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»Liebste Lilli,

meine Befürchtungen sind wahr geworden. Sie schicken mich nach Russland. Es ist bereits drei Tage her, dass wir aus Linz abgefahren sind. Ich habe den Überblick darüber verloren, wo wir uns gerade befinden, aber der Zug rollt und rollt. Die Landschaft wirkt kahl und verlassen. Wir sind an vielen zerbombten Städten und abgebrannten Dörfern vorbei gekommen. Es ist kein Vergleich mit daheim.

Kainz und Hartl, zwei Kameraden, die bereits mit mir in Frankfurt waren, sind ebenfalls mit dabei. Andi wurde ursprünglich für Frankreich eingeteilt, doch er hat sich freiwillig nach Russland gemeldet, um auf mich aufpassen zu können, dieser Spinner. Ich weiß nicht, ob ich ihm dankbar sein oder ob ich es ihm übel nehmen soll. Auf jeden Fall hat er sich das Leben damit selbst schwer gemacht.

Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet und wo wir hingebracht werden. Ich halte dich auf dem Laufenden, so gut es mir möglich ist. Pass du mir gut auf dich und unser ungeborenes Kind auf. Mach dir keine Sorgen, aber bitte denke an mich. Ich bin in Gedanken unentwegt bei dir und trage dein Bild stets in meinem Herzen.

In Liebe

Roland«

»Verdammt Steindl, du machst mir ein schlechtes Gewissen mit deiner Schreiberei. Da denke ich immer daran, dass ich auch meinen Leuten Bescheid geben sollte. Aber wie sollen die auch wissen wo ich bin, wenn ich es nicht einmal selbst weiß.«

Hartl blickte lachend von der oberen Pritsche auf Roland herab, der aufrecht auf der seinen saß und den Brief noch einmal sorgfältig durchlas.

»Solange wir hier in diesem beheizten Abteil durch die Gegend fahren, ist es mir herzlich egal, wo wir gerade sind«, meldete sich auch Kainz zu Wort.

Andi bekam von alledem nichts mit. Er schlief seit Stunden tief und fest. Niemand wusste die exakte Uhrzeit, es wurde lediglich zwischen Tag und Nacht unterschieden. Unermüdlich dampfte der Zug durch die eintönige Landschaft, in der es weit und breit keine Erhebungen gab. Sie fuhren an vielen Haltestellen mit unaussprechlichen Namen vorbei. Ab und zu waren Menschen in der Ferne zu sehen.

Die Ungewissheit quälte Roland. Ihnen war lediglich gesagt worden, dass sie nach Russland versetzt würden. Genauere Angaben konnte noch keiner machen. So ging es also mit Sack und Pack nach Osten, ohne zu wissen, wann und wo man ankam. Eine genaue Einteilung sollte am Zielort erfolgen, bis dahin hieß es ausharren.

Einige Stunden später kam der Zug in einem kleinen russischen Bahnhof zum Stehen. Die Soldaten hatten bei diesem Halt die Möglichkeit, sich draußen die Beine zu vertreten. Diese Gelegenheit nutzten Roland und seine Kameraden nur zu gerne. Als sie aus dem Zug ausstiegen, peitschte ihnen sofort bitterkalter Wind ins Gesicht. Solch brutale Kälte hatte Roland selten gespürt, da half selbst der dickste Mantel nur noch wenig.

Über den Bahnsteig verstreut standen massenhaft russische Frauen, eingehüllt in schäbigen Lumpen, die allesamt diverse Speisen und Getränke anboten. Von allen Seiten kamen sie auf die Männer zu und redeten in gebrochenem Deutsch auf sie ein. Es war zu spüren, dass jede dieser Frauen unbedingt etwas verkaufen wollte, da es wohl die einzige Möglichkeit für sie war, etwas Geld zu verdienen.

Andi und Roland entfernten sich ein paar Schritte von dem regen Treiben am Bahnsteig und suchten Schutz vor der Kälte in der kleinen Wartehalle des Bahnhofs. Die wenigen Zivilisten, die sich auch darin befanden, warfen verachtende Blicke auf die uniformierten Männer. Roland spürte erstmals, dass sie hier alles andere als erwünscht waren.

Nach einer Stunde wurde die Fahrt fortgesetzt und ein Ende der Reise war in Aussicht. Essensrationen und Ausrüstung wurden ausgegeben und Einteilungen getroffen. Roland und seine drei Kameraden wurden dem Jäger-Regiment 54 der 100. Jäger-Division zugeteilt, welches in den kommenden Wochen neu aufgestellt werden sollte. Somit waren sie auch Bestandteil der mächtigen 6. Armee. Alle weiteren Informationen sollten am Endbahnhof folgen. Es wurde durchgegeben, dass dieser noch eine weitere Stunde Fahrt entfernt lag.

Nun wuchs die Anspannung unter den jungen Männern. Alles wurde gepackt, um die Abmarschbereitschaft herzustellen. Fast dreißig Kilo hatte jeder Mann zu tragen. Die dünnen Riemen des Rucksacks schnitten sich durch die große Last tief in die Schultern der Soldaten. Bereit zum Ausstieg standen die jungen Männer am Gang, während der Zug in den Bahnhof von Rossosch einfuhr.

Die Stadt glich einem Trümmerfeld. Kaum ein Gebäude war von Fliegerbomben und Artilleriegeschützen verschont geblieben. Provisorische Lager und Lazarette säumten das Umfeld des Bahnhofs. Zahlreiche Einheiten und Verbände marschierten umher. Unter ihnen bemerkte Roland einige, die die Spuren des Kampfes am eigenen Leib trugen. Manche hatten Bandagen, anderen fehlte gar ein Arm oder ein Bein. Ihre Uniformen waren schmutzig und sie alle wirkten gezeichnet von zehrenden Strapazen. Bei diesem Anblick lief es so manchem Neuankömmling kalt über den Rücken.

Unter den soeben Eingetroffenen herrschte ein reges Durcheinander. Ein paar Ranghöhere versuchten sich in dem Tumult einen Überblick zu verschaffen und schrien umher. Es dauerte einige Zeit, bis wieder Ordnung herrschte und alle in Reih und Glied angetreten standen. Die Atmosphäre blieb angespannt. Um nicht noch mehr Zeit am Bahnhof zu vergeuden, wurde die Zuteilung in Züge und Gruppen sehr rasch durchgeführt. Getrennt wurden die Soldaten dabei offenbar auch nach Ort und Zeit der Ausbildung und so meinte es das Schicksal gut mit den vier Österreichern, die zusammenbleiben konnten. Sie wurden einer Gruppe zugeteilt, die unter dem Kommando eines gewissen Oberfeldwebels Schmied stand.

Auf den ersten Blick wirkte der Vorgesetzte angsteinflößend. Dies lag einerseits an seiner enormen Größe, andererseits daran, dass er äußert mitgenommen vom Dienst an der Front aussah. Seine Uniform war nicht mehr neu und ebenso wie seine Schuhe notdürftig zusammengeflickt. In seinem ungewaschenen Gesicht stand ein Dreitagebart, in dem sich auch schon ein paar graue Haare befanden. Dunkle Ringe unter seinen Augen ließen erahnen, dass er in letzter Zeit nicht sehr viel Schlaf abbekommen hatte.

Müden Schrittes führte er die Gruppe aus dem Bahnhof hinaus zu einer alten Lagerhalle, die zu einem Schlaflager umfunktioniert worden war. Hier sollten sich die Neuankömmlinge für die erste Nacht niederlassen. Alle weiteren Instruktionen sollten bei Tagesanbruch folgen. Roland suchte sich die erstbeste Pritsche, die einen halbwegs intakten Eindruck machte und ließ an Ort und Stelle seinen schweren Rucksack vom Rücken gleiten. Er zog sich lediglich die Schuhe aus und kroch mit der übrigen Uniform am Leib unter die kratzende Decke. Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis ihm warm wurde. In dieser Nacht war er viel zu müde, um noch weiter über seine momentane Situation nachzudenken. Es galt nun, der Kälte zu trotzen und noch ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen, ehe die Reise ins Ungewisse weitergehen sollte.

Krieg und Freundschaft

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