Читать книгу 10 bewegende Romane Sommer 2021: Roman Paket Liebe und Schicksale 7/2021 - Thomas West - Страница 14
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ОглавлениеHochwürden war das, was man allgemein als ein gestandenes Mannsbild bezeichnet. Eine Persönlichkeit zumal, die sich nicht nur darin verstand, die Messen zu lesen und Predigten zu halten. Er sah sich als Christ der Tat und fühlte sich nicht nur mit dem Land hier, sondern ganz besonders mit den Menschen im Tal verbunden. Er war einer der ihren, auch wenn er im Grunde gar nicht aus dem Rudeggertal stammte, aber niemand hätte ihm sich hier noch wegdenken können.
Groß und wuchtig saß der zweiundfünfzigjährige Pfarrer am Tisch, und in seinem Gesicht war vorhin schon bei der Begrüßung Roswithas die Sonne aufgegangen. Unter seinen buschigen blonden Augenbrauen leuchtete ein blaues Augenpaar, und mit Wohlgefallen schaute er Roswitha an.
Vorhin hatte sie ihn gebeten, doch wieder du zu sagen wie früher. Aber das wollte er nicht. Im Gegensatz zu den meisten hier im Tal wusste er, dass sie eine Berühmtheit geworden war, und er fand es wohl nicht richtig, sie einfach zu duzen.
Ganz unbewusst mühte er sich auch, Hochdeutsch zu sprechen, obgleich ihm doch klar war, dass Roswitha aus diesem Tale stammte.
Sie hatten diese meisterlich zubereitete Mahlzeit hinter sich, nur noch ein Schluck vom herrlichen Rotspon befand sich im Glas des Pfarrers. Und nun schmauchte er seine Pfeife. Der Tabakrauch kräuselte sich zur Decke. Hochwürden hatte sich zufrieden zurückgelehnt, die Welt um ihn herum war heil, und er freute sich darüber.
Sopherl, die Haushälterin werkelte schon wieder in der Küche draußen und hatte es sich nicht nehmen lassen, die beiden miteinander allein zu lassen, weil sie sich doch, wie sie meinte, gar so viel zu erzählen hätten.
Sehr bescheiden war in der bisherigen Unterhaltung von Roswithas Lebensweg die Rede gewesen. Allzu viel jedoch hatte sie nicht erzählt, schon gar nicht von dem Zusammenbruch vor vier Monaten und der Zeit danach. Darüber schwieg sie. Auch der Grund ihres Hierseins war noch nicht zur Sprache gebracht Worden.
Aber Kernmoser wollte es gern wissen. Es interessierte ihn, ob Roswitha länger bleiben wollte. Und außerdem hatte ihm Sopherl vorhin etwas vom Gutsinspektor Veith zugeraunt. So richtig war ihm noch nicht klargeworden, wie sie das wohl gemeint hatte.
Sich diese Klarheit zu beschaffen, fragte er nun:
„Und warum sind’S in die Heimat zurückgekommen?“
Roswitha lächelte. „Um wiederzusehen, wie’s einmal war, und weil ich mich hier wohlfühle.“
„Ja, wohl fühlt sich, so glaube ich, jeder hier. Für mich sind die Berge das Schönste. Und die Leut hier. Das ganze Land. Ich versteh’s schon, warum’S wiedergekommen sind. Werden’S denn länger bleiben?“
Roswitha zögerte mit der Antwort. Dann sagte sie: „Ich denk schon.“ Sie vermied es, Hochwürden dabei anzusehen, blickte auf ihre Fingerspitzen, und ihm entging nicht, wie nachdenklich sie das gesagt hatte. Aber er konnte sich keinen Reim darauf machen.
„Also, einen Urlaub, wenn ich’s richtig versteh.“
Wieder dauerte es ein paar Sekunden, ehe sie antwortete:
„Ja, so könnte man sagen.“
Er spürte ganz deutlich, dass da nicht alles so war, wie es sein sollte. Er konnte sich aber wirklich keinen Reim darauf machen, ergründete die Ursache nicht, brachte es aber andererseits nicht übers Herz, ihr neugierige Fragen zu stellen. Bei seinen Leuten hier, da tat er das schon zuweilen. Aber die Roswitha, die war doch irgendwie etwas anderes. Die hatte den Sprung nach draußen geschafft und Berühmtheit erlangt.
Er lächelte. „Wenn ich an die Leut im Tal denk, die wissen nix von dem, was Sie draußen geschafft haben, Roswitha.“
„Alles ist vergänglich, Hochwürden.“
„Mögen’S net für die Leut hier einmal singen? Die Kirche hat eine gute Akustik. Ein Sopran, wie der von Ihnen, der würde schön klingen. Und eine Freud für die Menschen im Tal wär’s schon.“
Sie sah ihn erschrocken an. Mit einem solchen Angebot hatte sie keine Sekunde gerechnet. Aber dann dachte sie: Vielleicht könnte ich doch irgendetwas singen, was nicht zu lange dauert, obgleich es mir der Arzt streng verboten hat. Nur ein einziges Lied.
„Vielleicht“, sagte sie schließlich ausweichend und hoffte, dass er nun auf ein anderes Thema kommen würde.
Das tat er auch. Aber seine Frage nun war ihr im Grunde noch mehr peinlich als die Aufforderung, in der Kirche zu singen. Obgleich er durchaus nicht neugierig sein wollte, bemerkte er:
„Ein schönes Madel waren’S ja früher schon, Roswitha. Haben’S denn draußen in der Welt keinen Mann net gfunden, der zu Ihnen gepasst hätt?“
„Zur Liebe gehören zwei, Hochwürden“, entgegnete Roswitha und lachte.
„Na, hier im Tal täten die Burschen sich derreißen für ein hübsches Madel wie Sie.“
Sie sagte gar nichts dazu und dachte an die Zeit in der Fremde. Die zwölf Jahre draußen, wo sie eine steile Karriere gemacht hatte.
Natürlich gab es Episoden, Liebeleien, aber die große Liebe ...? Nein, die große Liebe hat es nicht gegeben, oder es gab sie schon immer. Seit zwölf Jahren dachte Roswitha nur an einen Mann, diesen einen, den sie hier wiederzusehen hoffte.
Eine Erfüllung würde es nicht geben. Da war sie sicher. Aber nur noch einmal sehen in diesem Leben, das bald vorbei sein sollte, wenn die Ärzte recht hatten. Sie wollte mit ihm sprechen, ihn anschauen. Dafür, eigentlich nur dafür, war sie hergekommen. Diesen Wunsch, den hatte sie sich erfüllen wollen.
Sie würde noch drei Wochen warten müssen. Aber das mochte sie nicht. Sie wollte zu ihm fahren. Morgen schon vielleicht. Bestimmte Pläne gab es nicht für diese Fahrt. Sie konnte nicht mehr planen. Verpflichtungen hatte sie auch nicht mehr. Ihr Agent, der sie noch bis vorige Woche bestürmt hatte, doch wieder aufzutreten, tat ihr leid. Er wusste nicht, wie es um sie stand. Und sie meinte auch, er brauchte es nicht zu wissen.
Das, was auf sie zukam, ging nur sie selbst etwas an. Sie hatte niemand, dem sie verpflichtet gewesen wäre. Und mit dem einen, falls sie ihn wiedersah, würde es nichts weiter als ein Gespräch geben. Vielleicht sogar ein kurzes Gespräch. Das waren Dinge, die sie nicht voraussehen konnte und auch nicht wollte.
„Sie schaun so traurig drein, Roswitha. Haben’S Sorgen?“
Sie lächelte, schüttelte den Kopf und sah Pfarrer Kernmoser an. „Eigentlich nicht.“
Jeden anderen im Tal hätte er jetzt gefragt, ob er sich nicht bei einer Beichte erleichtern wollte. Aber hier ließ er es. Er dachte viel mehr an ihren Gesang und nahm sich vor, daraus ein richtiges Fest zu machen, wenn sie in der Kirche ihren glockenhellen Sopran erklingen ließ. Auch er hatte zwei Schallplatten von ihr. Aber das sagte er ihr nicht. Sie brauchte nicht zu erfahren, wie sehr er schöne Musik liebte. Das waren Dinge, die nur ihn selbst etwas angingen.
„Das Sopherl“, sagte Hochwürden, „hat noch eine Weile zu tun. Wollen’S mit mir ein wenig in den Garten gehn? Es ist herrlich da draußen. Die Bäume blühn. Die schönste Zeit vom Jahr.“
Sie nickte. Dann standen sie auf, gingen hinaus, schlenderten durch den großen Obstgarten der Pfarrei. Und sie bewunderte Blüten, roch, wie es duftete und lehnte sich dann verträumt an einen Stamm, schloss die Augen, und es sah aus, als habe sie die Gegenwart von Kernmoser völlig vergessen.
Der große, stattliche Mann schmunzelte zufrieden vor sich hin und ging dann weiter nach hinten, wo seine Bienenstöcke standen. Er war kein sehr begnadeter Imker, aber für das Pfarrhaus hatte der Honig noch allemal gereicht, sogar darüber hinaus.
Er hoffte ja, dass Roswitha nachkommen werde, damit er ihr von seinen Bienen erzählen konnte. Doch sie kam nicht. Sie stand noch immer an diesen Baum gelehnt und schien zu träumen.
In diesem Augenblick rief eine Männerstimme vom Haus her: „Ja, da schau her, die Roswitha! Das hab ich mir doch gleich denkt. Und ich hab net falsch geschaut.“
Roswitha war zusammengezuckt, blickte aufs Haus und sah den Mann in der Tür stehen. Sie erkannte ihn sofort, den Wagner Bub, den Dammeier-Ferdl. Da also war er. Im Grunde hatte er sich wirklich gar nicht verändert. Nur älter war er geworden, ein paar graue Haare an den Schläfen, aber gut sah er aus.
„Ferdl“, rief sie, stieß sich vom Baum ab und ging ihm entgegen.
Er streckte die Hände nach ihr aus, und sie entsann sich in diesem Augenblick, wie sie damals in den Weiher gefallen war. Sechs Jahre war sie gewesen. Aber sie erinnerte sich ganz genau an jede Einzelheit. Und er hatte sich mit einem Hechtsprung damals ins Wasser gestürzt und sie gepackt und aufs Trockene geschafft. Ja, sechzehn war er damals gewesen. Schon ein großer Kerl. Aber mit einem Herz für Kinder, für kleinere.
In diesem Augenblick fiel ihr auch ein, dass er vor zwölf Jahren, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, gar kein Student mehr gewesen war. Schon ein richtiger Arzt. In Innsbruck am Krankenhaus hatte er gearbeitet. Jetzt fiel es ihr ein. Und zum Tode ihrer Mutter war er gekommen. Nur zum Begräbnis. Genau wie der Timo. Alle waren sie gekommen. Die Mutter Lienzer war beliebt im Dorf gewesen, und nicht nur im Dorf, im ganzen Tal und darüber hinaus. Noch mit sechzig hatte sie als Hebamme gearbeitet. Und der Dammeier-Ferdl war genau durch ihre Hilfe auf die Welt gekommen wie so mancher andere, der jetzt schon längst erwachsen war. Sie alle hatten damals keinen Weg gescheut, um der Frau die letzte Ehre zu erweisen, die ihnen ans Licht der Welt geholfen hatte.
In diesem Augenblick, als der Ferdl vor ihr stand und ihre Hand schüttelte, sie umarmte und auf beiden Wangen küsste, da fiel ihr all das schlagartig ein.
Sie schaute ein wenig verklärt drein, als der Ferdl dann von ihr ließ, einen Schritt zurücktrat und sie anschaute.
„Gut siehst aus“, meinte er. „Wirst länger bleiben?“
Sie nickte und gab beinahe dieselbe Antwort, die sie schon Hochwürden gegeben hatte.
„Eine Bereicherung ist’s fürs Tal, wenn du hier bleibst.“
Sie lächelte müde. Gedankenverloren schaute sie ihn an.
„Und du?“, fragte sie. „Ich hab schon gehört von dir.“
„Hoffentlich nix Schlechts.“
Sie lachten beide. Und da kam der Pfarrer.
„Ein hübsches Paar seid’s“, meinte Kernmoser.
Roswitha wurde rot, und Dr. Dammeier meinte lachend: „Seit wann versucht sich der Pfarrer als Eheanbahnungsinstitut?“
„Ein Pfarrer muss sich eben um alles kümmern“, meinte Kernmoser verschmitzt. „Kommt's eini ins Haus! Ich habe einen Obstler, den werd ihr mir net ausschlagen.“
Roswitha tat es dennoch. Sie trank keinen. Und dann wollte ihr Dr. Dammeier unbedingt die Talsperre zeigen, nachdem er erfahren hatte, dass sie die noch gar nicht kannte.
„Zwölf Jahre sind eine lange Zeit“, meinte er, als er ihr in seinen Jeep half, der direkt vor dem Pfarrhaus stand.
„Fahr net so gschwind“, bat ihn Roswitha, als sie losfuhren. Und er ließ sich wirklich Zeit. Es gab für Roswitha so viel zu sehen. Nicht nur die Berge und die schön Landschaft. Da und dort war ein neues Haus. Es gab ein Hotel.
„Da hat der Kemmelmeier seine Finger drin“, meinte Dr. Dammeier. „Überall, wo was ist, da mischt er mit.“
„Ich habe ihn nie leiden mögen. Ist er immer noch so grantig?“
„Grantig?“ Ferdl lachte. „Schön wär’s. Aber er ist schlimmer. Er macht seine Geschäfte, und da ist ihm nix mehr heilig. Gar nix mehr. Da drüben, siehst, zum Glemmer aufi haben’s eine Seilbahn baut. Den ganzen Wald haben’s verschandelt für die Seilbahn. Die Schneisen, kannst die sehn?“
„Ja, ich seh’s. Kommen viele Touristen her?“, wollte Roswitha wissen.
„Es lauft sich ein. Unser Bürgermeister, den kennst doch.“
„Der Wastl?“, fragte Roswitha.
„Nein. Net der Wastl. Der Brandauer Gustl. Er ist clever, verstehst. Er möchte aus dem Tal Geld schlagen für alle. Hotels möcht er bauen. Und drüben von Deutschland solln’s kommen. Aber auch von anderswo. Die Stadtleut, verstehst. Im Winter, da ist hier was los. Jetzt geht’s. Aber wart, die nächst Woch, wenn Pfingsten ist, sollst sehn, wie viel Leut kommen und in die Berg umeinand kraxeln. Da gibt’s wieder Arbeit, sag ich dir.“
Sie fuhren die Straße von St. Hildegard bis Stunds, ein noch kleinerer Ort, als St. Hildegard war. Und dann, als sie Stunds hinter sich hatten, ging es weiter neben dem Poltzbach aufwärts an der Schirrmühle vorbei, die auch heute am Sonntag lief. Die Turbinen arbeiteten jetzt, das Wasserrad stand still. Es wurde nicht mehr gebraucht.
Die Fahrt ging weiter durch den nächsten kleinen Ort. Steegroden hieß er, und dahinter war der Weg nicht mehr asphaltiert. Schotter bedeckte ihn. Er war breiter, aber sehr zerfahren.
„Die Lastautos machen die Wege kaputt“, sagte Ferdl. „Aber wir brauchen sie, siehst da vorn, da ragt sie auf, die Staumauer. Und dahinter ist Mühlauer schon fast versunken im Wasser.“
„Da drüben ist noch eine Seilbahn“, meinte Roswitha und deutete zur Kalkspitz Alpe hin.
„Material-Seilbahn für die Baustelle. Wir müssen links hinüber. Siehst, die Häuser dort, Baracken. Jetzt ist da alles still. Aber in der Woch sind's alle wieder da, die Leut, die jetzt zum Wochenend weg sind. Nur die Ausländer sind da blieben über Sonntag.“
Er hielt plötzlich an, sie schaute verwundert in seine Richtung, und er wandte sich ihr zu. Mit einem Male war sein Gesicht ernst. Sie entdeckte Falten darin, die damals vor zwölf Jahren noch nicht dagewesen waren.
„Was schaust?“, fragte sie.
„Warum bist hier? Machst Urlaub?“, wollte er wissen.
„Auch“, entgegnete sie. „Aber ich hatte gehofft, ich würd den Timo treffen.“ Im Gegensatz zum Sopherl wusste er sofort, welchen Timo sie meinte.
„Da schau her“, meinte er. „Aber der Timo ist auf dem Gut bei Innsbruck, du weißt doch, das Gut vom Grafen. Er leitet es jetzt. Früher ist er nur Verwalter gewesen. Aber jetzt macht er alles für den Grafen. Er wird erst nach Pfingsten heraufkommen zur Heumahd.“
„Hast noch Verbindung mit ihm?“, wollte sie wissen.
Er nickte. „Immer. Wir sind Freunde. Manchmal kommt er auf ein Glas Wein oder ich fahr zu ihm. Willst, dass wir hinfahren?“
„Jetzt?“
„Heute Abend?“
„Er ist noch ledig, nicht wahr?“
Er nickte. „Ja, ist er. Und ich weiß auch den Grund. Der Grund bist du. Hast du ihn mögen, den Timo?“
Sie senkte den Kopf und blickte auf ihre Hände. „Immerzu, all die Jahre.“
„Und warum hast ihm net schrieben?“, fragte der Ferdl.
„Hat er denn schrieben?“
„Er hat net gwusst, wo du bist. Er hat viel an dich gdacht. Ich weiß, Roswitha, und wenn du auch an ihn gedacht hast, all die Jahre, das ist ja schon bald ein Drama. Heute Abend fahrn’ wir zu ihm. Ich ruf ihn an, gleich auf der Baustellen.“
„Es pressiert doch nicht. Lass dir Zeit!“'
„Roswitha, ich weiß, dass da zwei sind, die sich lieb haben; über Jahre lieb haben. Da sagst du, es pressiert net. Sicher tut’s pressieren. Aber jetzt zeig ich dir noch die Staumauer.“
Er fuhr aber dann doch nicht los, nahm die Hand wieder vom Schlüssel und wandte sich ihr erneut zu.
„Nur wegen dem Timo bist hier?“
Sie nickte.
Er lächelte. „Guck mal auf der Baustellen ist ein Kollege von mir, ein Unfallchirurg. Doktor Fellau heißt er. Er liebt deine Stimme. Er ist ein Fan von dir. Er hat nie gewusst, dass du von hier bist. Ich hab’s ihm net gesagt. Er wird Augen machen.“ Er wurde wieder ernst. „Es gibt noch einen Grund, net wahr?“, sagte er förmlich.
Über seinen veränderten Ton erschrak sie richtig. „Wie meinst das?“
„Wie ich das sag. Also, magst net reden?“
Sie senkte den Kopf, fühlte sich durchschaut.
„Glaubst denn, ich seh net, wie blau deine Lippen sind unter der Schminke? Du hast zwar den Lippenstift stark aufgetragen, das passt gar net zu dir, aber du wirst schon wissen warum. Trotzdem seh ich’s. Und die Fingerkuppen, und die Augen.“
Sie warf den Kopf hoch, blickte ihn überrascht an. „Was ist mit den Augen?“
„Da gibt’s so kleine Hinweise, weißt. Am liebsten möchte ich mein Stethoskop nehmen und dich abhören, Roswitha.“
Sie senkte wieder den Kopf. „Das brauchst net. Ich weiß so schon, was ich hab.“
„Du weißt’s? Mit dem Herzen, stimmt’s?“
Ohne aufzusehen, nickte sie. Eine Locke ihres dunklen Haares war ihr in die Stirn gefallen.
„Und jetzt bist herkommen und willst dich erholen?“
„Da gibt’s nix zu erholen“, erwiderte sie. „Aus ist’s. Der Doktor in New York hat mir ein halbes Jahr geben. Vier Monate davon sind schon um.“
Dammeier legte seine Hand auf ihre Schulter, so, als wollte er sie trösten. Aber zugleich lag sein rechter Zeigefinger an der Halsschlagader. Dort konnte er deutlich den Pulsschlag fühlen.
„Ach geh, Roswitha, jetzt willst mir Angst machen.“
Sie sah zu ihm auf. „Nein, Ferdl, keine Angst machen. Ich habe ja selbst keine Angst mehr. Am Anfang, da hab ich geglaubt, die Welt bricht zusammen. Aber dann hab ich begriffen, dass alles weitergeht, und dass es auch ohne mich weitergehen wird.“
„Weißt was“, sagte Ferdl lächelnd, „wenn wir heroben sind in meiner Station, dann werd ich dein Herz abhören, dich einmal untersuchen. Wir haben sogar die Möglichkeit, ein EKG zu machen. Ja, da staunst, wie? Wir sind halt modern. Die Gesellschaft hat mit nix gespart. Und der Landeshauptmann hat auch noch eine Menge dazugegeben.“
„Und was versprichst dir davon?“, fragte Roswitha ungläubig.
„Ich bin noch net sicher. Aber vielleicht hat der Kolleg in New York einen Schmarrn geredt. Ich glaub’s halt net.“
„Wie willst das wissen nur so vom Ansehn?“
Er nahm seine Hand von ihrer Schulter, hielt seinen Zeigefinger hoch. „Poch, poch, hat’s da gemacht“, sagte er. „Hast gar nix gemerkt.“ Er lachte. „Und so tickt kein Herz, das sterben will. Wir werden seh’n.“
Zehn Minuten später trafen sie oben an der Baustelle ein, wo Dr. Fellau und der Baustellensanitäter Kreuzbechner bereits auf sie warteten und überrascht auf Roswitha blickten.
„So schnell“, sagte Fellau, „hätte ich dich nun doch nicht hier oben erwartet.“
Ferdl machte Roswitha mit Fellau bekannt und desgleichen mit Kreuzbechner. Dann sagte er. „Wir haben eine Patientin für eine Untersuchung. Aber ich mach das schon allein. Weiß einer von euch, wo die Erika steckt?“
„Wandern hat’s wollen“, meinte der Kreuzbechner.
„Wisst's ihr, wann sie zurückkommt?“ Die beiden zuckten die Schultern. Ferdl wandte sich Roswitha zu. „Erika Meindl ist eine Kollegin, eine Internistin, eine hervorragende.“ Er lächelte. „Sie könnte Oberärztin sein in einem großen Krankenhaus. Aber Liebeskummer hat sie hierher verschlagen. So, sieh dir mal das Panorama an, Roswitha.“ Er deutete in die Runde, und wirklich konnte man von hier oben weit übers Tal blicken.
„Ich bin in meinem ganzen Leben noch net da heroben gewesen“, meinte Roswitha.
„Da musste erst eine Talsperre gebaut werden, damit du das einmal sehn kannst.“ Ferdl lachte.
Roswitha ging ein Stück über das Plateau, und die Gelegenheit nützte Fellau, um Ferdl zuzuflüstern: „Was ist denn mit ihr?“
„Irgendwas an der Pumpe. Ich will mal sehn. Ich hebe das EKG für die Erika auf. Sie soll sich das noch ansehn. Sie versteht da ein bisschen mehr davon als ich. Schließlich bin ich Chirurg und kein Kardiologe.“
„Wie kommst du darauf, dass da was sein soll?“ fragte Fellau.
„Ein Arzt in New York hat ihr gesagt, dass sie noch ein halbes Jahr zu leben hat, das war vor vier Monaten. Sie ist im Grunde hierhergekommen, um zu sterben. So seh ich das. Weiter weiß ich noch nichts. Aber du hältst den Mund, verstehst du? Erfahren darf das niemand.“ Er wandte sich zur Seite und blickte hinüber zu Roswitha. Dann rief er sie und sagte dazu: „Komm hereinspaziert. So friedlich wie im Augenblick ist es hier heroben nicht alle Tage.“
Dann zeigte er ihr seine Station. Kranke waren im Augenblick nicht untergebracht. Auch das betrachtete Ferdl als eine Art Ausnahmezustand. Denn sonst lagen mitunter zehn und mehr Patienten in der Krankenbaracke.
„Wenn’s nach dem Brandauer, unserm Bürgermeister, nach der Erika Meindl, dem Fellau und mir ging, würde hier eines Tages ein richtiges Krankenhaus gebaut. Und irgendwann geschieht das auch. Der Brandauer will es mehr noch als wir. Er möchte überhaupt aus dem Tal etwas ganz Modernes machen, ohne zugleich den Charakter der Landschaft zu verschandeln. In St. Hildegard haben wir schon eine Ambulanz, doch heut ist die geschlossen. So, nun setz dich mal dort drüben hin, Roswitha. Dann möcht ich doch mal sehn, was an der Geschieht dran ist.“
Ein wenig ungläubig ließ es Roswitha über sich ergehen, dass er sie abhörte, und sie genierte sich auch nicht vor ihm. Jetzt war er durch und durch Arzt für sie und nicht mehr der ältere Junge aus dem Dorf von früher.
Auch das EKG machte Dr. Dammeier nun.
Als er mit allem fertig war und Roswitha sich aufrichtete, sagte er: „Bleib noch für ein Momenterl liegen.“ Er setzte sich neben sie auf die Liege und sah sie an. „Ganz gesund bist halt net. Aber schlimm kann’s net sein. Net so schlimm, das du schon sterben müsst. Ich werde die Erika fragen, und sie wird sich das EKG anschaun. Da ist was am Herzen. Aber das musst schon länger haben.“
Sie erzählte ihm die Geschichte, wie sie damals während der Vorstellung auf der Bühne zusammengebrochen war. Danach hatten Untersuchungen stattgefunden. Und ein Kardiologe, ein berühmter dazu, war zu dem Schluss gekommen, dass Roswitha an einem schweren Herzschaden litt. An einem Herzklappenverschluss, von dem man anfangs noch gehofft hatte, er sei durch eine Operation in Ordnung zu bringen. Doch Roswithas hinfälliger Zustand ließ keine Operation zu. Ein Herzchirurg in New York weigerte sich, die Operation auszuführen, weil sie im Zustand der Patientin ein glattes Todesurteil gewesen wäre.
„Und dann?“ fragte Dammeier. „Dir geht’s doch besser heut. Natürlich ist das operativ in Ordnung zu bringen. Und selbstverständlich muss der Patient so kräftig sein, dass man die Operation riskieren kann.“
Nach einer langen Zeit der Depression schöpfte Roswitha plötzlich wieder Hoffnung. Irgendwie war es viel vertrauter, mit Ferdl zu sprechen als mit all diesen Ärzten in Amerika.
„Wie bist denn zu uns kommen? Mit dem Flugzeug?“
Sie nickte. „Ich hab mir denkt, mit dem Flugzeug könnte es aus sein. Nun gut, dann stirbst halt.“
„Aber du bist net gestorben. Lebst ja noch“, meinte er lachend. „Erzähl mir, wie es war.“
„Na ja, ein wenig hab ich es schon gespürt, am Anfang, wie die Maschine hochgangen ist. Aber nachher war nix.“ Er lächelte. „Das spür ich auch. Das spürt jeder. Wenn's so steil hochgehen, drückt’s einem den Magen in den Rücken. Das hast gespürt.“
Sie nickte wieder. „Und Angst hab ich gehabt.“
„Siehst“, sagte er. „Und du lebst. Wenn alles so schlimm wär, wie du sagst, wärst net ankommen hier.“
„Denkst wirklich?“
„O ja, Roswitha. Und nun vergiss die dummen Gedanken. Komm, wir geh'n hinaus in die Sonne, trinken etwas zusammen mit Fellau und Kreuzbechner. Und nachher, wenn Erika kommt, schaut sie sich das EKG noch mal an. Wir können über alles reden. Oder willst sofort zum Timo?“ Er hatte die letzten Worte leise gesprochen.
„Möcht ich schon. Ich hab einen Wagen.“
Er lachte wieder. „So herzkrank, dass du sterben willst, aber einen Wagen fährst. Den hab ich gar net gesehn. Wo steht er denn?“
„Ich hab ihn vorm Dorf stehen lassen. Ich wollt das letzte Stückerl zu Fuß gehn.“
„Sollen wir zusammen zum Timo fahrn? Zeit hätt ich schon. Der Fellau hat den Dienst heut.“
Sie lächelte ihm dankbar zu. „Wenn’st magst?“
„Freilich mag ich.“
„Aber willst ihn net anrufen, dass er auch da ist?“
„Gut“, meinte Dammeier, „ich läut ihn an.“
Er ging zur Bürobaracke hinüber, kam aber nach einer Weile wieder. Traurig sah er Roswitha an. „Er ist auf dem Schloss vom Graf. Wird erst in der Nacht spät zurückkommen“, berichtete er.
Roswitha, die sich wohl schon verfrühte Hoffnungen gemacht hatte, lächelte tapfer. „Ach weißt, das macht nix. Hättest nicht Lust, mit mir ein Stück das Tal hinaufzugehn? Ich möcht so gern das Mühlauerdorf noch mal sehn.“
„Viel wirst nimmer davon sehn“, erwiderte Ferdl. „Nur ein paar Stücke von den Hausdächern. Aber gut, ich zeig's dir.“
Da schellte wieder das Telefon. Außen an der Baracke war eine Klingel.
Fellau, der auf der Veranda zusammen mit Kreuzbechner saß, erhob sich und ging ins Büro hinein. Kreuzbechner stand nun ebenfalls auf und sagte: „Ich fahr noch mal ins Dorf. Pfüat euch“, rief er Roswitha und Dr. Dammeier zu, winkte und ging hinüber zu den Fahrzeugen. Wenig später fuhr er mit einem zerbeulten VW-Pritschenwagen talwärts.
Da tauchte Fellau wieder auf. Gespannt sah ihm Dammeier entgegen. „Na, was is?“, fragte er.
Fellau lachte. „Die Kollegin Meindl ist mit ihrem Wunderschlitten unterwegs, aber hinter Solden hat er seinen Geist aufgegeben. Sie haben ihn ihr noch bis nach Solden in die Werkstatt geschleppt und nun bittet sie, dass einer kommt und sie abholt.“
Dammeier deutete auf die Staubwolke, die sich talwärts zu verlängerte. „Da fährt der Kreuzbechner. Der hätt’ das machen können.“
„Und ich hab Dienst. Ich kann nicht weg“, sagte Dr. Fellau.
Dammeier und Roswitha tauschten einen Blick. Ohne dass sie sprachen, hatten beide denselben Gedanken, und Dammeier sprach ihn aus. „Dann nimm meinen Jeep und hol die Erika. Ich mach deinen Dienst solange. Ich bleib hier oben.“
Über Fellaus Gesicht ging ein Strahlen. „Das nenne ich doch echt einen Volltreffer. Sechs Richtige mit Zusatzzahl. Mann o Mann, endlich aus dieser Langeweile entfliehen. Schönen Dank, großer Meister. Jetzt brauch ich nur noch die Schlüssel, und schon bin ich weg.“
Lachend gab ihm Dammeier die Schlüssel des Jeeps, und Minuten später schoss Fellau mit dem Jeep talwärts.
Roswitha und Dammeier schauten der Staubwolke nach, die der Geländewagen auf dem unbefestigten Weg verursachte.
„Der scheint sehr froh gewesen zu sein, einmal wegzukommen“, meinte Roswitha.
„Recht hast. Heut ist nix los. Aber um Pfingsten, da wirst staunen, wenn die Touristen sich die Haxen vertreten. Aber jetzt ist nix mehr mit dem Spaziergang. Mühlauer muss ich dir ein andermal zeigen. Komm, Roswitha, setzen wir uns da herüber auf die Veranda. Magst etwas trinken?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nur schaun möcht ich. Es ist so wunderbar hier. Es ist zum Träumen.“ Sie atmete tief die Bergluft ein, breitete die Arme aus. „Nur eins tät mir noch fehlen.“
„Der Timo, gell?“ Dammeier lächelte verständnisinnig.
Sie nickte ihm zu. „Nur wiedersehen möcht ich ihn. Vielleicht hat er eine Freundin.“
Ferdl schüttelte den Kopf. „Hat er net. Ich müsst’s wissen. Ein Hagestolz ist er, genau wie ich.“
Sie setzten sich auf die Veranda, wo vorhin Dr. Fellau und der Rettungssanitäter Kreuzbechner gesessen hatten.
Roswitha erzählte noch einmal ganz genau alles, was ihr von ihrem eigenen Leiden bekannt war.
Daraufhin versuchte Dr. Dammeier, ihr genau zu erklären, was er wirklich bei ihr annahm, und wie es zu diesem Verschluss gekommen sein könnte.
„Natürlich“, erklärte er schließlich, hängt alles von einer eingehenden neuen Untersuchung ab. Von hundert Fallen ist einer, wo sich solche Fehler im Herzen mit der Zeit wieder geben können. Die aber sofort, wenn eine Überanstrengung vorliegt, zur neuen Gefahr werden. Ich bin kein Herzchirurg, obgleich ich schon oft genug als Assistent bei Herzoperationen dabei war. Trotzdem möchte ich sagen, dass hier im Grunde nur eine Operation helfen kann.“
„Und wie sind meine Chancen, dass ich so etwas überstehe?“, fragte Roswitha ein wenig ängstlich.
„Relativ groß, wenn man vor der Operation in guter Verfassung war. Und du bist in guter Verfassung“, sagte er.
„Bist du sicher?“
Er wollte gerade darauf antworten, als das Telefon wieder schellte.
„Wart einen Moment“, sagte er und ging in die Baracke hinein.
Nach ein paar Minuten kam er wieder heraus, lächelte verheißungsvoll und meinte, als Roswitha ihn fragend anschaute. „Willst den Timo sehn? Er hat grad angerufen.“
„Er ist da?“
„Wie er gehört hat, dass du hier bist, hat er sich beim Graf entschuldigt. Er will herauskommen, hierher zu uns.“
„Hier herauf?“, fragte Roswitha aufgeregt, denn ihr schlug das Herz bis zum Halse.
„Tu dich net aufregen, Madel. Er kommt, und er kommt hier herauf. Er kennt den Weg.“
Roswitha war aufgesprungen, umarmte Ferdl, küsste ihn auf beide Wangen und rief begeistert: „Ich bin so glücklich, Ferdl. Du weißt gar net wie.“
„Ich denk mir schon, dass du glücklich bist. Nun setz dich wieder hin! Aufregen darfst dich net.“
„Ich reg mich net auf. Ich bin halt glücklich.“
„Sehr glücklich sein, ist auch eine Aufregung“, sagte er warnend.
Sie ging gar nicht darauf ein, sondern fragte: „Wie lang fährt er denn, der Timo?“
„Zwei Stund bis hier herauf. Länger net. Du wirst’s erwarten können, Madl.“ Dammeier grinste wie ein Lausbub. „Beneiden tu ich ihn, den Timo.“
„Bist gar eifersüchtig?“, frotzelte sie ihn.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, bin ich net. Du bist ein hübsches Madl. Aber in meinem Herzen hab ich eine andere drin.“
„Sagst mir wer’s ist?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Später vielleicht. Jetzt net.“
Sie sah ihn glücklich an. „Du weißt net, wie froh ich bin. Das kannst dir gar net denken.“
Er schwieg und lächelte nur stillvergnügt vor sich hin.
Sie war aufgestanden. „Weißt was?“, sagte sie. „Ich halt’s hier net aus. So herumsitzen. Zwei lange Stunden. Das kann ich net. Ich geh ein Stück allein. Bist mir bös? Oder kannst mitkomen?“
Er schüttelte den Kopf. „Kann ich net. Ich muss dem Fellau sein Dienst machen. Na geh schon. Aber net zu weit, Madl!“
„Ich kenn mich schon aus. Mach dir keine Sorg’ net.“
Sie ging und winkte ihm vor dem Knick des Weges, der am Poltzbach entlangführte, noch einmal zu. Dann verschwand sie hinter den Lärchen.
Dr. Dammeier ging in die Baracke, holte sich ein Buch und setzte sich dann wieder draußen auf die Holzveranda, machte es wie Fellau und legte die Füße auf die Brüstung und las.
Aber so richtig konnte er sich nicht auf das konzentrieren, was da im Buch stand. Er musste immer wieder an Roswithas Schicksal denken und fragte sich, ob seine Vermutung stimmte. Eine richtige Diagnose war es nicht.
Ich bin gespannt, dachte er, was die Erika zum EKG sagt. Sie kennt sich da ein bisschen besser aus als ich. Aber soviel ich weiß, ist es nicht so schlimm um die Roswitha bestellt, wie sie denkt. Längst nicht. Sonst hätte sie den Flug gar nicht überstehen können.
Verrückt, die zwei, mögen sich seit zwölf Jahren. Aber geschrieben haben sie sich nicht. Sie ihm nicht, und er ihr nicht. Und wie der Timo gehört hat, dass sie hier ist, wäre er am liebsten vor Begeisterung durch die Leitung gesprungen. Hoffentlich fährt er nicht wie einer Verrückter und bricht sich noch das Genick vor lauter Eifer, so schnell wie möglich bei ihr zu sein ...