Читать книгу 10 bewegende Romane Sommer 2021: Roman Paket Liebe und Schicksale 7/2021 - Thomas West - Страница 11
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ОглавлениеRoswitha war das letzte Stück des Weges zu Fuß gegangen, hatte ihren Wagen vorn am Dorfeingang stehen lassen und erreichte nun den Marktplatz.
Sie stand im Schatten und lauschte dem Gesang der Gemeinde, der jetzt, begleitet vom Orgelspiel, aus der Kirche herausdrang, und dieses Bild des Sonntagsfriedens, der über St. Hildegard lag, nur unterstrich. Drüben an der Kirche scharrten ein paar Hühner, weiter links marschierte eine Ente, gefolgt von sechs Jungen, auf den Dorfweiher zu.
Die junge und sehr hübsche Dunkelhaarige in heller Bluse und dunklem Faltenrock blickte durch die Gassen hinüber zu den noch immer schneebedeckten Bergriesen, die das Tal säumten.
Sie kannte die Namen alle. Drüben im Nordwesten der Glemmer, ein Dreitausender wie sein Nachbar zur Linken, der Pilzkogel, und ein Stück weiter, nicht ganz so hoch, die Kalkspitz Alpe. Darüber wölbte sich die Kuppel des azurblauen Himmels, nur weiter im Norden durch die hauchdünnen Schleier zweier Föhnwolken unterbrochen.
Nach zwölf Jahren der Abwesenheit war. Roswitha Lienzer wiedergekommen, zurück in das Tal, zurück in die Heimat.
Und sie war überzeugt davon, dass sie das Tal nie mehr verlassen würde. Ebenso überzeugt wie von ihrem nahen Tod.
Jetzt, wo sie an das scheinbar Unabänderliche dachte, spürte sie auch das Herzklopfen wieder, empfand diese schwäche, die in der letzten Zeit immer häufiger gekommen war und entsann sich der Worte ihres New Yorker Arztes, die sie wie ein Todesurteil empfand.
Ich bin daheim, dachte sie. Aber bin ich es wirklich? Die Eltern leben nicht mehr. Nur die Tante ist noch da, die beim Pfarrer als Haushälterin arbeitet. Eigentlich war sie sogar ihre Großtante.
Und dann wäre noch Tante Johanna gewesen, die Roswitha eigentlich auch sehr mochte. Nur hatte die einen reichen Bauern zum Mann, und den hatte Roswitha schon als Kind nie leiden können, diesen herrschsüchtigen, cholerischen Anton Kemmelmeier, der alle, die schwächer waren als er, seine Macht spüren ließ.
Am meisten aber freute sich Roswitha auf das Wiedersehen mit einem Menschen, dem sie damals vor einem Dutzend Jahren anlässlich des Begräbnisses ihrer Mutter nähergekommen war, obgleich sie ihn schon als Kind gekannt hatte.
Sie mochte es sich selbst kaum zugeben. Aber im Grunde war die Rückkehr hierher nur seinetwegen geschehen. Sie wusste nicht einmal, ob er noch hier lebte. Aber sie hoffte es.
Sie hoffte es so sehr, wie sie das Gesicht von Timo nie vergessen hatte. Ein Dutzend Jahre lang nicht.
Langsam überquerte sie den sonnenüberfluteten Platz und ging direkt auf das Pfarrhaus zu. Sie war sicher, dass Tante Sopherl nicht am Gottesdienst teilnahm. Sie hatte bestimmt, wie früher schon, die Frühmesse besucht und bereitete jetzt das Mittagsmahl für den Pfarrer vor, denn sie war ja seine Haushälterin.
Der Geruch von duftendem Braten drang Roswitha in die Nase. Sie brauchte nur diesem Geruch zu folgen. Unverwechselbar. Sie kannte keine bessere Köchin als Tante Sopherl. In Amerika hatte sie so manches Mal von den herrlichen Gerichten Tante Sopherls geträumt.
Und dann hörte sie das Geklapper aus der Küche. Die Fenster standen offen. Und sie beschloss, nicht an der Tür zu schellen, sondern um das Haus herumzugehen zum offenen Fenster der Küche hin, in die man hineinschauen konnte.
Aus einem Blumenkasten im Küchenfenster grünten Gewürze. Es hatte sich auch da nichts geändert. Und sie hörte das Summen einer Frauenstimme. Sie summte die Choräle, die von der Kirche herüberschallten, mit.
Und dann stand Roswitha am Fenster, schaute zwischen den grünenden Gewürzen hindurch in die Küche hinein und sah Tante Sopherl. Sie war ein wenig runzliger, ein wenig grauer geworden, und doch schien auch sie sich kaum verändert zu haben. Im Augenblick schnitt sie etwas auf einem Brett. Hurtig, wie früher schon, bewegten sich ihre Hände.
„Tante Sopherl“, sagte Roswitha mit gedämpfter Stimme.
Die alte Frau hielt sofort in der Bewegung inne und lauschte, ohne zum Fenster zu blicken. Dann aber richtete sie sich ein wenig auf, schaute zu Roswitha herüber und erkannte sie sofort, obgleich doch so viele Jahre dazwischen lagen. Damals war Roswitha neunzehn gewesen, hatte noch ihr langes Haar gehabt, dass sie meist zu Zöpfen flocht.
„Ja, da schau her!“, rief Tante Sopherl und legte das Messer beiseite, wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Roswitha!“, rief sie. „Gell, du bist’s?“
„Ja, Tante Sopherl, ich bin’s.“
„Ja, sag Madel, wo kommst her? Ist das eine Freud!“
Da war Tante Sopherl schon am Fenster. Sie strahlte vor Freude, und so trübe die Gedanken von Roswitha bis vorhin noch gewesen waren, jetzt konnte sie gar nicht anders. Sie freute sich ebenfalls, die geliebte Tante wiederzusehen.
„Dass du den Weg zu uns findst, das hätte ich nie nimmer gedacht. Bist allein hier?“
Roswitha nickte. „Ja, Tant, allein. Ich möcht auch keine Umständ nicht machen. Nur Grüß Gott wollte ich dir sagen.“
„Ja, Grüß Gott, mein Kind. Nun komm herein. Was stehst da draußen? Gut schaugst aus, Madel. Dass ich dich noch einmal seh? Da wird er Augen machen, unser Herr Pfarrer, wenn er dich sieht. Wart nur, bald schon ist die Messe vorbei. Aber dann geht er meist noch ins Wirtshaus. Aber wenn Mittagszeit ist, dann kommt er dann. Nur gut, dass ich mehr gemacht hab heut. Für dich reicht’s mit.“
„O Tant, ich ess nicht viel.“
„Magst net, oder kannst net?“, fragte das Sopherl.
„Ich mag net.“
„Ein Braten vom Rosenspitz ist’s. Da wirst schlecken. Hochwürden red allweil am Samstag von nix anderm.“
„Wie schaut er denn jetzt aus, der Herr Pfarrer?“, erkundigte sich Roswitha.
Sopherl lachte. „Allweil dicker ist er worden. Es schmeckt ihm halt so gut. Aber es gibt schon Tag, da steigt er auf die Berg, und da macht ihm kein Junger was vor. Höchstens der Ferdl-Doktor.“
„Der Ferdl-Doktor? Wer ist das?“
„Ja, weißt nicht, Madel, dass die Talsperre oben, wo Mühlauer gewesen ist, gebaut wird?“
„Mühlauer ist nimmer?“, fragte Roswitha.
Das Sopherl schüttelte seinen grauen Kopf. „Nein. Eine Talsperre haben sie baut. Noch net fertig ist’s. Aber nächstes Jahr wird’s fertig sein. Fürs Elektrische ist das, weißt. Und eine Menge Leut schaffen da droben. Fremde eben. Auch Welsche sind dabei. Nur der Ferdl-Doktor, den musst doch kennen, den Dammeier. Erinnerst dich net?“
„Der Bub von den Wagners Leuten?“
Sopherl nickte. „Ja, vom Wagner der Bub. Doktor ist er. Der ist damals schon früh weg. Ein studierter Bub ist das. Ein guter Doktor. Ein Glück für das Tal, daß er jetzt hier ist. Eigentlich ist er ja nur für die Bauleut kommen. Aber nun hat er zusammen mit dem Bürgermeister durchgesetzt, dass die Krankenstation auch für die Leut vom Tal is. Weißt, hier hat’s nie einen richtigen Doktor gehabt. Viele von die Leut sind zur Tränkl-Jule gegangen. Die kennst doch noch?“
„O ja, Tant. Die Tränkl-Jule kenn ich. Ist die auch noch am Leben?“
„Natürlich. Und weißt, es ist eine Hetz. Aber der Ferdl-Doktor und die Tränkl-Jule, die streiten gar net. Nur der andere Doktor, der Fellau. Weißt, das ist ein Chirurg, für die Unfälle ist er eben da. Aber der mag die Tränkl-Jule net. Ein Kräuterweibel ist's, hat er gesagt. Na ja, und es ist ja auch richtig. Aber sie weiß viel von den Kräutern, weißt. Sogar Hochwürden sagt, dass sie ein Gspür für die Kräuter hat. Sie helfen net allweil, aber bei mancher Sach schwör ich auf die Tränkl-Jule, auch wenn Hochwürden sagt, dass viel Larifari dabei ist.“
„Und Aberglauben“, meinte Roswitha lachend.
„Das darfst net so laut sagen. Wenn die Tränkl-Jule das hört, wird sie fuchtig.“
Roswitha wollte etwas sagen, aber da entdeckte Sopherl, dass der Braten gedreht werden musste. „O je“, rief sie, „jetzt muss ich gschwind den Braten wenden. Wennst willst, Madel, mach mir den Salat zurecht. Das wirst doch können?“
„Freilich kann ich das, Tant.“
Und Roswitha kam sich die nächsten zwanzig Minuten vor wie früher, wenn sie als Kind oder als junges Mädchen zur Tante gekommen war. Die hatte sie jedes Mal eingespannt zum Helfen in der Küche oder zum Obstpflücken. Aber es hatte immer Spaß gemacht. Eigentlich mehr Spaß als daheim. Der Vater war lange krank gewesen. Nach seinem Tod hatte auch die Mutter lange leiden müssen, bis sie erlöst worden war. Mit Hilfe eines Stipendiums hatte Roswitha erst ein Internat und später ein Konservatorium besuchen können.
Die Tante stellte Fragen, wollte wissen, was denn Roswitha all die Jahre getrieben hatte. Offenbar kamen die Nachrichten aus der weiten Welt nur sehr spärlich ins Rudeggertal, sonst hätte die Tante wissen müssen, dass aus dem kleinen Mädchen aus dem Kirchenchor draußen in dieser fernen Welt eine berühmte Sopranistin geworden war, die zuletzt sogar in der berühmten Met, der Metropolitan Opera in New York, gesungen hatte ... bis zum totalen Zusammenbruch vor vier Monaten.
Seitdem war Roswitha nicht mehr aufgetreten.
Aber daran dachte sie jetzt nicht. Ihre Gedanken konzentrierten sich auf Timo. Sie wusste nur nicht, wie sie nach ihm fragen sollte. Die Tante, daran erinnerte sie sich gut, konnte sehr hellhörig sein und reimte sich zwei und zwei zusammen.
Aber schließlich fasste sich Roswitha ein Herz und fragte: „Was ist aus dem Timo geworden?“
„Welchen Timo meinst?“, fragte das Sopherl. „Den Knecht vom Wallbergbauer?“
„Nein, den nicht.“
„Ach, den Verwalter vom Grafen meinst, den Veith Timo.“
„Genau den, Tant.“ Roswitha blickte die Tante gespannt an. Aber die würzte erst einmal die Soße, kostete, und als sie zufrieden den Löffel beiseite legte und sich der Vorbereitung zum Dessert zuwandte, da sagte sie:
„Ja, der Veith. Er ist immer noch beim Grafen. Wanns das Heu auf der Schwerdtner Alp machen, dann wird er wieder hier sein. Aber sonst ist er drunt im Innsbruckschen, da hat der Graf sein großes Gut. Das weißt du doch.“
„Ja, ich weiß. Kommt er nimmer herauf? Nur zur Heumahd?“
„Gewiss, zur Heumahd, da kommt er ins Tal. Aber sonst ist er drunt auf dem Gut. Den Graf kümmerts Gut nimmer. Das macht der Veith jetzt. Inspektor heißen sie ihn. Aber er ist nicht anders worden all die Zeit. Er ist noch immer so, wie er früher war.“
Eine ganz bestimmte Frage bedrängte Roswitha schon die ganze Zeit. Aber nun hatte sie doch Furcht, sie zu stellen. Denn da würde die Tante ganz sicher ahnen, warum Roswitha das wissen wollte. So zögerte sie und überlegte, wie sie es anstellen konnte, ganz unverfänglich danach zu fragen, ob der Timo verheiratet war oder nicht.
Ich sollte es nicht fragen, dachte sie. Bestimmt ist er verheiratet. Er ist damals ja schon ein Mann gewesen, wo die meisten eine Frau nehmen. Ende dreißig müsste er sein, der Timo. Ja richtig, zehn Jahre ist er älter als ich. Bestimmt hat er eine Frau. Vielleicht auch Kinder. Ich sollte wirklich nicht fragen. Aber dann kam ihr die Tante unbewusst zu Hilfe, indem sie sagte:
„Ein feiner Herr ist er worden, der Inspektor. Als sie abtrieben haben von den Almen im letzten Jahr, da ist er hier gewesen. Mastvieh hat er kauft. Der Ferdl-Doktor ist auch da gwesen. Und beim Dagi drüben haben die beiden und Hochwürden die ganze Nacht geredt. Und natürlich getrunken, bis in den Morgen. Hochwürden ist vom Dagi direkt zur Messe gangen. Und die beiden haben beim Dagi im Stadl gelegen und ihren Rausch ausgeschlafen. So ist’s, wenns keine Frau haben. Da könnens das machen. Ich, wenn ich ein Mannsbild hätt, das die ganze Nacht wie die drei redt und säuft, ich würd ihn schon heimholen und ihm was derzählen. Z’wegen die ganze Flasche nach der anderen vom Kälterer trinken, bis der Dagi keinen Tropfen mehr davon hat.“
Also ist er nicht verheiratet, dachte Roswitha erleichtert. Doch gleichzeitig sagte sie sich, dass es im Grunde ja gar keine Bedeutung hat. Für sie war doch sowieso alles vorbei.
„Hat er keine Frau?“
Sopherl schüttelte den Kopf. „Nein. Wird wohl die Richtige net gfunden haben. Jesses, jetzt läuts schon auf Mittag. Hochwürden wird gleich kommen. Madel, schaug, dass die Teller eini trägst.“
„Mach ich, Tant“, sagte Roswitha und blickte zum Fenster hinaus. Da sah sie einen breitschultrigen, aber doch schlanken Mann vorbeikommen. Sein Gesicht erinnerte sie sofort daran, wer er war, obgleich er die Jahre ebenfalls älter geworden war. Zwölf Jahre älter ...
Da war er schon vorbei, und Roswitha sagte: „Der Wagner Bub, ich meine, der Dammeier-Ferdl ist eben vorbeigangen.“
„Zu seine Leut wird er gehn. Alt sinds worden, die beiden. Nach der Messe schaut er immer nach ihnen, und sein Mutter kocht für ihn mit. Für die alten Leut ist es immer eine Freude, wenn der Bub bei ihnen ist.“
„Gut sieht er aus. Es ist lang her, dass ich ihn gesehn hab. Damals ist er noch ein Student gwesen“, erinnerte sich Roswitha.
„Und nun ist er der beste Doktor, der wo jemals im Tal gelebt hat“, stellte das Sopherl fest und fischte die Klöße aus dem großen Topf, um sie in die Schüssel zu tun.
„Wann wird denn in diesem Jahr Heumahd sein?“, erkundigte sich Roswitha.
„Unten am Bach“, sagte Sopherl, ohne in ihrer Tätigkeit innezuhalten, „habens schon die letzt Woch mit der Mahd angefangt. Aber droben auf den Almen und an der Schwerdtner Alp wirds gewiss noch gut zehn Tag dauern.“
Zehn Tage also, dachte Roswitha, bis ich den Timo wiedersehe. Hoffentlich halte ich durch ...