Читать книгу 10 bewegende Romane Sommer 2021: Roman Paket Liebe und Schicksale 7/2021 - Thomas West - Страница 15

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Der Weg ging nur noch ein Stück weit im früheren Verlauf. Dann stieß er auf die Fahrstraße, wo die Lastwagen tiefe Spuren in den Schotter gekerbt hatten.

Die Staumauer ragte wie ein Fremdkörper im Grün und Braun des Tales auf.

Roswitha empfand dieses Betongebirge, das da vor ihr aufragte, als hässlich. Auf der anderen Seite wusste sie, wie dringend die Energien der Natur gebraucht wurden. Und die Wasserkraft war eben eine wichtige Energie zur Stromerzeugung. Doch in diesem herrlichen Gebirge störte es das Auge.

Noch sprudelte der Bach dahin, war der Druck, der auf der Mauer ruhte, gemindert. Denn die Turbinen, die einmal den Strom erzeugen sollten, hatte man noch nicht eingebaut. Eines Tages würde die Mauer komplett sein und zu voller Höhe aufragen. Und das drückende Wasser trieb die Turbinen an.

Sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern versuchte sich zu erinnern, wie es früher hier gewesen war, als der Weg noch weiter zum Dörflein Mühlauer führte, vorbei an blühenden Apfelbäumen, die rechts und links dieses Weges gestanden hatten und die nun vom Wasser überflutet worden waren.

Sie musste jetzt einen steilen Serpentinenweg seitlich der Staumauer aufwärts gehen. Doch schon auf halbem Wege ging ihr die Puste aus. Sie spürte, wie ihr Herz hämmerte und ihr vor Anstrengung schwindlig wurde.

Erschöpft setzte sie sich an den Rand des Pfades und kam allmählich wieder zur Ruhe. Noch gestern hätte sie Todesangst bei solchem Herzklopfen empfunden. Seit sie aber von Ferdl mit Zuversicht erfüllt worden war, und weil sie zudem wusste, dass sich Timo Veith auf dem Weg hierher befand, spürte sie keine Angst. Nur Freude.

Als sie sich wieder kräftiger fühlte, setzte sie ihren Weg bergauf fort. Diesmal ging sie viel langsamer, hielt ab und zu an und warf einen Blick von der Höhe aus über das Tal.

Schließlich hatte sie den oberen Rand der Baustelle erreicht, blickte auf die hässlichen Armierungen, auf die herausragenden Moniereisen, auf das Gerüst und die Baumaschinen. Der Weg war zwar abgetrocknet, doch holprig. Oben dann befand sich parallel zum zukünftigen Stausee ein Fahrweg, der wohl auch von den Lastwagen benutzt wurde. Sie hatte Mühe darauf zu gehen. Immer wieder blieb sie stehen und schaute hinunter auf das Wasser, das weit unter ihr bereits einen See bildete, der immerhin schon einen Teil der Häuser des einstigen Mühlauer bedeckte. Da und dort ragten noch Dächer heraus. Und kurz über lang würde das Wasser so weit angestiegen sein, dass nichts mehr von Mühlauer zu erkennen war.

Ihr kam es vor, als sei dies das Grab einer langen Geschichte von Familien, die hier gelebt hatten.

Nachdenklich ging sie langsam weiter, bis sie einen Weg entdeckte, der, an der Talstation der Materialseilbahn vorbei, in Richtung auf die schönen grünen Hänge unterhalb der Kalkspitz Alpe führten. Überall sah sie die aus grob behauenen Balken gefertigten Heustadl stehen, deren Dächer mit Steinen beschwert waren.

Sie ging ein Stück weiter, bis sie die grüne Weide erreicht hatte, setzte sich dann auf der Almwiese nieder und pflückte die Blumen, die um sie herum wuchsen. Der Geruch von duftendem Gras drang ihr in die Nase. Um sie herum summten die Insekten, die von Blüte zu Blüte flogen.

Roswitha hätte stundenlang hier sitzen und einfach diese herrliche Natur genießen können. Ihre Gedanken schweiften zu Timo, und sie versuchte sich vorzustellen, wie er heute aussehen mochte. Natürlich war er älter geworden, eben diese zwölf Jahre, seit sie sich nicht mehr gesehen hatten. Aber so richtig konnte sie ihn sich nicht vorstellen.

Vielleicht, dachte sie, werde ich wieder richtig gesund. Mit einem Male habe ich die Hoffnung. Ich bin hergekommen und hatte alles aufgegeben. Und jetzt, seit ich mit dem Ferdl gesprochen habe, glaube ich wieder an eine Zukunft. Vielleicht sogar an eine Zukunft mit Timo.

Nein, das ist einfach verrückt von mir, so etwas zu denken. Er hat doch sicher nicht die ganze Zeit auf mich gewartet. Der Ferdl ist nett. Er sagt so etwas und will mir eine Freude machen. Aber in Wirklichkeit hat Timo doch nicht die ganze Zeit auf mich gewartet. Dann hätte er sich sicher einmal gemeldet.

Aber ich habe es auch nicht getan. Warum nur nicht? Ich habe immer wieder an ihn gedacht und trotzdem nie einen Brief geschrieben.

Sie versuchte diese Gedanken zu verwischen. Sie wollte einfach nicht näher erwägen, dass Timo am Ende in ihr vielleicht ein nettes Mädchen sah, eine Freundin von früher und nicht mehr.

Sie stand auf, glättete ihren Rock und ging langsam über die Wiese weiter. Sie mochte nicht auf den Weg zurückgehen, wunderte sich nur darüber, dass er ein Stück weiter oberhalb durch eine Schranke abgesperrt war. Daneben stand ein Schild, das sie von hier aus nicht lesen konnte. Es interessierte sie auch nicht.

Sie sah nur wenig später, dass der Weg in einen Steinbruch führte. Hier wurden offensichtlich die Lastwagen beladen. Geröllmassen waren wohl vom letzten Regen her abgerutscht und bedeckten zum Teil auch die Wiese. Weiter oben sah sie umgestürzte Bäume. Es musste hier einen Erdrutsch gegeben haben. Eine richtige Mur.

Sie wollte aber weitergehen. Doch, wo sie sich befand, ging es nicht weiter. Durch die Mur war eine richtige Schlucht entstanden. Um diese Schlucht zu umgehen, musste sie weiter hinauf durch das Waldstück. Lärchen standen da. Sie waren nicht sehr groß. Die Natur ließ sie nicht allzu groß werden. In dieser Höhe war es für die Vegetation hart sich zu behaupten.

Der warme Wind, der von Süden her blies, wehte um Roswitha herum und ließ ihren Rock flattern. Manchmal blieb sie stehen, schloss die Augen und genoss es, wieder daheim zu sein. Die Erde, der Wald, alles duftete. Ein unvergleichliches Gefühl.

Der Aufstieg wurde ihr hart. Immer wieder machte sie Pausen, und als sie es endlich geschafft hatte, blickte sie überrascht in diese Schlucht, die der Erdrutsch von hier aus geschlagen hatte. Sie wandte sich noch einmal besorgt um, weil sie mit einer neuen Mur, einer Lawine rechnete. Aber der Berg war offenbar ruhig.

Sie konnte sich erinnern, dass ihre Mutter ihr einmal die Sage von der Kalkspitz Alpe erzählt hatte, in der ein Geist schlummern sollte, der die Menschen für das bestraft, was sie Böses getan haben.

Habe ich etwas Böses getan, fragte sich Roswitha und musste lächeln, weil sie es für Aberglauben hielt. Ich habe nichts Böses getan, dachte sie. Der Geist im Berg kann auf mich nicht zornig werden.

Amüsiert, dass sie so etwas überhaupt in Erwägung zog, ging sie weiter.

Mit ihren Schuhen tat sie sich schwer, und sie beschloss nun doch umzukehren. Aber das Steigen hier herauf hatte sie sehr ermüdet. Und als sie einen Felsbrocken entdeckte, der aus dem Grün des Grases herausragte, ging sie hin und setzte sich darauf.

Die Aussicht von hier aus war schlecht. Zum Tal hin verdeckten die Lärchen die Sicht, und nach oben zu war es ein Felsriegel, der ihr den Blick zum Gipfel des über 2800 Meter hohen Berges verwahrte.

Sie wollte auch nicht mehr höher steigen. Ihr Puls ging rasch. Ihr Herz hämmerte förmlich gegen die Brust. Und sie beschloss, so lange zu warten, bis sie sich besser fühlte.

Ich hätte hier nicht heraufsteigen dürfen, dachte sie reumütig.

Als sie einmal nach oben schaute, zu jenem Felsriegel empor, sah sie plötzlich eine Gemse. Die stand da oben wie eine Statue, zeichnete sich ganz deutlich vor dem blauen Himmel ab. Und gebannt von diesem Anblick schaute Roswitha empor.

Doch plötzlich machte die Gemse einen Satz, sprang erst nach vorn und dann zur Seite, womit sie der Sicht Roswithas entschwand.

Bedauernd erhob sich Roswitha, wollte sich schon abwenden, da hörte sie über sich ein Geräusch, ein Poltern, und dann sah sie voller Entsetzen einen etwa kopfgroßen Steinbrocken, der genau in ihre Richtung herunterkam.

Er sprang wie ein Ball. Hüpfte hoch, schlug auf, sprang höher und wurde schneller und schneller.

Roswitha stand wie erstarrt. Sie wollte weg und konnte nicht. Ihr ganzer Körper war in Aufruhr, und trotzdem bewegte sie nicht einmal den Finger. Aber dann wich der Bann. Mit einem Schrei stürzte sie los, versuchte dem Stein, der in rasender Geschwindigkeit direkt in ihre Richtung flog, zu entrinnen.

Mit einem weiten Sprung flüchtete sie, blickte dann voller Angst noch einmal in die Richtung, woher der Stein kam, da flog er schon dicht an ihr vorbei. Polterte weiter talwärts, und Roswitha wollte schon aufatmen.

Ein Geräusch ließ sie abermals nach oben blicken. Da sah sie voller Erschrecken, dass zwei weitere Steine, einer noch viel größer als der von eben, vom Felsriegel her nach unten sprang, schneller und schneller werdend. Der große riss andere mit. Immer mehr kamen.

Eine Lawine!, dachte sie in heller Panik und lief los. Sie rannte und hatte nur einen Gedanken: Nur weg! Nur weg!

Ein ähnliches Erlebnis hatte sie in ihrer Kindheit gehabt. Und sie konnte sich ganz deutlich in diesem Augenblick an das schreckliche Geschehen erinnern. Nur Flucht half.

Sie verlor einen Schuh und achtete nicht darauf. Hinter ihr polterte es. Aber auch von oben kam es lärmend herunter. Immer mehr und mehr. Und unter ihr, da jagte es mit Getöse talwärts, in dieselbe Schlucht hinein, die sie vorhin noch bestaunt hatte.

Im Laufen wandte sie sich noch einmal um. Und noch immer war sie nicht aus der Gefahrenzone heraus. Es polterte von oben, immer mehr kam herunter. Bäume wurden hinter ihr von gewaltigen Steinquadern weggerissen. Der ganze Berg schien in Aufruhr.

Roswitha achtete nicht darauf, wohin sie lief. Nur weg von der Lawinenstraße. Nur fort, um nicht erschlagen zu werden.

Wieder einmal drehte sie sich um, während sie lief. Aber sie hatte kaum den Kopf gewandt, da war ihr, als risse es ihr die Füße unter dem Körper weg. Sie stürzte, schrie, als sie bemerkte, dadd sie keinen Halt mehr hatte. Aber da war nichts, wo sie sich festhalten konnte.

Sie schlug auf und schrie dabei vor Entsetzen.

Vom eigenen Schwung getrieben wurde sie nach vorn geschleudert, überschlug sich, rollte den Hang hinunter und prallte plötzlich mit dem Rücken gegen irgendetwas Hartes, dass sie das Gefühl hatte, ihr werde der Körper in zwei Teile gerissen. Ein wahnsinniger Schmerz im Genick schoss ihr in den Hinterkopf. Dann drehte sich alles rasend schnell vor ihren Augen im Kreise. Sie sah noch über sich den Hang, den sie eben heruntergestürzt war, den blauen Himmel, den Ast einer Lärche. Und alles das kreiste vor ihren Augen wie ein Windrad, das immer schneller wird.

Rote Punkte, dann gelbe und grüne zuckten vor ihren Augen, und schließlich hatte sie das Gefühl, in eine tiefe Finsternis zu sinken. Tiefer und tiefer. Das war ihre letzte Empfindung, bevor sie bewusstlos wurde ...

10 bewegende Romane Sommer 2021: Roman Paket Liebe und Schicksale 7/2021

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