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Immer schneller zogen die Tage ins Land und der Winter hielt Einzug in Frankfurt. Die Temperaturen rutschten unter den Gefrierpunkt und mancherorts lag bereits Schnee. Besonders bei den ohnehin kräftezehrenden Nachtübungen bekamen die Soldaten die eisige Kälte zu spüren. Geschlafen wurde dabei im Freien, in Zelten zu jeweils acht Mann.

Bei einer Übung Ende November fiel das Thermometer auf unter minus zehn Grad Celsius. Zudem wehte starker Wind aus Osten, der die Temperatur noch um einiges kälter empfinden ließ. Roland erwachte nach diesem strapaziösen Tag mitten in der Nacht, da ihn die Eiseskälte nicht länger schlafen ließ. Obwohl er alles angezogen hatte, was ihm zur Verfügung stand, fror er am ganzen Körper. Besonders kalt war ihm an den Beinen. Seine Zehen fühlte er kaum noch. Unruhig drehte er sich unter seiner Felddecke auf dem pickelharten Boden hin und her. Seine Glieder waren taub und er haderte immer stärker mit dem Drang, den Unterschlupf aufzugeben, um sich im Freien bewegen zu können. Die Minuten, in denen er nachdachte, zogen sich in die Länge. Schließlich siegte die Vernunft, da er ohnehin nicht in den Schlaf zurückfand. Im Dunkeln tastete er nach dem Ausgang und touchierte dabei versehentlich einen schlafenden Kameraden.

»Was machst du da?«, fragte dieser mit genervtem Unterton in der müden Stimme.

»Ich muss mir kurz die Beine vertreten. Mir ist bitterkalt.«

Der Soldat, dessen Namen Roland nicht kannte, seufzte höhnisch und gab ihm noch einen Satz mit, an den Roland noch lange Zeit später denken sollte:

»Warte nur, bis sie uns an die Front schicken. Da wären wir froh, wieder hier in der warmen Stube zu sein.«

Draußen war es noch um einiges kälter als im Zelt, aber Roland wusste, er musste sich bewegen, um keine Erfrierungen davon zu ziehen. Im matten Licht des zunehmenden Mondes begann er, steif im Kreis zu laufen. Die eisige Luft schmerzte in seiner Lunge, doch nach ein paar Runden um das Zelt fühlte er, wie sein Körper sich wieder erwärmte und der Kreislauf zu arbeiten begann. Anfangs schmerzten die Glieder noch, doch schon bald stellte sich ein angenehmes Gefühl ein.

Nach einer weiteren Runde, in der er das gesamte Zeltlager umkreist hatte, blieb Roland plötzlich wie angewurzelt stehen. Er vernahm ein deutliches Geräusch aus einem der Zelte. Er sah, als er sich umblickte, wie jemand nach draußen gekrochen kam. Anfangs nahm Roland nur den schwarzen Umriss einer großgewachsenen Person wahr. Als diese nähertrat, erschrak Roland ein weiteres Mal. Er erkannte im grauen Mondlicht seinen Vorgesetzten, Leutnant Huber. Freundlich wie immer begann dieser ruhig zu sprechen, als er weiter auf Roland zugegangen war, um nicht weitere Soldaten zu wecken:

»Wir befinden uns hier am Kasernengelände. Sie brauchen keine Wache zu schieben, Soldat.«

»Ich wollte mich lediglich etwas wärmen, Herr Leutnant.«

Der Vorgesetzte seufzte zustimmend:

»Jaja, diese Kälte lässt einen kaum schlafen. Und dabei gibt es Männer da draußen, die noch viel Schlimmeres ertragen müssen. Es sind schon harte Zeiten, die wir gerade erleben.«

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Herr Leutnant?«

»Bitte, nur zu.«

»Waren Sie selbst schon an der Front?«

»Ich habe vier Monate in Frankreich gekämpft, bevor ich hierherkam.«

»Wie ist das, wenn man plötzlich mitten im Krieg ist?«

Der Leutnant blickte hinauf in die sternenklare Nacht und gab eine Weile kein Wort von sich. Roland wurde unwohl. Er dachte, er habe wohl etwas Falsches gesagt und es schien, als wäre die Luft noch kälter geworden. Offensichtlich verband der Leutnant schmerzende Erinnerungen mit den Erlebnissen an der Front. Roland bereute es, diese Wunden plötzlich aufgekratzt zu haben. Er öffnete seinen Mund, um vom Thema abzulenken, als der Vorgesetzte fortfuhr:

»Komm‘ mit, mein Junge. Wir gehen ein kleines Stück, sonst frieren wir hier noch fest.«

Über die schneebedeckte Wiese, die im matten Schein des Mondes in einem düsteren Grau erstrahlte, wanderten die beiden entlang einer dichten Allee, die schnurgerade durch das Kasernengelände führte und die beiden dabei etwas vor dem eisigen Wind schützte.

»Im Krieg gibt es keine Gewinner, mein Junge. Jeder spricht darüber und die Wochenschau zeigt heldenhafte Bilder, aber die Realität kennt nur der, der sie erlebt hat. Doch das wünsche ich keinem. Ich habe Männer sterben sehen und sie schreien gehört. Diese Bilder verfolgen mich und lassen mich nachts kaum schlafen. Die seelischen Wunden schmerzen viel mehr, als jede körperliche es könnte.

An der Front habe ich viele Freunde und Kameraden verloren, doch ich weiß bis heute nicht, warum. Es macht mir keine Freude, euch für da draußen auszubilden, aber es ist meine Aufgabe und diese nehme ich ernst. Ich versuche euch so viel wie möglich mitzugeben, damit ihr den Krieg, so Gott behüte, überlebt.

Manche von euch können es ja kaum noch erwarten, an der Front ein paar Bolschewisten zu erschießen. Diese ahnungslosen Narren. Ich sage dir eines, mein Junge: Diese armen Seelen sind die Ersten, die da draußen draufgehen.

Der Krieg hat mir mein Leben zerstört. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dadurch irgendetwas Positives zu bewirken. Ich verurteile keinen der Soldaten, die einen meiner Kameraden erschossen haben. Sie haben ihre Pflicht getan, um ihr Land zu schützen, das wir überfallen haben. Die Schuld liegt ganz allein bei uns.«

Roland war erstaunt und sprachlos über die offene Art, mit der der Leutnant zu ihm sprach. Er musste sich sehr sicher über Rolands Gesinnung sein, um so frei mit ihm zu sprechen. Es war äußerst gefährlich, solche Gedanken zu äußern, vor allem als Soldat. Hohe Strafen standen auf diese Art von Kritik. Der Vorgesetzte schien sich dadurch jedoch nicht beirren zu lassen und sprach unverblümt weiter:

»Sie werden schon noch sehen, was sie davon haben. Lange kann das nicht mehr gut gehen. Hitler ist verrückt, wenn er denkt, dass wir den Krieg so gewinnen. Und wenn es so weit ist, dann Gnade uns Gott, dass wir nicht das bekommen, was wir unseren Gegnern angetan haben.«

Roland war sehr beunruhigt von den Behauptungen seines Vorgesetzten, die so anders waren, als es stets gepriesen wurde. Obwohl er Angst vor der Reaktion hatte, die er bereits erahnen konnte, warf er etwas ein:

»In den Nachrichten heißt es immer, der Endsieg wäre nahe und der Krieg würde bald vorbei sein. Ich hoffe jeden Tag, nicht mehr herangezogen zu werden.«

Der Leutnant schüttelte traurig den Kopf und fuhr mit ruhiger Stimme fort:

»Alles, was die da in den Nachrichten bringen, ist Unfug, reine Hirnwäscherei. Ich möchte keine Unruhe verbreiten, jedoch sage ich es gerade heraus: Der Kriegsverlauf wird sich wenden, die Fronten sind einfach zu groß und überdehnt. Hitler ist verrückt, wenn er glaubt, er könne von heute auf morgen die ganze Welt erobern. So schnell werden wir das Ende dieses Krieges nicht erleben.«

Bei diesen Worten fiel Roland ein Zitat ein, das er dem Leutnant nicht vorenthalten wollte. Er hatte es in einem uralten Buch, dem einzigen, das er besaß, vor langer Zeit bereits entdeckt, begann jedoch erst seit kurzer Zeit wirklich zu begreifen, was es bedeutete:

»Ein Philosoph namens Platon hat einmal gesagt: ‚Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.‘«

Der Leutnant nickte zustimmend mit dem Kopf.

»Da hatte er wohl recht.«

Die beiden kehrten gemächlich zum Zeltlager zurück und Roland verkroch sich ein weiteres Mal in dieser Nacht unter seiner Felddecke. Ihm gingen die Worte des Leutnants nicht aus dem Kopf und er dachte noch lange darüber nach, bevor er wieder einschlief.

Krieg und Freundschaft

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