mein Kind, aber da du Doktorin der Humanmedizin bist, brauche ich dir das nicht zu erklären.“

„Trotzdem!“

„Einen Apportierknochen, das ist aber lieb von dir, da wird Rex sich bestimmt freuen. Leg ihn bitte auf den Schreibtisch.“

Frau Dr.Dr.Dr. gehorchte, dabei konnte ich unauffällig, einen kurzen Blick in ihren Ausschnitt erhaschen. >Schwarze Träger, Frau Doktor hoch drei, ist wohl unzugeknöpfter als anfangs befürchtet.<, dachte ich noch, als mich dieser betörende Duft wieder vereinnahmte.

„Gib mir einen Kuss zum Abschied“, forderte die Alte Dame nun konsequent.

Frau Dr.Dr.Dr. beugte sich nach vorne, wobei ich wieder angenehm Notiz von ihr nahm, küsste die Alte Dame und wollte gerade gehen als sie, Sie werden es nicht glauben, mich wahrnahm und sagte: „Was machen Sie eigentlich noch hier?“

Bevor ich etwas sagen konnte, sagte die Alte Dame: „Was soll Herr Müller hier schon machen, er liest mir vor.“

„Aber….“

„Nein, dein Flieger wartet, Kind.“

„Wer bez…“

„Das ist geregelt, der Chauffeur wartet.“

Frau Dr.Dr.Dr. drehte sich nochmals zur Alten Dame, dann zum Hund und zuletzt zu mir.

„Und Sie passen mir bloß auf meine Mutter auf“, sagte sie mit drohendem Finger.

„Kind…“

„Ich weiß, mein Flieger“, dabei ging sie die Tür hinaus und der Hund atmete wieder.

„Herr Müller…, Herr Müller…sind Sie eingeschlafen?“

„Ja…E…Nein, meine ich.“, wachte ich aus der Berauschtheit, Betörung wieder auf. „Ich habe das Gefühl der Hund mag ihre Tochter nicht besonders, er hat sich tot gestellt“, stotterte ich und versuchte am Leben wieder teilzunehmen. Rex wackelte zweimal mit dem Ohr, konnte ich aus dem Augenwinkel sehen.

„Das hat er einem Fuchs im Fernsehen abgeschaut, der sich tot stellte, um einen Raben zu erlegen. Er liebt es, Tierfilme zu schauen“, schwärmte sie und schaute zu ihm, der zweimal mit dem Ohr wackelte.

„Seitdem stellt er sich immer tot, wenn sie kommt. Er mag es und sie kapiert es nicht. Von jeder Reise bringt sie ihm so einen Knüppel mit, was für ein Unsinn, er ist einhundertfünfzig Jahre, wer will in dem Alter noch hinter einem Knochen herlaufen. Da könnte sie mir genauso gut Joggingschuhe mitbringen…. Man kann nicht sagen, dass er sie nicht mag, aber sie nervt ihn“, flüsterte sie, als dürfte der Hund es nicht hören und fügte hinzu, „wie uns alle. Denken Sie nicht, sie wäre ein schlechter Mensch, sie hat halt drei Doktortitel, das prägt. Sie weiß halt alles besser!“

„Wegen Ihren akademischen Grade?“

Sie zuckte bejahend mit den Schultern. „Daher bekommt sie auch keinen vernünftigen Kerl ab. Das Ego eines Mannes würde einfach nicht zu ihr passen, behauptet sie immer. Aber dabei passt ihr Ego noch nicht einmal zu einem Hund… Rex lässt natürlich keine Gelegenheit aus, um sich einen Spaß mit ihr zu machen. Vor zwei Jahren wollte sie ihren Fachkollegen bei einem Abendessen zeigen, wie gut Hunde doch erziehbar sind, bei entsprechender, erzieherischer Ausdauer.“

„Und das mit Rex…?“, fragte ich lächelnd.

„Und das mit Rex“, wiederholte sie. „Alleine daran können Sie schon sehen, die Anzahl und Art der Titel vor einem Namen lassen nur begrenzt Rückschlüsse auf die Intelligenz des Inhabers zu. Sie hatte tagelang mit Rex geübt, wie rechts, links unterschieden und bis drei gezählt wird. Rex hat es geduldig ertragen. Von Tag zu Tag hat er sie ihrem Ziel immer etwas näher kommen lassen. Zum Schluss war sie perfekt. Hebe die linke Pfote, Rex hob die linke Pfote, kneif das rechte Auge zu, Rex gehorchte, belle dreimal, Rex bellte dreimal. Vor dem Essen, zur Erheiterung der Gäste, wollte meine Tochter ihr Erziehungstalent bei Hunden vorführen. Nachdem ich die Besucher über die Ausmaße von Rex unterrichtet hatte, rief ich ihn herein. Er kam und setzte sich direkt vor meine Tochter. Sie war begeistert, wie gut Rex mitarbeitete. Bis hierhin war alles eingeübt… Was für ein Unsinn…? Meine Tochter stellte den Hund kurz vor, danach fing sie an: Gib rechte Pfote, er gab die linke, Kneif das rechte Auge zu, er kniff das linke zu. Das ging immer so weiter. Belle zweimal, er wackelt mit dem Ohr zweimal. Nach dem sechsten oder siebten Versuch verlor meine Tochter die Nerven und sagte: Du dämlicher Hund! Rex fing jämmerlich an zu heulen, legte seinen Kopf auf den Boden und die Pfote auf die Schnauze.“

Ich schaute zu Rex rüber und sagte: „Böser, böser Rex“. Der quittierte, indem er zweimal mit dem Schwanz auf den Boden klopfte.

Die Gäste kritisierten nun meine Tochter: „Sind Sie nicht so streng mit dem Tier, er hat doch fast alles richtig gemacht, er verwechselt die Sachen, aber er gibt sich doch so große Mühe.“ Meine Tochter stand kurz vor der Explosion. Bis auf einen Gast, ihrem damaligen Lebensgefährten, hatten nun alle Mitleid mit dem armen, kleinen Rexilein.“

Rex klopfte wieder auf den Boden.

Ich sagte: „Böser, böser Rex“.

Wieder klopfte es zweimal.

„Herr Prof. Prof. Dr. Schlagmichtot, auch einer der inflationären Titelträger, meinte nur fachmännisch: So komplexe Aufgabenstellungen wären für Tiere nur bei intensivsten Training zu bewerkstelligen und wenn der Proband die dafür nötige intellektuelle Voraussetzung hätte.“

„Und hat Rex ihn gefressen?“

Es klopfte wieder.

„Deppen behandelt Rex anders! Der Herr Prof. Prof. Dr., der meiner Tochter imponieren wollte, hatte natürlich ein Geschenk für Rex mitgebracht. Dreimal dürfen Sie raten was!“

„Einen Apportierknochen?“

Es klopfte.

„Er hielt den Knochen vor Rexs Schnauze, der zu ihm gewatschelt war, als könnte ihn kein Wässerchen trüben, entfernte die Schleife und sagte: „Hol, Rexilein…. Hol… Vielleicht kannst du das ja?“ und warf dabei den Knochen in den Flur. Rex schaute Herrn Schlagmichtot erwartungsvoll an, und der Prof. Prof. Dr. schaute genau so erwartungsvoll zu ihm und bückte sich hinunter und sagte: Hol Stöckchen.. Da rannte Rex um den Stuhl herum, schmiss ihn samt Prof. um, die Leute waren entsetzt. Immer, wenn der Depp versuchte aufzustehen, schubste Rex ihn Richtung Stöckchen.“

Rex wedelte nun ununterbrochen mit dem Schwanz.

„Was haben Sie denn gemacht? Wenn ich zwischen fragen darf?“

Sie lachte und kam dabei ins Husten „Ich hab mich köstlich amüsiert. Der Prof. Prof. Dr. auf allen Vieren in Richtung Flur. Meine Tochter in Abendkleid und Stöckelschuhen riss Rex am Halsband, was völlig sinnlos war und rief: Rexilein lass das sein, pfui, lass das sein! Die anfängliche Ängstlichkeit der Gäste hatte sich in Heiterkeit umgewandelt, und ich dachte, hoffentlich hält meine Windel das aus.“

„Warum haben Sie nichts unternommen?“

„Sie müssen doch zugeben, die Situation war zu komisch. Sie wollten Rex vorführen und dabei führt Rex die zwei hoch dekorierten Akademiker vor, wie absurd.“, die Alte Dame konnte sich nicht mehr bremsen, und ich musste auch lachen. Und dachte: >Was für ein Gespann.<

Rex war nun dabei, mit seinem Schwanz ein Loch ins Parkett zu schlagen.

„Kurze Zeit nachdem die Drei im Flur verschwunden waren, hab ich Rex gerufen, und er hat seinen Spaß auch sofort beendet. Er kam zu mir zurück, legte vorsichtig seinen Kopf in meinen Schoß und ein „Ach wie süß“ kam von unseren Gästen.

Es wurde dann nochmals lustig, als die sechs akademischen Grade mit zerzauster Abendgarderobe in der Tür standen und einer der Gäste bemerkte: Er hat das Stöckchen gefunden.“

„Danach hat sie mindestens zwei Monate nicht mehr mit ihm gesprochen, bis ich sie eines Tages dann in seinem Zimmer hörte: Du hättest ihn ruhig beißen können… Du bist der Einzige, der mir treu bleibt… Du wählst nicht zwischen Doktortiteln und Silikontitten.“

„Sind die beiden durch diesen Vorfall auseinandergegangen?“

„Nein, der Abend hatte keinen Einfluss auf ihre Beziehung, denke ich. Aber eine seiner Mitarbeiterinnen, ob sie wirklich Silikonbrüste hatte, weiß ich nicht… Meine Tochter hat schwer darunter gelitten, auch wenn sie es nie zugab, aber nach fünf Jahren von heute auf morgen, ohne Vorwarnung abserviert zu werden, ist nicht einfach zu ertragen, zumal per Mail, wie feige. Sie hat die Flucht in weiteren Studien gesucht. Bringen Sie mich auf angenehmere Gedanken, lesen Sie bitte.“

Ich begann zu lesen, dabei musste ich feststellen, was äußerst interessant war, wie unterschiedlich Menschen doch Geschichten wahrnehmen, welch unterschiedliche Gefühle sie bei ihnen auslösten. Im ersten Drittel von Tschick, was wir nun lasen, beeindruckte mich am meisten die Szene mit dem kleinen Maik Klingenberg, der sich im Kindergartenalter befand und von seinen Erlebnissen auf dem Tennisplatz erzählte. Tennis fand für ihn überhaupt nicht statt, unbegrenzt Eis essen und Cola trinken zu können, war für ihn wichtig. Dem kleinen Knirps hatte sich eingeprägt: Im Tennisheim wurde viel Alkohol konsumiert und seine Mutter trank mit, obwohl sie Alkoholikerin war. Mit ihrer Sucht ging sie offen um und sprach offen darüber, bezeichnete ihre Entziehungskuren als Besuch einer Beautyfarm. Dort wird der Besucher auch nicht wirklich schöner, genauso wurde Maiks Mutter auch nicht wirklich trocken, sie nahm sich nur eine Auszeit vom Saufen, um nachher weiter zu machen wie zuvor. Als Lebensweisheit gab sie ihrem Sohn noch mit: Man kann über alles reden, und es ist scheißegal, was die Leute über dich denken. Da fiel mir spontan zu ein: >Es ist wohl auch scheißegal, welches Vorbild man gegenüber seinen Kindern abgibt.<

Um die Alte Dame hatte ich mir schon ein wenig Sorge gemacht. Als ich die Stelle erreichte, wo Herr Schürmann Maik fertig macht, weil er die Alkoholkrankheit seiner Mutter und die daraus entstehenden Lebenssituationen in einem Aufsatz, wahrheitsgemäß, ohne Schönung schilderte, flippte sie aus. Mit: „Dilettantischer Depp“, fing sie an, „diese Trottel, die nur Lehrer geworden sind, damit sie ihr Fach studieren können und an ihrem ersten Schultag als Lehrer feststellen, dass es nicht mehr um ihr Fach geht, sondern darum, Kindern etwas beizubringen und sie zu erziehen. Der Stoff bleibt der Gleiche, nur die Kinder ändern sich. Man wird Lehrer der Kinder wegen und nicht des Faches. Kapieren die Ärsche das nie!“

Ärsche, hatte sie wirklich gesagt. Rex hatte beide Pfoten auf den Ohren und ich hörte verwundert und irritiert auf zu lesen. Sie zitterte am ganzen Körper.

„Soll ich eine der Schwestern holen?“ brachte ich nur raus.

„Was sollen die denn an der Situation ändern? Überlegen Sie mal, wie viele Schüler so einem Deppen ausgeliefert sind. Es sind ja nicht alle Lehrer so, aber bei einer Stundenanzahl von sechsundzwanzig in der Woche und bei drei Stunden pro Klasse, hat er bei einer angenommen Klassenstärke von fünfundzwanzig…“, sie überlegte sehr kurz, mein Hirn suchte noch den Taschenrechner und fand ihn nicht, „über zweihundert im Jahr, in der gesamten Dienstzeit eines dieser sonderbaren Pädagogen“, Pädagogen, sagte sie in einem äußerst abwertendem Ton, „um die siebentausend Schüler. Wissen Sie, was das bedeutet? Tausenden Schülern wird vielleicht ihr Lieblingsfach vergrault, sie verlieren die Lust an der Schule, am Lernen. Den Idioten ist überhaupt nicht klar, wie wichtig, wie verantwortungsvoll ihr Beruf ist. Lesen Sie bitte weiter, sonst bekomme ich noch einen weiteren Schlaganfall.“

Bei Rex hatte ich schon die Befürchtung, Tschick würde ihn nicht mehr ansprechen als Dürrenmatt, was für einen Hund auch zu erwarten war, doch weit gefehlt, als Tschick mit dem Lada ankam, saß Rex auf seinen Hinterbeinen und hechelte. Die Probefahrt der Beiden faszinierte ihn. Ich brauchte nicht hinzuschauen, um seine Begeisterung wahrzunehmen, sein Schwanzwedeln konnte ich hören. Als ich dann aufhörte zu lesen, würdigte er mich keines Blickes mehr, rollte sich ein und drehte mir dabei den Rücken zu, was er bis dahin noch nie getan hatte.

Der Vorleser der Alten Dame

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