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4. Aus Floskeln macht sich Rex nichts
ОглавлениеEine der Schwestern erwartete mich am Aufzug und bat mich im Lesezimmer Platz zu nehmen, der Weg wäre mir bekannt, ich sollte ruhig gehen und mich wie zuhause fühlen. Die Alte Dame würde noch von ihren Schwestern fertig gemacht, aber bald erscheinen. Ich begab mich ins Zimmer, Rex war auch noch nicht da, und so konnte ich mich ein wenig umschauen.
Als ich mich umdrehte, stand Rex hinter mir und ich erschrak sehr, weil er wie immer lautlos kam. „Böser, böser Hund“, schimpfte ich freundlich mit ihm und hob den Zeigefinger, „Du sollst mich doch nicht erschrecken.“
Rex schaute mich nur verständnislos an, wenn Hunde das können und legte sich, mich ignorierend, in seine Stammecke. Im Flur wurde es nach kurzer Zeit etwas hektisch, die Alte Dame schimpfte: „Nun beeilt euch, Ihr seid noch jung, Ihr könnt Zeit verschwenden. Los, macht voran!“
Sie hatte wieder ihr farbenfrohes Blumenkleid an.
Nach dem morgendlichen Begrüßungsritual, nahm ich den Dürrenmatt in die Hand, der noch, an der selben Stelle lag, wo ich ihn gestern abgelegt hatte. Ich schlug ihn auf und mir fiel wieder die Frage ein, die ich mir gestern gestellt hatte, als ich meine Post durchging und ohne mir Böses zu denken, fragte ich einfach: „Haben Sie auch die Wahlbenachrichtigung bekommen?“
„Hier in diesem Land scheinen fortwährend Wahlen stattzufinden. Das scheint die einzige Daseinsberechtigung dieser Dilettanten und Idioten zu sein, und vor lauter neuer Wahlversprechen scheinen die Politiker zu hoffen, dass sich die Wähler an die letzten, die sie nicht eingehalten haben, nicht mehr erinnern. Das ist das einzige Gebiet auf dem sie Kreativität zeigen“, antwortete sie zornig.
„Gehen Sie denn eigentlich wählen?“
„Wie Sie sehen, sitze ich im Rollstuhl.“
„Sie könnten auch geschoben werden oder in Ihrer Situation könnten Sie Briefwahl beantragen“, sagte ich altklug.
„Muss da der Betrogene das Porto selber zahlen?“, wurde sie sarkastisch.
„Das weiß ich nicht, ich gehe sonntags morgens immer schnell zum Wahllokal um die Ecke.“ Und ich sah ein, ich bin zum Vorlesen hier, daher suchte ich die Stelle, wo wir gestern aufhörten und sagte beiläufig: „Es fiel mir nur so ein. Sie müssen nicht darauf antworten.“
„Welchem Menschen fällt am frühen Morgen solch unangenehme Frage ein?“, fragte sie nun spürbar beunruhigt.
„Ich hab doch nicht gefragt, wen Sie wählen, sondern nur ob!“ antwortete ich Verständnis anfordernd.
„So alt bin ich nun auch nicht, dass ich das nicht verstanden habe“, schießt sie belehrend zurück. „Für mich ist es nicht möglich zu wählen!“
„Warum?“, fragte ich ganz vorsichtig und zog den Kopf sicherheitshalber ein.
„Überlegen Sie, was sind die Voraussetzungen um zu wählen?“
„Volljährigkeit.“
„Das sollte bei mir kein Problem sein.“
„Das war dämlich, gebe ich zu.“
„Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.“
„Das hab ich verdient.“
„Staatsangehörigkeit und/oder Wohnsitz.“
„Riiichtiiig“, sagte sie wie in der Quizsendung,
„Hab ich jetzt was gewonnen?“
„Sie sind amüsant, das gefällt mir.“
„Danke!“
„Bitte!“
„Darf ich auch was Persönliches fragen?“
„Natürlich, wir sind doch hier nicht bei den Nazis“
„Ja..“, war ich etwas verdutzt, „Sie sind geistig so frisch und wissen soviel, das finde ich sehr beeindruckend.“
„Darf ich Ihnen auch eine persönliche Frage stellen?“
„Natürlich, wir sind ja nicht bei den Nazis.“
Sie lächelte.
„Faustdick scheinen Sie es hinter den Ohren zu haben“, begann sie. „Ich bin ja nicht mehr die jüngste, aber selten habe ich ein so schönes Kompliment bekommen, und wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich Sie jetzt vernaschen.“
Ich glaube, ich wurde rot.
„So was Nettes hab ich auch lange nicht mehr gehört“, sagte ich sehr nachdenklich, und ich merkte, dass sie es auch gemerkt hatte.
„Junger Mann, nun hören Sie aber auf, sonst muss ich mir nochmals Gedanken über mein Alter machen.“
Wir lachten beide leise.
„Sie haben sich das hier wohl einfacher vorgestellt, der Alten lese ich ein wenig vor, die bekommt eh nichts mehr mit und für das Hündchen werfe ich ab und zu ein Bällchen, das er apportieren kann.“
„Ich gebe zu, ich habe mir die Arbeit hier ein wenig anders vorgestellt, aber bestimmt hab ich nicht an Hündchen gedacht“, sagte ich energisch und schaute abwartend in die Ecke. Aber da regte sich nichts.
„Ach ja, da war dieses kleine Missverständnis.“
„Missverständnis, der hätte mich beinahe….“
„Junger Mann, beinahe gibt es bei Rex nicht, wenn er hätte wollen, dann hätte er, und Sie können sicher sein, Sie hätten nichts davon gemerkt.“
Ich schaute noch immer auf den Hund, der gerade seine Pfote auf die Schnauze legte, als würde er sich schämen.“
„Er wollte Sie nur begrüßen und mal von der Nähe betrachten. Er sieht nicht mehr so gut, er ist schon sehr alt. In Menschenjahren ist er sehr viel älter als ich, umgerechnet wäre er so um die hundertfünfzig Jahre.“
„Dafür hast du dich aber gut gehalten“, sagte ich anerkennend, nach kurzer Pause hängte ich noch, „wirklich“, an, um zu zeigen, dass ich es ernst meinte.
„Ich darf ihn doch duzen?“, sagte ich und dachte >Was ist das denn was Bescheuertes?<, aber es war zu spät, die Frage stand im Raum.
Schnell antwortete sie: „Aus Floskeln macht sich Rex nichts, duzen Sie ihn ruhig.“
Ich hatte nun alles erwartet, nur nicht diese Antwort. Um auf sicheren Boden zurück zu kommen sagte ich: „Staatsangehörigkeit und/oder Wohnsitz braucht man, um wählen zu dürfen.“
„Beinahe hätte ich es geschafft“, sagte sie enttäuscht. „Junger Mann, jetzt weis ich auch, warum Ihre berufliche Karriere so zu wünschen übrig lässt.“
Ich wurde nachdenklich und dachte an meine Frau.
„Wenn der Chef ausweichend auf Ihre Fragen antwortet, dann fragen Sie nie nach, das mögen Chefs nicht, das ist schlecht für Ihre berufliche Zukunft.“
„Ich lese hier vor, es tut mir leid, ich werde keine dummen Fragen mehr stellen. Wenn Sie möchten, kann ich…..“
„Werden Sie nicht. Sie haben es nett gemeint, und ich habe zickig reagiert. Entschuldigung! Ich habe keinen! Das werden Sie nicht verstehen.“
„Sie haben keinen Was?“
„Pass!“
„Sie müssen doch einen Pass haben.“
„Davon haben wir viele.“
„Viele?...“
Rex zum Beispiel hat einen, zwar nur einen Impfpass, aber immerhin.“
Aus der Ecke kommt ein klagendes Jammern.
„Er hasst Spritzen“, fügte sie hinzu.
Ich dachte >Weichei<, behalte es aber lieber für mich, mit den Folgen der Faltencreme im Hinterkopf.
„Wer impft ihn denn?“
„Der Tierarzt, wer sollte ihn sonst impfen“
Der Hund jaulte schon wieder.
>Wer hat soviel Mut oder ist so verzweifelt ihm eine Spritze zu geben?<, fragte ich mich.
„Er hat Angst vor dem Tierarzt?“
Er jaulte wieder.
„Und nicht umgekehrt?“, hackte ich nach.
„Doch…..Deswegen muss ich auch immer anwesend sein, um ihm die Hand zu halten.“
„Dem Tierarzt…?“
Das Jaulen wurde kläglicher, lauter und anhaltender.
„Entschuldigen Sie, die Pfote natürlich. Da muss ich dann alle Termine absagen und mich um ihn kümmern. Den Herren oder die Dame muss ich immer bestechen, und ich kann ihnen soviel Geld geben wie ich will, keiner kommt ein zweites Mal. Nun hören Sie aber auf immer dieses Wort zu sagen, er bekommt Angst und wenn er Angst hat, kann er nicht schlafen, und dann jault er die ganze Nacht, dann können wir alle hier nicht schlafen.“
Ich dachte: >Kein Weichei, sondern ein Angsthase!< behielt aber auch diesen Gedankengang für mich.
„Ich werde versuchen, nie mehr das Wort T…I…E…R…A…R…“
Ein sirenenartiges Gejaule unterbrach mich.
„Rex, ganz ruhig, der böse Mann kommt nicht“, sagte sie beruhigend.
Der Hund verstummte.
„Ich habe Sie gewarnt“, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger und strenger Stimme: „Beim nächsten Mal lass ich mich heraus rollen, und Sie können das Thema mit ihm alleine besprechen.“
„Dann kommen wir zum ursprünglichen Thema zurück?“
„Sie lassen ja sowieso nicht locker“, sagte Sie resigniert.
„Also Sie brauchen doch einen Pass, wenn Sie zum Beispiel mit dem Flugzeug flie…“
Ich wurde von dem sirenenartigen Jaulen, das jetzt in den Ohren wehtat, wieder unterbrochen.
„Rex, jetzt ist Ruhe, wir vereisen nicht mehr, du Heusuppe“, sagte sie beruhigend. „Nie mehr“, kam dahinter leise. Der Hund war sofort ruhig.
„Er hat auch…“, ich breitete die Arme aus und bewegte meinen Oberkörper „…Angst“
„Und noch viel mehr als vor ….“
„Ich verstehe.“
Damit der Hund ruhig blieb, begann sie: „Die Firmen haben eigene………, die können wir nutzen. Na, Sie wissen schon“.
Ich nickte mit dem Kopf.
„Da wird man nicht so oft kontrolliert und wenn doch, dann zeig ich einen Pass von den Schwestern. Die haben Pässe.“
„Aber die sehen doch ganz anders aus, mit Verlaub.“
„Wenn jemand wirklich diesen Mut aufbringen würde, hätte mein Leibarzt, der mich stets begleitet, eine Ausrede zur Hand. So was wie: Die alte Dame hat eine schwere Krankheit. Ich kann Sie beruhigen, das ist aber noch nie passiert, und ich bin viel gereist. Glauben Sie mir, diese bürokratischen Dinge werden oftmals sehr überschätzt. Ich habe auch keinen Pass, weil ich keine Staatsangehörigkeit habe.“
„Ach so…“, sagte ich beeindruckt.
„Wieso sollte ich, dann müsste ich auch Steuern zahlen und wer möchte das schon?“
„Da kann ich Sie gut verstehen, wer zahlt schon gerne Steuern?“
„Ich bezahle natürlich Steuern, bzw. meine Unternehmen haben die Verpflichtung dazu. Gut ehrlicherweise muss ich hinzufügen, wir versuchen diese Unannehmlichkeit auch zu minimieren, indem wir die einzelnen Steueroptimierungsvarianten sorgfältig auswählen, die uns von konkurrierenden, wohlgesinnten Firmenbesteuerungspolitik betreibenden Ländern, mit Verantwortung gegenüber der Gewinnmaximierung angeboten werden.“
„Das ist aber schön formuliert.“
„Nun unterbrechen sie mich nicht, ich bin noch nicht fertig.“
Mir wurde schlagartig klar… aber er rührte sich nicht. Wieder mal Schwein gehabt, wie in letzter Zeit so häufig.
„Damit habe ich wohl auch Ihre anfängliche Frage beantwortet. Ich gehe natürlich nicht wählen. Aber ich wähle natürlich, die Politik die gemacht wird, und die damit verbundenen Idioten und Dilettanten, die wohl oder übel dazu nötig sind, um unsere Interessen umzusetzen.
„Und das ist einfach so machbar, ich dachte wir leben in einer Demokratie.“
„Entschuldigung, aber Politik funktionierte schon immer so. Das ist doch demokratisch, die Reichen bestimmen wer regiert und in der Diktatur ist es so, der Diktator bestimmt wer reich ist. Darin liegt der Unterschied“ antwortet sie verständnislos.
„Und ich dachte, dass Volk…“
„Was für ein blasphemischer Unsinn, wie kommen sie darauf!“, fuhr sie mir in die Parade.
„Die Reichen, bestimmen also was läuft.“
„Riiichtiiig, alles andere wäre verantwortungslos“, sagte sie mit tiefer Stimme.
„Das haben Sie aber gut drauf.“
„Dafür hab ich auch lange geübt… nicht war Rex?“
Aus der Ecke kam ein Schnaufen.
„Er mag den Typ, besonders sein geschmackloses Hemd gefällt ihm. Und wenn Sie meinen, dass Sie wählen gehen, haben Sie sich schwer getäuscht.“
„Das sehe ich ein, ich darf mir bestenfalls aussuchen, von wem ich beschissen werde.“
„Riiichtiiig, jetzt haben Sie es verstanden, weil die Politik, höchsten für zehn Prozent der Bevölkerung gemacht wird“, sagte sie gnädig.
„Sie meinen Wirtschaftspolitik?“
„Politik ist immer Wirtschaftspolitik. Immer geht’s ums liebe Geld. Und sollte es einmal nicht darum gehen, interessiert es uns Bonzen auch nicht wirklich. Hab ich damit Ihre Fragen ausreichend beantwortet?“
„Ja, vollkommen“, und ich besann mich auf mein eigentliches Dasein. „Aber eine Frage hab ich noch.“
„Und die wäre?“, wirkte sie genervt.
„Soll ich anfangen zu lesen?“, fragte ich mit einem Zwinkern.
Sie fing an zu lächeln: „Ich bitte darum.“
„Gestern sind wir bis zum dritten Akt gekommen. Die Multimilliardärin Claire Zachanassian kam in die von ihr wirtschaftlich ruinierte Stadt Güllen, um sich nach mehr als fünfundvierzig Jahren an ihrer Jugendliebe Krämer Alfred Ill, der sie geschwängert hatte, aber verleugnete, zu rächen. Sie hat den Bürgern der Stadt Wohlstand versprochen, wenn Gerechtigkeit hergestellt würde, dafür müsste Alfred Ill sterben und im Gegenzug würde sie der Stadt und seinen Bürgern eine Milliarde schenken. Nach anfänglicher Ablehnung und Empörung erfuhren wir, die Bürger fingen an zu konsumieren, lebten über ihre Verhältnisse, was sie in eine Abhängigkeit brachte und sie hoffen, spekulieren ließ, dass Ill stirbt. Nein, sogar sterben muss,“ fasste ich kurz zusammen und begann: „Petersche Scheune….“
Das Buch schlug ich mit den letzten Worten zu: „…Damit wir das Glück glücklich genießen.“
Die Alte Dame nach kurzer Zeit: „Sind wir fertig?“.
„Ja, sind wir“, antwortete ich selbstzufrieden.
„Das war sehr gut. Sie haben nicht einen Fehler gemacht. Sie brauchten nicht einen Satz zu wiederholen oder blieben hängen an irgendeinem Fremdwort. Das ist außergewöhnlich. Ich hätte das nie gekonnt, und dabei haben Sie eine so angenehme Stimme, die eine bemerkenswerte Ruhe ausstrahlt. Ich muss mich bei Ihnen vielmals bedanken. Sie haben einer alten Frau eine unwahrscheinliche Freude bereitet und Rex auch. Nicht wahr Rex?“, rief sie in seine Ecke. Rex wackelte zweimal mit dem Ohr, aber der Schwanz blieb ruhig. Ich deutete das als ein begeisterungsloses: „War Okay! Wird beim nächsten Mal hoffentlich spannender.“
„Und, wird es weiter gehen?“
„Aber sicher werden Sie weiterlesen, ich werde mir doch nicht die letzten Freuden meines Lebens nehmen lassen. Sehen Sie sich bis auf mein Lebensende als angestellt an, auch wenn ich Ihnen nicht versprechen kann, dass dieses noch lange aus sich warten lässt. Dafür erhöhe ich aber Ihre Gage auf zwanzig Euro die Stunde. Sind Sie damit einverstanden?“
„Oh, das ist aber sehr großzügig von Ihnen“, antwortete ich voller Glück. >Mit den paar Kröten vom Arbeitsamt, meinem vierhundert Euro Job im Supermarkt und den Gartenarbeiten in der Nachbarschaft könnte ich auf über zweieinhalbtausend Euro kommen, was für ein Vermögen<, träumte ich.
„Papperlapapp“, sagte sie kurz und bündig, „Sie haben es sich redlich verdient.“
„Alle haben den so beliebten, anerkannten Mitbürger verraten, selbst der Pfarrer und seine Frau. Der Bürgermeister bringt ihm sogar ein Gewehr und rät ihm, sich zum Wohle der Stadt selbst zu richten. Der Arzt testiert nach dem Mord einen Herzschlag. Claire bekommt ihren Ill als Trophäe gereicht, die sie mitnimmt, wie ein erlegtes Wild, dafür bekommt der Bürgermeister den Scheck über eine Milliarde“, sagte ich um nochmals das Gelesene anzusprechen.
„So sind die Menschen“, wird die Alte Dame nachdenklich und kaut wieder an ihrem Daumen. „Ich habe sie nicht anders kennengelernt, mit der Selbstherrlichkeit und der Verlogenheit der bürgerlichen Moral kann alles rechtfertigt werden. Selbst der Mord an Menschen. Die Argumentation, es müsse Gerechtigkeit hergestellt werden, wurde nur als Selbstlüge vorgeschoben, um sich morgens im Spiegel noch ertragen zu können. In Wirklichkeit ging es nur um den Wohlstand, den Konsum, den eigenen Vorteil.“
„Ob es wirklich möglich ist, eine Gesellschaft zu kaufen und sie bis zum Äußersten zu treiben, indem sie einen Menschen tötet? Was meine Sie?“, fragte ich.
„Aber sicher doch! Bestes Beispiel ist unser Adolf, das Perverseste, was die Menschheit wohl je hervorgebracht hat. Er hat sie mit Arbeitsplätzen auf Staatskosten gekauft, Autobahnen hat er gebaut. Jeder wusste Bescheid, wenn er Bescheid wissen wollte, jeder. Die Meisten wollten aber nicht. Man hat weggeschaut, weggehört, weggelesen, weggeredet…
Aber 120 Millionen Menschen sind im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen, durch diese Drecksau.“ Jetzt kam sie in Fahrt. „Wissen Sie, was das bedeutet?“
„Ja…“
„Nicht, Ja!“ wurde sie laut: „Ein normales Buch hat ungefähr einhunderttausend Worte. Würden Sie nur die Vor- und Zunamen der Toten in Bücher schreiben. Na, wie viele Bücher sind das?“
Ich dachte, >ich bin zum Vorlesen hier und jetzt rechnen, so ein Scheiß! Außerdem weiß Sie doch, ich wollte Germanist werden. Das ist gemein!<
Als ich mit dem Rechnen beginnen wollte, beantwortete sie die Frage schon selbst, voller Wut: „2400… stellen Sie sich das mal vor.“
Rex legte sich die Pfote aufs Ohr.
„Bewundernswert“, sagte ich paralysiert. >Ob sie das auswendig gelernt hat<, ging mir durch den Kopf.
„Was?“, brüllte sie, „Sie finden das bewundernswert? 120 finden Sie bewundernswert? Sind Sie auch so ein vertrottelter Nazi?“
„Nein, nein, Entschuldigung, ich meinte Ihre Rechenleistung. Der Weltkrieg der zweite und der erste und alle anderen sind furchtbare Verbrechen.“, versuchte ich mich zu retten.
„Ach so!“, beruhigte sie sich ein wenig, „Taschenrechnergeneration, hab ich eine Menge Geld mit verdient, aber sonst…“. Jetzt sah ich erst, wie sehr ihre Hand zitterte. Sie war vollkommen außer sich und fing an auf dem Fingernagel des linken Daumens zu kauen. „Einhunderttausend durch zwei, passt zwanzigmal in eine Million und das mal einhundertzwanzig wird man wohl noch in fünf Sekunden rechnen können, Oder?“
„Oh, ich bestimmt nicht. Fünf Sekunden braucht mein Gehirn bis es den Taschenrechner im Kopf gefunden hat“, sagte ich und hoffte auf Verständnis. Dann fügte ich noch hinzu: „Ich wollte Germanist werden.“
„Eure Generation hätte es zu Adolfs Zeiten geben sollen“, und ihre Wut schien sich in Heiterkeit umzuwandeln.
„Wieso?“ fragte ich naiv und konnte mir die Antwort schon denken.
„Selbst Adolf, bei seiner ganzen Verblendung, wäre nicht so bescheuert gewesen, mit einer Generation wie der euren einen Krieg anzufangen, geschweige einen Weltkrieg“, knallte sie mir ruhiger werdend an den Kopf
>Ist das beleidigend oder ein Lob? Ich will darüber überhaupt nicht nachdenken< und beschloss nicht zu antworten. >Sie zahlt mir jetzt schon zwanzig Euro schwarz, da halte ich besser die Schnauze, auch ich bin käuflich<, ging mir durch den Kopf. Zum Abschluss des Themas wollte ich noch etwas Schlaues sagen: „Gott sei Dank, sind die Zeiten vorbei!“
„Was?“, brüllte sie aufs Neue“, und Rex legte seine Pfote, die er zwischenzeitlich heruntergenommen hatte, erneut auf sein Ohr. „Was sind Sie denn für ein degenerierter Depp? Schauen Sie nach Afrika, nach Asien, Syrien, China, Mao mindestens fünfzig Millionen, Stalin… Die Liste ist unendlich lang. Ist einer dieser Messias verschwunden, kommt ein anderer Anführer an seiner Stelle empor. Der Macht selbst Willen, des Geldes, der Religion oder einfach nur der Rache wegen, werden Menschen zu tausenden vernichtet, und die Machthaber tun dieses in der Regel nicht selbst, sondern ihre Helfer und Helfershelfer erledigen das. Es ist überhaupt nichts vorbei, nur weil bei Ihnen vor der Haustüre nicht gemordet wird. Haben Sie das verstanden?“
„Ja“, sagte ich kleinlaut, „Ich muss mich entschuldigen“, sagte ich ernst und meinte es auch so. „Meine Urgroßmutter mahnte mich und meinen Vater immer mit der Aufforderung: „Bät üsch, Bät üsch, dat niemols weder ne Kresch kütt. Ich han zwei metjemarcht. Ich sach üsch, Bät üsch, dat üsch dat niemols passiert.“ Ich hoffte, damit würde sie milde gestimmt.
(„Bettet, bettet, dass niemals wieder Krieg kommt. Ich habe zwei mitgemacht. Ich sage Euch, bettet Euch, dass Euch das niemals passiert.“)
„Weise Frau“, sagte sie mit sinkendem Tonfall. „Ich liebe diesen Dialekt, er ist rau, gleichzeitig strömt er eine gewisse Wärme aus. Sie können auch nicht verleugnen, wo her Sie kommen.“
„Sie ist nur sechs Jahre zur Schule gegangen“, wurde ich nachdenklich, wie es mir immer passiert, wenn ich an sie denke.
„Daran können sie sehen, Schulbildung wird maßlos überbewertet.“
„Sie war die Älteste“, redete ich weiter, „und musste zuhause bleiben, um auf die Geschwister aufzupassen. Sie konnte nicht immer in die Schule gehen, damit ihre Mutter bei den Bauern für ein paar Kartoffeln arbeiten konnte. Als Kind hat sie furchtbaren Hunger gelitten. Ihre jüngere Schwester ist an Schwindsucht gestorben, sie hat an ihrem Bett gesessen, als sie starb und ihr Bruder ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen.“
„Und heute lernen die Kinder in der Schule Entspannungsübungen, damit sie ihre Lehrer ertragen können. Was für eine Zeit! Hoffentlich kommt der Sensenmann mich bald holen.“, hartnäckig blieb sie beim Thema Schule und ließ eine Vertiefung des Kriegsthemas nicht zu.
„In welcher Schule, denn das?“
„In der Schule Ihrer Kleinen.“
Ich erinnerte mich nun, vor zwei oder drei Jahren wurde wirklich versucht, in der Schule meiner Kleinen durch autogenes Training, das Aggressionspotential der Schüler zu mindern, was zur Folge hatte: Die Lehrer wurden ausgelacht und am zweiten Tag erschien niemand mehr.
„Woher wissen Sie das denn?“
„Diese autogenen Kurse oder dieses Joga finden doch heute überall statt und wofür sollen sie schon gut sein? Um mit seiner Umwelt fertig zu werden. Was lesen Sie mir denn als nächstes vor?“, versuchte sie abzulenken.
„Haben Sie es auch schon einmal versucht?“
„Gott behüte, ich gehöre zu den Leuten, die dem Boom Nahrung schenken.“
„So schlimm sind Sie?“
„Machen Sie sich keine Sorgen, der Tiger hat seine Zähne verloren, ich bin altersmilde geworden, aber Sie hätten mich vor zehn Jahren erleben sollen oder am besten vor dreißig.“
„Da war ich noch in der Grundschule.“
„Sie haben noch viel Leben vor sich, nutzen Sie Ihre Zeit“, sagte sie sehr nachdenklich, mit zarter Stimme.
„Ich werde mich bemühen.“
„Das müssen Sie mir versprechen“, dabei hob sie drohend den Zeigefinger der funktionierenden Hand.
„Ich verspreche es Ihnen, wenn es mir möglich ist. Ich nehme es mir oft selbst vor, aber dann muss ich irgendeinen Job annehmen, der mir überhaupt nicht gefällt, und ich denke, schon wieder geht Lebenszeit verloren.“
„Ich hoffe, Sie denken von Ihrer neuen Arbeitsstelle nicht genauso…“
„Nein“, unterbrach ich sie schnell, „der Job hier gehört zu den besten, den ich je hatte… Eigentlich ist es mit Abstand der Beste, den ich je hatte und wohl auch je haben werde.“
„Sind Sie mal nicht so pessimistisch, aber Sie verdienen doch überhaupt nicht soviel?“
„Sie haben keine Ahnung. Zwanzig Euro die Stunde, das würde auf einen normalen Monat mit einhundert sechzig Stunden, dreitausend zweihundert Euro bringen. Für mich ein Vermögen. Wir müssen ungefähr mir der Hälfte auskommen, manchmal auch weniger. Wir haben Glück mit unserem Haus, die Belastungen sind wirklich zu ertragen.“
„Aber Sie bekommen das Geld doch schwarz. Sie müssten doch Rücklagen bilden. Sie sind nicht sozialversichert, zahlen in keine Rentenkasse, soviel ist es doch dann nicht, oder?“
„Den Luxus kann ich mir nicht leisten. Ich hab schon für viel, viel weniger gearbeitet. Für sechs Euro fünfzig war das Geringste und das war auch schwarz und wirklich sehr üble Arbeit, Industrierohre reinigen.“
„Aber davon kann man doch nicht leben?“
„Eigentlich nicht, aber es muss gehen. Du musst dir dann schon etwas einfallen lassen, alles was aufgeschoben werden kann, wie Kleidung kaufen, wird aufgeschoben, aber auf Dauer geht es nicht. Der Job hier hat mich gerettet, wenn ich ehrlich bin. Ich hoffe Sie nutzen das nicht aus.“
„Ich bedanke mich für Ihre Aufrichtigkeit. Diesbezüglich brauchen Sie keine Angst zu haben, ich hab ja genug.“
„Na…ja, das sind meistens die Schlimmsten, wenn ich so ehrlich sein darf. Mir hat man schon einen Kaffee angeboten und die zehn Minuten anschließend abgezogen.“
„Da brauchen Sie bei mir keine Angst zu haben, ich erstelle Ihnen auch keine Rechnung, über Ihren Verzehr: „Jöne und jöne könne“, gibt es diesen Spruch nicht bei Ihnen im Raum?“
„Das ist richtig“, bestätigte ich überrascht. Ihre Aussprache war perfekt.
„Da fällt mir ein, ich habe Sie überhaupt nicht gefragt, wann ich Sie bezahlen soll.“
„Samstag wäre nicht schlecht.“
„Also wöchentlich“, wurde sie förmlich.
„Ja, das wäre gut.“
„Brauchen sie einen Vorschuss?“
Obwohl wir es dringend nötig gehabt hätten und auf der letzten Rille lebten, wollte ich mir diese Blöße nicht geben, daher lehnte ich dankend ab.
„Vielleicht könnten Sie mir in der nächsten Woche auch nachmittags vorlesen.“
„Oh, das wäre sehr schön.“
„Können Sie dann überhaupt?“
„Für zwanzig Euro die Stunde mit Sicherheit.“
„Sehr schön, dann kommen Sie doch auch am Samstagmorgen.“
„Eigentlich…“, nach kurzem Nachdenken, „geht auch klar. Normalerweise frühstücke ich mit meinen Kindern…aber… könnte ich eine Stunde später anfangen?“
„Aber nur dann, wenn Sie Ihre Töchter mitbringen. Ich möchte sie unbedingt kennen lernen.“
„Ich weiß nicht?“
„Ich bin nur von alten Leuten umgeben, meine Tochter ist auch nicht mehr die Jüngste. Ich würde gerne nochmals junge Leute kennen lernen. Mich ein wenig unterhalten. Ein wenig von der heutigen Denkweise und Sprachkultur der jungen Leute erfahren. Sie können sich nicht vorstellen, welche Freude Sie mir damit machen würden.“
„Ich weiß nicht?“, fing ich wieder an, „es ist hier meine Arbeitsstelle“, und sah in die Ecke, wo Rex lag.
„Sie haben Angst um Ihre Töchter, wegen Rex, aber er wird ihnen nichts tun, dafür garantiere ich mit meinem… Bei meinem Alter und Zustand eine schlechte Sicherheit… Wir lassen Rex entscheiden“, sagte sie zuversichtlich.
„Rex… der kann doch nicht…“
„Wir versuchen es. Wenn er bellt oder knurrt heißt es: Nein. Wenn er mit dem Schwanz wedelt oder mit den Ohren wackelt: Ja. Sind Sie damit einverstanden?“
In der Hoffnung, Gewissheit und Neugier, ein Tier könnte so komplexe Sachverhalte nicht verstehen, willigte ich ein.
„Also Rex!“, forderte sie Rex auf.
>Absurd, ein Tier so anzusprechen<, dazu fiel mir mehr nicht ein.
In dem Augenblick wurde Rex auch schon lebendig und ließ Ohren und Schwanz rotieren.
„Sehr schön, ich sehe Ihre Töchter am Samstag“, legte sie fest, und um einem Widerspruch keinen Raum zu lassen, beendete Sie das Thema professionell, indem sie schnell ein anderes ansprach und ihren Status als Chef nutzte: „Und was lesen Sie mir morgen vor?“
>Zurückrudern geht nicht mehr. Die Kleine kommt mit, die fragt jeden Tag mehrmals, wann sie mit darf. Aber die Große, lebt doch mehr in Ihrer eigenen Welt und wird schwer zu bewegen sein. Schauen wir mal.< prognostizierte ich.
„Was Sie möchten, Sie sind der Boss!“
„Ich wünsche mir etwas Neues, Aktuelles, ein Buch das nicht älter als zehn Jahre ist, anspruchsvoll, wenn möglich interessant und ein wenig lustig…“
„…Kritisch, liebenswert, also die eierlegende Wollmilchsau.“ fuhr ich weiter fort.
„Genau das möchte ich, Sie sollten Hellseher werden.“
„Da lassen sie mich überlegen“, und nach kurzer Zeit sagte ich: „Da fällt mir nur „Tschick“ ein.“
„Tschick“, räusperte sie, „was ist das?“
„Ein Roman von Wolfgang Herrndorf, mit Ende vierzig hat er sich erschossen, er hatte einen Gehirntumor. Sein Roman handelt von zwei Jugendlichen, vierzehn Jahre alt, der eine kommt aus einem wohlhabenden, aber zerrütteten Elternhaus, der andere aus einem Assi-Viertel. Beide haben gemeinsam, dass sich niemand um sie kümmert, weder in der Schule, noch im Elternhaus, sie sind Außenseiter. Die beiden beschließen in den Sommerferien ein Auto zu klauen, fahren damit durchs Land und bestehen viele kleinere und größere Abenteuer. Der Roman ist gesellschaftskritisch, einfach in der Sprache, rührend, teilweise erschreckend und Liebe spielt auch eine Rolle. Das Buch ist vielfach mit Preisen ausgezeichnet und in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt worden. Das besondere ist, er schreibt aus der Perspektive des vierzehnjährigen Protagonisten und die Sprache, die er wählt, passt sich dem Jugendjargon an.
„Den lesen wir. Ich liebe Ich-Perspektiven, die lassen einen in die Geschichte tief versinken.“ und Rex wackelte mit Schwanz und Ohren.