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ОглавлениеLange bevor sie geweckt wurden, waren die Soldaten der dritten Gruppe hellwach gewesen. Die eisige Kälte und die Angst vor dem Ungewissen verdrängten sämtliche Müdigkeit aus den noch kräftigen Körpern der frisch Angekommenen und eifrig wurden bereits mögliche Einsatzszenarien diskutiert. Für das Einnehmen des Frühstücks blieb nicht viel Zeit, auf umfangreiche Körperhygiene wurde gänzlich verzichtet. Ein langer Marsch lag an diesem Tag vor ihnen. Noch vor Sonnenaufgang ging es los. Rund dreihundert Männer marschierten schwer bepackt durch den knirschenden Schnee. Der lebhafte Wind peitschte von der Seite in die ungeschützten Gesichter der jungen Männer. Mit aufgestelltem Kragen und umgebundenen Tüchern konnte man sich etwas Abhilfe verschaffen, doch die Natur trotzte den Soldaten bereits vom ersten Schritt auf russischem Boden alles ab.
Schnell wurde Roland klar, dass dies ein ganz anderes Szenario darstellte, als sie es in der Kaserne gelernt und geübt hatten. Die ersten Eindrücke, die er seit seiner Ankunft gesammelt hatte, bestätigten ihn in der Annahme, dass hier nicht mehr so viel Wert auf Kleinigkeiten gelegt wurde. Es ging schier ums nackte Überleben.
Die fahle Landschaft hatte, außer einer Menge Schnee, nicht viel zu bieten. So weit das Auge reichte, war es flach, kein einziger Berg erhob sich am Horizont. Roland starrte unentwegt auf die Beine seines Vordermannes. Der monotone Ablauf ermüdete ihn, doch die Kälte tat ihr Bestes, damit Roland wach blieb.
Beim Einnehmen der Mittagsration wurden die neu zusammengewürfelten Kameraden gesprächiger. Es waren hauptsächlich Deutsche, die diesem Zug angehörten. Auch der Gruppenführer Schmied war Deutscher. Seit fast einem Jahr war er hier an der Front bereits im Einsatz. Ein paar Tage zuvor hatte man ihm seinen lang ersehnten Heimaturlaub gestrichen, weshalb mit ihm an diesem Tag nicht gut Kirschen essen war.
Der weitere Weg führte sie in ein kleines, von der Wehrmacht besetztes Dorf. Spätabends kamen die Soldaten erschöpft und unterkühlt in dem Örtchen an. Gruppenweise teilten sie sich auf die wenigen intakt gebliebenen Häuser auf. Als Roland und die übrigen Kameraden der zweiten Gruppe ihre zugeteilte Unterkunft betraten, zog ihnen ein Schwall warmer Luft entgegen und es roch nach gekochtem Essen. Andere Kameraden waren bereits seit ein paar Tagen hier und hatten die Bevölkerung in ein paar Gebäuden zusammengetrieben und die übrigen für die Ankunft des neuen Zuges vorbereitet.
Nach einer ordentlichen Portion Gulasch aus dem Feldgeschirr, ließ der Zugskommandant noch einmal zu einer Befehlsausgabe am Dorfplatz antreten. Die Sonne war schon längst am Horizont verschwunden. Temperaturen weit unter minus dreißig Grad machten das Atmen schwer. Die Ansprache fiel kurz und prägnant aus. Von nun an herrschte Krieg und es war jederzeit mit Kampfhandlungen zu rechnen. Anspannung lag in der Luft, da niemand genau wusste, wo es nun hinging und was die kommende Zeit bringen sollte.
Die nächsten Tage verbrachte der Zug in diesem Dorf, bis die restlichen Truppen eingetroffen waren und der Nachschub funktionierte. Roland nutzte die Zeit, um sich mit Kameraden zu unterhalten und er lauschte vielen interessanten Erzählungen, die unter bereits länger Dienenden ausgetauscht wurden. Die Gemeinschaft hier war anders als jene bei der Grundausbildung. Der Zug bestand aus Männern verschiedenster Generation. Die Frischlinge, wie die neu Eingezogenen genannt wurden, schauten sich von Beginn an etwas von den Älteren ab. Viele von ihnen hatten bereits Kampferfahrungen gesammelt und stießen mit ihren Berichten von der Front bei den Neuankömmlingen auf hellhörige Ohren.
Roland nutzte die Wartezeit außerdem, um Briefe in die Heimat zu schicken und auch Andi schrieb seinem Vater. Als die beiden eines Abends vor einem bescheidenen Feuer beisammen saßen, ergriff Roland die Gelegenheit, um Andi von der Schwangerschaft Lillis zu erzählen. Er wollte es ursprünglich noch eine Weile für sich behalten, doch er hatte das dringende Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen und wer würde sich dafür besser eignen als sein bester Freund.
Dieser nahm die Neuigkeit mit großer Überraschung auf. Nachdem sie einige Zeit damit zugebracht hatten, die Situation zu analysieren, meinte Andi entschlossen, er wolle der Taufpate werden. Roland hätte sich keinen Geeigneteren wünschen können und auch Lilli würde mit dieser Wahl überaus zufrieden sein. Roland war froh, die Neuigkeit endlich mit jemandem teilen zu können und die Last, die er seit Empfang der Neuigkeit empfand, war soeben erheblich leichter geworden.
»Noch ein Grund mehr, für den es sich zu kämpfen lohnt, um wieder nach Hause zu kommen«, merkte Andi an.
Im Laufe der Zeit breitete sich allmählich Unruhe im Lager aus, da niemand wusste, wie es nun weitergehen sollte. Mittlerweile befand sich eine gesamte Kompanie in dem Dorf. Von etwaigen Russen gab es bisher keine Lebenszeichen.
»Der Iwan schlägt überraschend und genau dort zu, wo du es am wenigsten erwartest«, prophezeiten indessen viele der älteren Soldaten.
Fast jeden Abend saßen Roland und einige seiner gleichaltrigen Kameraden versammelt in der Stube und lauschten ähnlichen Weisheiten. Roland hörte mit großem Interesse den kampferprobten Soldaten zu. Es waren Erfahrungen, die in keinem Lehrbuch standen und die einem durchaus nützlich sein konnten.
Jede Nacht vor dem Einschlafen sah Roland seine Heimat vor Augen, die nun tausende Kilometer weit entfernt lag. Er hatte das Gefühl, als wüchse die Distanz von Tag zu Tag, doch er war sich stets sicher, dass er wieder heimkehren würde.