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ОглавлениеNach kurzem, unbequemem Schlaf erwachte Roland bei Sonnenaufgang, irgendwo auf dem Weg nach Frankfurt. Zu dem mulmigen Gefühl in seiner Magengrube gesellte sich ein unangenehmes Ziehen im Rücken, bedingt durch die enge und ungewohnte Schlafposition und so verließ er umgehend das Abteil, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Im Zwischenbereich zweier Waggons schnappte er frische Luft, die ihn gänzlich wach werden ließ und ihn in die Realität zurückwarf.
»Es war also doch kein Albtraum«, dachte er sich und kehrte mit gesenktem Haupt ins Abteil zurück. Auch die anderen Insassen waren bereits wach.
»Jetzt müssten wir dann bald da sein«, meinte ein Schicksalsgenosse mit brünetten, gelockten Haaren und blauen Augen, dessen Name Roland entfallen war.
»Und woher willst du das wissen, Zwingler?«, fragte Kainz mit misstrauischem Unterton.
»Ich bin schon einmal hier gewesen. Mein Vater ist bei der Partei und er hat mich letztes Jahr für ein paar Tage mit nach Deutschland genommen. Da sind wir auch Frankfurt gewesen.«
»Noch so ein Wichtigtuer, der meint, er wäre was Besseres, weil sein Vater Mitglied bei diesem Verein ist«, dachte sich Roland im Stillen und sah dabei Andi an, der wohl genau das Gleiche empfand.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt erreichte der Zug schließlich Frankfurt am Main. Als Roland ausstieg, staunte er nicht schlecht über den riesigen Bahnhof und die Menge an Zügen. Etwas Vergleichbares hatte er noch nicht gesehen. Ein uniformierter Mann mit strengem Blick erwartete die sechs Ankömmlinge bereits und führte sie aus dem Bahnhofsgebäude. Mit einem Bus setzte die Gruppe ihre Reise fort. Sie erreichten den Stadtrand und fuhren an einer langen, kahlen Mauer vorbei, die mit Stacheldraht gesichert war. Roland hatte das ungute Gefühl, dass dies das Ziel ihrer Reise sein würde und er sollte Recht behalten.
An zwei Wachposten vorbei gelangten sie in den Innenhof einer Kaserne, die mehr einem Gefängnis glich. Soldaten mit den unterschiedlichsten Abzeichen waren zu sehen, Panzer und Geschütze standen in Reihen aufgestellt, uniformierte Gruppen marschierten umher. Es war, als wären sie in einer anderen Welt gelandet. Soldaten hatte Roland bisher lediglich in Zeitungen oder vereinzelt auch im Dorf gesehen, aber sie so konzentriert und nah anzutreffen, machte seine Lage auf eine angsteinflößende Art noch ein Stück realer.
Die sechs stiegen aus und stellten sich in einer Reihe auf. Kurze Zeit später kam ein großgewachsener Mann auf sie zu und musterte die jungen Männer eingehend mit scharfem Blick. Er ging ein paar Mal vor ihnen auf und ab, ohne dabei ein Wort zu verlieren.
»So, meine Herren«, gab er plötzlich, in einem Roland nicht vertrauten Dialekt, von sich, als er sich erneut vor die Gruppe stellte und Haltung annahm, »Sie sind hier, um als Soldaten ausgebildet zu werden. Während der nächsten acht Wochen werden Sie zu echten, deutschen Männern geformt. Ich erwarte von Ihnen vollsten Gehorsam und eiserne Disziplin. Sie sind erwachsene Männer, also verhalten Sie sich auch so. Sie werden einer Ausbildungskompanie zugeteilt, doch zu Beginn fassen Sie erstmals Ihre Ausrüstung aus. Dazu folgen Sie mir.«
Alles ging furchtbar schnell. Roland war müde und erledigt von der langen Zugfahrt. Er fand sich an diesem Ort nicht zurecht. Sämtliche Eindrücke waren ihm fremd. Lediglich die Anwesenheit Andis bestätigte ihm, dass er in keiner anderen Welt gelandet war. Nicht einmal Zeit zum Nachdenken bot sich ihm, da sie bereits die Ausrüstungskammer erreicht hatten.
Jeder Neuankömmling erhielt als Allererstes ein großes Leintuch, welches am Boden ausgebreitet werden sollte. Danach wurden sämtliche Utensilien einzeln ausgegeben. Vom Mantel bis zur Unterhose füllte sich das Leintuch allmählich mit Uniformteilen. Weiter ging es mit Stiefeln, Gürtel und Helm sowie einem Rucksack, einer Gasmaske und vielen fremdartigen Taschen und Geräten. Dazu gesellten sich dutzende weitere Gerätschaften und Kleinteile, denen Roland vorerst keinen eindeutigen Zweck zuweisen konnte. Zu guter Letzt bezogen die angehenden Soldaten ihr Gewehr.
Es war für Roland ein beunruhigendes Gefühl, wenige Augenblicke nach dem Eintreffen in der Kaserne bereits eine echte Waffe in Händen zu halten. Viel Zeit darüber nachzudenken blieb ihm aber ohnehin nicht. In einem nächsten Schritt sollten sie alle schweren Ausrüstungsgegenstände im Rucksack verstauen. Die Waffe wurde um den Hals getragen und wirkte nicht nur durch ihr Gewicht und den einschneidenden Riemen als ungewohnte Belastung.
Alles, was jetzt noch übrigblieb, wurde mithilfe des Leintuchs geschultert. So marschierte der Tross mit etwa vierzig Kilogramm Ausrüstung pro Mann wieder zurück zum Ausgangsplatz.
Kurze Zeit später fanden sich die sechs Österreicher gemeinsam mit zehn anderen in einem ihnen zugeteilten Zimmer wieder. Der Raum war nicht besonders schön und sehr schlicht ausgestattet. Geschlafen wurde in einfachen Stockbetten, getrennt durch jeweils zwei schmale Spinde. In der Mitte des Zimmers befand sich ein langer Tisch mit sechszehn beigestellten Holzstühlen. Ansonsten gab es, außer vier Fenstern und einem Spiegel neben der Tür, nichts Besonderes zu entdecken.
Die jungen Männer hatten nun etwas Zeit, ihre Unterkünfte zu beziehen. Genau nach vorgegebenem Plan mussten die Spinde eingeräumt und das Bett überzogen werden.
»Ab heute sind Sie Soldaten«, wurde ihnen noch auf dem Weg in die Unterkunft mitgegeben.
Roland hörte diese Worte immer und immer wieder in seinem Kopf nachhallen. Er fühlte sich nicht wie ein Soldat und er wollte auch keiner sein. Diese Rolle hatte er sich nicht ausgesucht, sie war ihm aufgezwungen worden und er musste nun damit leben. Im Zimmer hatte er sich ein Bett am Fenster ausgesucht. Andi bezog das Bett über ihm. Feinsäuberlich räumten die jungen Soldaten ihre Spinde ein. Die Betten wurden wie angeordnet überzogen, sodass ein Leintuch die bescheidene Matratze bespannte. Ein zweites musste exakt eine Handbreit über das Kopfende der darübergelegten Felddecke geschlagen werden.
Derweil die jungen Männer damit beschäftigt waren, ihre Hemden und Hosen peinlich genau zusammenzulegen, betrat ein junger Soldat den Raum. An seinem strammen Auftreten war keinerlei Makel erkennbar, doch wirkte er nicht wie alle anderen Soldaten, die Roland bisher gesehen hatte. Sein Gesicht war nicht so kalt und eisern, sondern strahlte Menschlichkeit und Vertrauen aus. Im Zimmer war es plötzlich still geworden. Alle Blicke richteten sich zur Tür.
»Guten Tag, meine Herren. Mein Name ist Leutnant Huber und ich bin dieser Gruppe als Kommandant zugeteilt. Mir ist bewusst, dass alles hier für Sie noch neu und ungewohnt ist, aber Sie werden sich schnell an das Soldatenleben gewöhnen. Sie erhalten von mir jetzt Ihre Erkennungsmarken. Diese sind immer um den Hals zu tragen.«
Er ging herum und teilte die kleinen Stahlplättchen aus, die in der Mitte vorgestanzt waren, um sie im Todesfall brechen zu können. Dabei verblieb eine Hälfte um den Hals des gefallenen Soldaten, die andere wurde in die Heimat gesandt. Roland fühlte sich wie ein gebrandmarktes Tier, als er das erste Mal die kalte Marke an seiner Brust spürte. Wie ein Werkzeug wurde er nummeriert und stand zur Verwendung bereit. Nun war er endgültig ein Teil der Masse geworden, dachte er sich im Stillen, während er abermals versuchte, ein graues Feldhemd auf die exakte Größe eines Blattes Papier zusammenzufalten.
»Nachdem Sie alles eingeräumt haben, ziehen Sie sich Ihre Uniform an und warten Sie hier auf weitere Befehle«, ergänzte der junge Leutnant, ehe er den Raum verließ.
»Hast du eine Ahnung, was ich von diesem Zeug alles anziehen soll?«, fragte Andi Roland, nachdem er seinen Bestand an Kleidungsstücken ausgiebig gemustert hatte. Roland schüttelte ratlos den Kopf.
»Wartet Jungs, ich helfe euch«, meldete sich ein Kamerad, den Roland noch nicht bemerkt hatte, mit hochdeutschem Akzent.
»Mein Bruder ist auch beim Militär. Ich habe schon oft gesehen, wie man so eine Uniform richtig anzieht.«
Fertig eingekleidet sah sich Roland im Spiegel an. Er erkannte sich nicht wieder, so wie er jetzt aussah. Auch wenn die Uniform nicht sehr bequem saß und die Schuhe drückten, fühlte er sich in diesem Aufzug doch unweigerlich etwas stärker als zuvor. Fast automatisch hob sich das Kinn und die Brust schwoll an.
Als die gesamte Mannschaft des Zimmers fertig umgezogen war, gab dies ein durchaus stolzes Bild ab, wie es die meisten der Frischlinge, wie sie genannt wurden, sonst nur aus der Wochenschau kannten. Die Einheitlichkeit der Uniformen verlieh den jungen Männern ungeahnte Stärke. Ein beinahe unheimliches Gefühl plötzlicher Macht schien sich mit der Uniform auf die angehenden Soldaten zu übertragen. Roland und Andi musterten sich gegenseitig und staunten nicht schlecht über diese plötzliche Verwandlung.
Viel Zeit dazu hatten sie jedoch nicht, da sie wenige Augenblicke später auf den Innenhof der Kaserne bestellt wurden. Dutzende frisch eingekleidete Neuankömmlinge säumten den Antreteplatz vor dem Kompaniegebäude. Es herrschte keine Ordnung, alle standen wild verstreut umher und tauschten ratlose Blicke aus. Der junge Leutnant, der Roland bereits vertraut war, rief seine Gruppe zu sich. Ebenso taten es ihm andere Höherrangige gleich, bis sich auf dem Platz verteilt kleine Ansammlungen geformt hatten. Rasch versuchten einige Kommandeure, Ordnung in den Haufen zu bringen und die frischen Kräfte in Einheiten zu gliedern. Roland und seine Zimmerkameraden bildeten die dritte Gruppe im ersten Zug. So verhieß es ihnen der junge Leutnant, der trotz des Trubels Ruhe und Sicherheit ausstrahlte. Der Größe nach stellten sie sich nebeneinander auf. Roland fand sich neben Markus Moser und Matthias Hartl ein.
Eine ganze Weile verharrten sie in dieser Position, bis sich schließlich alle Züge ordentlich formiert hatten. Anschließend sprach ein bisher unbekannter Mann zu ihnen:
»Guten Tag, erste Kompanie! Ich begrüße Sie hier in Frankfurt. Manche von Ihnen haben eine weite Reise hinter sich und befinden sich nun weit entfernt von der vertrauten Heimat. Für die nächsten zehn Wochen wird dies hier Ihr Zuhause sein. Ihre Ausbildner haben Sie bereits kennengelernt. Sie werden Ihnen alles beibringen, was Sie als Soldat können und wissen müssen. Mein Name ist Hauptmann Schaller und ich befehlige diese Kompanie mit ihren drei Zügen. Ich erwarte von Ihnen, solange Sie unter meinem Kommando stehen, vollste Disziplin und Hingabe. Strengen Sie sich an, meine Herren, denn alles was Sie hier lernen, kann und wird Ihnen später von größtem Nutzen sein. Wie Sie wissen, befindet sich unser Land im Krieg und auch Sie werden ihr Möglichstes dazu beitragen, dass daraus der Endsieg hervorgeht.«
Plötzlich verkrampfte sich etwas in Rolands Magengrube, als er daran erinnert wurde, wieso sie eigentlich hier waren.
»Nach dieser Ausbildung geht es an die Front«, dachte er sich, »dort wo die Verlierer sterben und es keine Gewinner gibt.«
Er hörte dem Hauptmann überhaupt nicht mehr zu. Schmerzende Angst durchbohrte seinen Körper. Es gab kein Entfliehen, keinen Ausweg aus dieser unheilbringenden Situation. Andere konnten ihren Einsatz wohl kaum erwarten. Viele wirkten sichtlich heiß auf ein Abenteuer, weit weg von der Heimat, um als Helden zurückzukehren. Gleich dem Märchen, wie es Hitler Tag für Tag seinem Volk auftischte, wollten auch sie als tapfere Krieger und Sieger gefeiert und verehrt werden, so verriet es der stolze Glanz so mancher Augenpaare.
»Dritte Gruppe auf mein Kommando.«
Auf einmal stand der Leutnant vor ihnen. Roland hatte es nicht bemerkt, dass der Hauptmann aufgehört hatte zu sprechen und bereits verschwunden war.
»Rechts um«, setzte der Leutnant fort, »Reihe ohne Schritt, mir nach, Marsch!«
Die dritte Gruppe setzte sich in Bewegung. Ein paar Meter weiter vorne, erblickte Roland Andis Kopf.
»Hauptsache wir bleiben zusammen«, hoffte Roland, als er auf den blondgelockten Schopf starrte.
Die Einheit machte halt und richtete sich entlang einer Linie aus.
»Gleich heute beginnen Sie zu lernen, wie die wesentlichen Grundkenntnisse aussehen, über die Sie als Soldat verfügen müssen. Wir werden nun das Exerzieren üben und ich verlange dabei vollste Konzentration.«
Der Leutnant zeigte ein paar Mal das »Rechts um« und das »Links um« vor, ehe es die Gruppe auf Befehl nachmachte. Es funktionierte schon ganz gut, nur beim Marschieren gab es noch die ein oder anderen Schwierigkeiten. Außerdem wurde gelehrt, wie sich ein Soldat zu melden und wie er mit seinen Vorgesetzten zu sprechen hatte. Nach einer anstrengenden Lektion ging es dann im zuvor gelernten Gleichschritt zum Mittagessen.
Es kam Roland wie eine Ewigkeit vor, als er an seine letzte Mahlzeit zurückdachte. Trotzdem hatte er kaum Hunger. Er war bloß müde und erschöpft, auch wenn ihn die innere Anspannung wachhielt. Ständig wünschte er sich, endlich aus diesem Albtraum zu erwachen, doch es geschah nicht. Er zwang sich, ein paar Bissen zu essen, musste jedoch bald aufgrund großer Übelkeit aufgeben.
Der Nachmittag war gespickt mit neuerlichem Unterricht im Exerzieren. Zudem erklärte man ihnen die Funktionsweise ihrer Waffe, woraufhin diese mehrmals auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden musste. So ging es bis zehn Uhr nachts, ohne große Pausen. Erledigt und ausgelaugt fielen die jungen Männer nach Dienstschluss in ihre Betten. Diese waren unbequem und durchgelegen, aber das störte in diesem Moment niemanden.
Roland lag noch einige Zeit wach und dachte an daheim. Er vermisste seine Eltern und seine Geschwister. Er sehnte sich nach seinem vertrauten Umfeld, nach seinem Bett und vor allem nach Lilli. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Sein Kopf und seine Glieder schmerzten. Er klopfte zweimal leise an die Holzbretter über ihm, die Andis Matratze trugen:
»Gute Nacht, Andi.«
»Schlaf gut, Roland«, hallte es von oben zurück. Roland schloss seine Augen und atmete tief durch. Danach schlief er ein.