Читать книгу 10 bewegende Romane Sommer 2021: Roman Paket Liebe und Schicksale 7/2021 - Thomas West - Страница 18
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ОглавлениеDr. Dammeier schleppte die Notfalltasche, Kreuzbechner die zusammengerollte Trage und die zweite Tasche mit dem Verbandszeug. Keuchend ob des rasanten Aufstiegs kamen sie bei Roswitha an.
Die lag auf dem Bauch, die Arme ausgestreckt, den Kopf auf der Seite, das Gesicht bergwärts gerichtet. Ein Bein wirkte seltsam verdreht. Das andere war angewinkelt.
Der erfahrene Unfallarzt verlor keine Sekunde. Kaum war der Notfallkoffer abgesetzt, hatte er das Stethoskop heraus, ohne sich um die Kopfschwartenwunde zu kümmern oder um irgendetwas anderes, das er sah. Erst einmal feststellen, ob sie lebte.
Kreuzbechner sah ihn gespannt an.
Doch schon wenig später rollte Dr. Dammeier das Stethoskop wieder zusammen, schob es in den Koffer und nickte Kreuzbechner zu. Dann schnitt er mit der Schere die Bluse Roswithas am Rücken auf. Vorsichtig führte er die Fingerspitze über das Rückgrat. An einer Stelle, am zweiten Nackenwirbel, hielt er inne.
„Gefahr der Fraktur. Halskrause.“
Kreuzbechner brauchte keine langen Erklärungen. Er hatte seine Tasche aufgeklappt, und zwei Sekunden später reichte er die Halskrause Dr. Dammeier hin.
Der legte sie an und zog dabei den Kopf Roswithas nach vorn, sodass das Gesicht auf der Erde lag. Sie war besinnungslos. Spürte nichts davon.
Als die Halskrause saß, holte er noch einmal sein Stethoskop heraus, hörte den ganzen Rücken ab.
„Luftmatratze?“, fragte Kreuzbechner.
Dr. Dammeier nickte nur. Kreuzbechner holte die Luftmatratze aus dem Koffer, setzte die Druckluftpatrone an und blies mit einem zischenden Geräusch die Matratze auf.
Während Kreuzbechner noch die Trage auseinanderrollte, die Matratze darauf legte, hatte Dr. Dammeier bereits den Blutdruck untersucht.
„Gefahr der inneren Blutung. Wir müssen sie auf die Trage legen.“
Zu zweit hoben sie mit kundigem Griff die Bewusstlose auf die Luftmatratze, die auf der Trage lag.
Kreuzbechner, der ein sehr erfahrener Unfallsanitäter war, hatte schon den Tubus in der Hand, jenes Rohr, das in den Hals geschoben wird, um die Atmung sicherzustellen. Normalerweise hätte Dr. Dammeier den Kopf der Patientin nach hinten gebeugt, so weit, dass die Zunge nicht zur Blockade der Atmung werden konnte. Aber wegen der Halskrause ging das nicht.
Mit Dammeiers Hilfe führte Kreuzbechner den Tubus ein, und als das geschehen war, konnte Dr. Dammeier die Untersuchung in Ruhe fortsetzen.
Er machte Roswitha im Bauchbereich völlig frei, tastete vorsichtig und spürte sofort die starke Bauchspannung.
„Sieht nach einer Milzruptur aus. Auf alle Fälle Plasma.“
Kreuzbechner holte aus Dr. Dammeiers Tasche die Plasmaflaschen und bereitete die Anlage der Infusion vor.
„Warte noch damit!“, sagte der Arzt. „Erst einmal runter mit ihr auf den Wagen.“
Das hörte sich leichter an, als es war. Sie mussten sehr langsam gehen, und sie mussten vor allen Dingen die Trage immer parallel zum Gefälle halten, damit ihnen Roswitha nicht herunterrutschte. Auf der Luftmatratze war es eine besondere Schaukelei, obgleich sich die beiden sehr bemühten, trotz der Eile, die geboten war, äußerst vorsichtig zu gehen.
Einmal rutschte Kreuzbechner mit einem Fuß ab. Das Geröll gab nach, und sofort kollerten Steinbrocken nach unten. Einer davon knallte wie ein Schuss gegen die Planken des Pritschenwagens. Und um ein Haar wäre ihnen Roswitha von ihrer schaukelnden Lage heruntergekollert. Aber die Luftmatratze musste sein. Die Gefahr einer weiteren Rückgratverletzung war zu groß, als dass man sie auf eine harte Trage hätte legen können.
Schließlich hatten sie es geschafft und waren unten.
„Meinst, Doktor, das geht mit dem Wagen?“ fragte Kreuzbechner zweifelnd.
„Red net! Drauf mit ihr!“
Sie schoben die Trage hinten auf die Pritsche. Mehr konnten sie im Augenblick nicht tun. Und dann wurde die Infusion angelegt.
Dammeier kniete neben Roswitha, während der Kreuzbechner nach vorn ging und den Wagen anließ. Der Arzt hielt die Infusionsflasche in der Hand. Gleichzeitig hatte er das Stethoskop, mit dem er den Puls Roswithas prüfen konnte. Zu einer weiteren Blutdruckmessung war jetzt keine Gelegenheit. Denn Kreuzbechner fuhr los. Er fuhr, als habe er Nitroglyzerin geladen, das bei der geringsten Erschütterung in die Luft gehen konnte. Und dennoch war dieser Weg einfach viel zu holprig, um darauf wie auf einer neuen Asphaltstraße fahren zu können.
Als es ihm zu toll wurde, hielt Kreuzbechner an. „Wart einen Moment!“, schrie er Dr. Dammeier zu, und dann drehte er die Kappen von den Ventilen, ließ aus allen vier Rädern Luft heraus, bis die Reifen richtig schwammig wurden. Und schließlich fuhr er weiter.
Die Dämpfung war spürbar. Und Dr. Dammeier hoffte nur, dass Kreuzbechner nicht noch platt fuhr.
Es schien eine endlose Zeit zu vergehen, bis der Weg endlich besser wurde. Und sofort fuhr Kreuzbechner schneller. Ab und zu steckte er den Kopf zum Fenster raus und rief nach hinten: „Wie schaut’s aus, Doktor?“
„Lass dir Zeit! Nur vorsichtig! Bloß keinen Stoß!“
Kreuzbechner tat, was er konnte. Und endlich langten sie an der Krankenstation an.
Dr. Dammeier hatte gehofft, dass sein Kollege Fellau inzwischen zurück sei und womöglich, was ihm am wichtigsten gewesen wäre, auch Dr. Erika Meindl, die Internistin. Aber beide waren noch nicht da. Auf der Station wirkte alles ganz friedlich. Der sonnenüberflutete Platz vor den Baracken, die Stille hier oben, und rundum die Berge, die so harmlos wirkten, so einladend, ihre Gipfel zu erstürmen. Die Gefahr sah man nicht.
Für die Berge und das schöne Wetter hatten Dr. Dammeier und Kreuzbechner kein Auge mehr. Ganz vorsichtig hoben sie die inzwischen wieder zu Bewusstsein kommende Roswitha von der Pritsche herunter und trugen sie sofort in den Ambulanzraum. Mitsamt der Trage und der Luftmatratze wurde sie auf den Tisch gebettet. Und hier schlug sie dann endgültig die Augen auf, verzog sofort das Gesicht im Schmerz, röchelte merkwürdig, aber das erschreckte Dr. Dammeier nicht. Er wusste, dass viele, die intubiert waren, also ein Beatmungsrohr im Hals stecken hatten, diese Geräusche machen, wenn sie aufwachten.
„Nimm den Tubus heraus“, sagte Dr. Dammeier. „Sie ist jetzt bei sich.“ Vorsichtig entfernte Kreuzbechner das Beatmungsrohr, und prompt musste Roswitha husten. Das verursachte in ihr neue Schmerzwellen, und sie schloss gepeinigt die Augen, versuchte den Husten zu unterdrücken und presste die Lippen zusammen. Aber ihre Augen waren auf Dr. Dammeier gerichtet, der eine einzige Frage darin las.
„Ja, so ist’s, Madl. Wärst aufi net gestiegen, wärst abi net gefallen“, sagte er trocken, während Kreuzbechner die Infusionsflasche mit dem Plasma aufhängte.
Dr. Dammeier hatte bis jetzt keine Veranlassung gesehen, ein Schmerzmittel zu spritzen. Denn die Patientin war ja bewusstlos gewesen. Aber nun tat er es. Er setzte die Injektionsspritze in den Schlauch der Infusion, und so konnte das Mittel am schnellsten in den Kreislauf gebracht werden. Ein Schockzustand lag offenbar nicht vor. Dagegen nach Dammeiers Meinung ein stumpfes Bauchtrauma, was bedeutete, dass Roswitha irgendwo mit dem Bauch auf einen Stein oder einen Baumstumpf geschlagen sein musste. Dabei war es möglicherweise zu einer inneren Verletzung gekommen.
Dammeier stellte ein akutes Abkommen fest, alle Hinweise auf eine innere Bauchverletzung. Unterhalb des Brustkorbes konnte er bei Roswitha auch einen Erguss feststellen, der seine Vermutung bestätigte. Offenbar bestand auch eine Fraktur der zwölften Rippe, was eine besondere Gefahr in sich barg, weil sie wegen ihrer großen Beweglichkeit wie ein Speer gegen den oberen Nierenpol prallen konnte. Aber eine gründliche Untersuchung beruhigte Dr. Dammeier schließlich. Die Fraktur war weit genug vorn und somit stellte sie keine Gefahr für die Nieren dar.
„Mach das Röntgen fertig“, sagte Dr. Dammeier, während er erneut den Blutdruck maß.
Kreuzbechner schob den Apparat heran, schwenkte ihn über Roswitha aus, und als Dr. Dammeier so weit war, schoben sie die Platte unter Roswithas Körper.
Der Blutdruck Roswithas war stark abgefallen, was den noch immer hohen Blutverlust im Körper bestätigte. Ob nun wirklich eine Milzruptur, also die Zerreißung der Milz durch den Aufschlag erfolgt war, konnte Dr. Dammeier noch immer nur vermuten. Sicher war er erst, wenn er eine Operation durchführte. Und die musste so schnell wie möglich geschehen.
Als er die Bleischürze umgebunden hatte und Kreuzbechner auch so weit war, machten sie die Aufnahme.
Kreuzbechner nahm sofort die Platte und verschwand nach nebenan. Er wusste, was er zu tun hatte. Ihm brauchte Dr. Dammeier nichts zu sagen.
Inzwischen machte Dr. Dammeier eine Blutentnahme für ein Blutbild.
Jetzt hätte er Hilfe nötig gehabt, denn Kreuzbechner war mit der Aufnahme beschäftigt. Aber dank des Plasmas befand sich Roswitha nicht mehr in akuter Lebensgefahr. Andererseits konnte ihr Dr. Dammeier kein Hämostypticum spritzen, weil dieses blutverdickende Mittel, das zur Blutstillung führte, bei einer Herzkranken lebensbedrohlich werden konnte.
Das Herz Roswithas machte ihm Sorgen. Blutdruck und Puls gefielen ihm nicht. Eine Operation war aber unerlässlich. Wenn eine Milz- oder sogar eine Leberruptur vorlag, bestand einfach keine Zeit mehr, um Roswitha nach Innsbruck zu bringen. Er musste die Laparotomie, die Eröffnung des Bauches also, hier durchführen, selbst auf das Risiko hin, dass es zum Herzstillstand kommen konnte. Aber die Komplikation musste er in Kauf nehmen.
Unter den Mikroskop stellte er eine eindeutige Leukozytose fest, also eine erhebliche Zunahme der weißen Blutkörperchen im Vergleich zu den roten.
Dank des Plasmas, das die Patientin bekam, bestand die Gefahr eines Blutungsschockes nicht mehr. Und das wäre für den Augenblick das Allergefährlichste gewesen. Doch die Herztätigkeit barg eine immer größere Gefahr.
Kreuzbechner kam mit der Aufnahme zurück, hängte sie in den Schirm, schaltete das Licht an, und beide schauten darauf.
„Was ist?“, fragte Roswitha schwach. „Was ist mit mir?“
Dr. Dammeier, der die doppelte Fraktur der unteren Rippen deutlich auf dem Schirm sehen konnte, wandte sich ihr zu und sagte: „Sprich net, Roswitha. Hättest net da auf den Berg hinauf müssen. Verletzt bist halt. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werd's schon richten.“ Er lächelte ihr beruhigend zu, hörte noch einmal ihr Herz ab und sagte dann: „Roswitha, ich muss dich hier operieren. Du weißt, was mit deinem Herzen ist. Aber wenn ich’s net tu, musst verbluten.“
Sie schloss die Augen. „Ich hab’s gewusst, dass aus ist.“
„Es ist net aus. Ich werd um dich kämpfen, Roswitha. Sei tapfer, Madl. Ich tu mein Bestes.“
Draußen fuhr ein Wagen vor. Eine Frauenstimme lachte.
Kreuzbechner ging schon zur Tür, lief hinaus, und dann erkannte Dr. Dammeier die Stimme von Dr. Erika Meindl. Jetzt war endlich Hilfe da. Und er brauchte sie, wenn er das durchführen wollte, was getan werden musste.
„Dann operier mich halt“, sagte Roswitha schwach.
Er nickte ihr zu. „Es pressiert“, meinte er.
Als die hübsche junge Ärztin hereinkam, gefolgt von dem Kollegen Fellau, sagte Dammeier: „Zieht’s euch um. Laparotomie. Und ein bissel geschwind, wenn ich bitten darf, Herrschaften. Ich tippe auf eine Milzruptur.“
Da kamen keine Fragen, da wurde nicht diskutiert, jeder kannte seine Aufgabe. Erika Meindl lief sofort nach nebenan, Fellau stürmte ihr nach, und wie es bei einer Notoperation üblich war, kamen sie schneller als normalerweise vom Umziehen und dem Händeschrubben zurück.
Inzwischen hatte Dr. Dammeier mit der Hilfe Kreuzbechners die Narkose vorbereitet. Kreuzbechner war inzwischen dabei, die Bauchdecke mit einer gelben Desinfektionslösung zu bestreichen, und die Narkose hätte sofort beginnen können, als Dr. Erika Meindl neben den Tisch trat und ohne ein Wort mit Dr. Dammeier wechseln zu müssen, den Kreislauf untersuchte, die Atmung abhorchte und schließlich einen fragenden Blick in Dr. Dammeiers Richtung warf. „Fang mit der Inhalations-Narkose an“, sagte er.
Erika Meindl nickte nur, und Dr. Dammeier, der sich zum Gehen wandte, stieß Fellau mit dem Arm an und deutete auf seinen Schreibtisch, wo das EKG lag. „Seht euch das an“, sagte er nur. Dann verschwand er nach nebenan.
Kreuzbechner kam ihm nach.
Während sie sich umzogen, hatte Erika Meindl schon die Kappe auf Roswithas Nase und Mund gesetzt und die beiden Flaschen zum vorgeschriebenen Betäubungsgemisch aufgedreht.
Als Roswitha in tiefe Bewusstlosigkeit versunken war, wurden ihr die Schläuche durch die Nase eingeführt und zugleich die Intubation vorgenommen, damit die Atmung funktionieren konnte.
Dr. Fellau kam mit der abgerissenen Fahne des EKGs und hielt das wortlos Erika Meindl vor. Sie schaute erst flüchtig darauf, doch dann saugte sich ihr Blick regelrecht an den zusätzlichen unnormalen kleinen Zacken in den Schreiblinien des Elektro-Kardiographen fest.
„Ein Herzklappenfehler. Du lieber Gott, das wird riskant“, sagte sie. „Und er hat es gewusst.“
„Es bleibt ihm doch keine Wahl“, meinte Fellau. „Ich fang schon an.“ Kreuzbechner hatte das Besteck schon im Sterilisationsgerät. Mit einer Zange holte Fellau Haken und Skalpell heraus, dann setzte er den ersten Schnitt zur queren Oberbauch-Laparotomie. Ein Querschnitt gut eine Männerhand breit über dem Nabel.
Während sich Erika Meindl um Kreislauf und Atmung der Patientin kümmerte und zwischendurch noch einmal die Narkose vertiefte, kamen Dr. Dammeier und Kreuzbechner zurück. Jetzt beide in der braunen Operationskleidung.
„Ein aseptischer OP ist das ja nicht“, sagte Dr. Dammeier, als er Dr. Fellau das Skalpell aus der Hand nahm, und der die Haken zum Ausbreiten der Operationsöffnung ansetzte.
„Aber was haben wir hier schon alles gemacht. Und sie leben“, meinte Fellau und sah dabei nicht auf.
Durch den Mundschutz hindurch fragte Dr. Dammeier, der jetzt das Fettgewebe durchtrennte:
„Was ist mit der Pumpe? Noch normal?“
„Noch ja. Ich habe die zusätzlichen Zacken gesehen. Das ist ja ein Klappenschaden“, sagte Erika Meindl. Ihre Stimme klang dumpf unter dem Mundschutz hervor.
„Ich weiß. Ihr hatten sie gesagt, sie habe nur noch sechs Monate. Das war vor vier Monaten. Sie ist hergekommen, um hier zu sterben.“
„Aber wieso denn? So schlimm ist es doch nicht“, meinte Erika.
„Weiß ich. Wahrscheinlich hat es im akuten Zustand ganz schlimm ausgeschaut. Den Haken weiter hinüber, Jürgen, unters Bauchfell ... Ja, da schaut her. Eine richtig schulmäßige Ruptur. Da hilft nichts. Das Ding muss raus. Also Splenektomie.“
Die Milz musste entfernt werden. Dr. Dammeier hatte schon oft bei ähnlichen Unfällen erlebt, dass die Milz zerrissen war und eine innere Verblutung drohte. Beim Erwachsenen gab es gar keine andere Möglichkeit, als sie zu entfernen.
„Das, wenn wir gewusst hätten“, sagte Dr. Dammeier, „dass es nur die Milz ist, hätte ein Rippenbogenrandschnitt genügt, aber ich hab mir ein wenig Sorgen um die Leber gemacht.“
„Das sieht alles ganz gut aus“, meinte Fellau, der sich ein wenig vorbeugte.
Dr. Dammeier bereitete nun die Exstirpation, also die Entfernung der Milz vor.
Obgleich sie hier längst nicht das zur Verfügung hatten, was in einem großen Operationssaal vorhanden war, ging alles schnell voran. Sie arbeiteten Hand in Hand. Und es musste schnell gehen. Um die Blutung zu stillen, waren rasche Verklebungen mit Hilfe des Thermokauters, also einem elektrischen Brennstab, notwendig. Zudem mussten Nähte gelegt werden und Abschnürungen. Diese Kauterisation, wie es genannt wurde, nahm eine ganze Zeit in Anspruch. Dann, als die Blutung gestoppt war, begann das Abtrennen des Milzhalses und damit das Entfernen der an mehreren Stellen gerissenen Milzdrüse.
Nach der Entfernung wurde gesäubert, nach Nebenmilzen gesucht, die hier aber nicht gefunden wurden, weil es sie nicht gab.
„Alles frei“, erklärte Dr. Dammeier. „Die Blutungen sind behoben. Da drüben saugen wir noch etwas ab und hier auch.“
Fellau hatte das Absauggerät schon die ganze Zeit in den Händen. Immer wieder wurde ausgeflossenes Blut abgesaugt. Dann war es geschafft.
„Es sieht sehr gut aus. Was macht die Pumpe?“, fragte Dr. Dammeier und blickte kurz zu Erika Meindl hin.
„Sagenhaft gut. Und doch nicht normal.“
Kreuzbechner hatte vorhin, als er nicht mehr gebraucht wurde, die Blutgegenprobe gemacht und inzwischen die Konserven aus dem Kühlraum geholt. Roswitha hatte die Blutgruppe A, wie er ermittelt hatte. Und nachdem Kreuzbechner das Blut auf Körpertemperatur gebracht hatte, begann die Infusion.
Bei einer Notfalloperation herrschten andere Gesetze als im Normalfall, zudem in einem richtigen Operationssaal. Der Notfall ließ keine derartigen aseptischen Vorbereitungen zu, die im Normalfall zwingend vorgeschrieben waren. Auch die Laborvorbereitungen gab es hier nicht. Hier galt es erst einmal Leben zu retten. Und das Leben von Roswitha war mit dieser Operation zunächst gerettet. Eine Frage war nur, ob ihr nicht voll funktionsfähiges Herz weiterhin mitmachte.
„Zwei Tage hier und dann nach Innsbruck“, sagte Dammeier, als Dr. Fellau mit dem Schließen der Operationswunde begann und die Nähte legte.
„Das würde ich auch sagen. Nach zwei Tagen können wir das riskieren“, erklärte Erika Meindl.
„Wie ist das nur passiert?“, wollte Fellau wissen.
„Ein Spaziergang zur Talsperre, eine Lawine, und die Einzelheiten können wir nur raten. Wahrscheinlich wollte sie davonlaufen und ist gestürzt. Sie muss einen Steilhang hinuntergeflogen sein. Jedenfalls hat sie unten gelegen. Wir müssen noch den Nackenwirbel röntgen, und das Bein untersuchen. Das linke war es, glaube ich.“
„An dem Bein ist nichts“, sagte Kreuzbechner. „Es hat nur so verdreht dagelegen, aber keine Fraktur. Ich glaube nicht daran.“
„Trotzdem untersuchen wir es mit dem Gerät, wo wir schon einmal dran sind.“
Zum Röntgen der Nackenwirbel musste die Halskrause wieder entfernt werden. Als die Aufnahme gemacht war und auch das Bein an Knie und Knöchel geröntgt worden war, verschwand Kreuzbechner mit den Platten.
Indessen war in der Ambulanz alles erledigt. Erika Meindl schaltete die große Deckenlampe aus, streifte sich die Handschuhe ab und meinte:
„Das war ja eine ziemliche Überraschung. Erst der Ärger mit meinem Wagen, und dann das hier.“
Die tief stehende Sonne fiel durch eine der Scheiben und schien direkt auf das Gesicht von Roswitha.
Besorgt blickte Dr. Dammeier auf die elektronische Anzeige, die mit dem Kreislauf der Patientin verbunden war und wo die Ärzte sofort erkennen konnte, wie es mit der Patientin aussah.
„Überragend schaut’s mit der Pumpen net aus“, meinte Dr. Dammeier. „Gebt’s ihr auch Vitamine.“ Er wandte sich dabei an Erika.
„Schon vorbereitet“, erwiderte die Ärztin.
Über die Komplikationen einer Milzexstirpation brauchte Dr. Dammeier mit seinen Kollegen nicht zu sprechen. Die wussten, dass immer noch die Möglichkeit eines zentralisierten Schocks oder das Nierenversagens bestand. Dass es zu einer Nachblutung oder zu einem Abszess kommen würde, war relativ selten. Aber auch das musste in Betracht gezogen werden. Die größte Gefahr aber stellte nach wie vor der Herzfehler der Patientin dar.
Eine Viertelstunde später kam Roswitha wieder zu sich. Erika Meindl war bei ihr, als das geschah, und Roswitha sah die ihr fremde Ärztin verschlafen an, schloss wieder die Augen, öffnete sie erneut, wollte etwas sagen, aber ihr Hals war spröde infolge der Intubation.
„Alles ist gutgegangen“, sagte Erika Meindl und lächelte Roswitha an. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
„Was ... was ist mit mir?“, flüsterte Roswitha.
In diesem Augenblick kam Dr. Dammeier wieder an den Tisch, sah, dass seine Patientin wach war und meinte launig:
„Na, Roswitha, jetzt schaust, dass du noch am Leben bist, gell?“
Roswitha lächelte. Aber dann wurde sie ernst. „Sag mir, was ich hab!“
„Wir haben dir die Milz herausgenommen.“
Roswitha erschrak. „Und?“
„Du kannst damit ein normales Leben führen, Roswitha“, erklärte Dr. Dammeier. „Das Knochenmark und bestimmte Zellen, die wir die Retikulo-Endothelialen nennen übernehmen die Aufgabe der Milz. Du musst halt Blutuntersuchungen machen lassen, damit kontrolliert wird, ob alles richtig läuft mit dir. Und Vitamine und Steroidpräparate wirst vielleicht nehmen müssen.“
„Und wie lange ... wie lange muss ich hier liegen?“
„Liegen musst zwei Tage. Aber darüber reden wir später. Ruh dich jetzt aus! Net wir allein haben schwer arbeiten müssen. Dein Körper auch. Am besten versuchst, dass du ein wenig schläfst.“
Sie fühlte sich auch müde. Und das wurde besonders durch das Beruhigungsmittel hervorgerufen, das Erika Meindl der Infusion zugefügt hatte. Die Patientin sollte keinen Schmerz empfinden. Wenigstens am ersten Tage war es besser, den Körper ruhigzustellen.
Indessen lag auch die Aufnahme der Halswirbelsäule und des Beins vor.
Kreuzbechner hatte recht gehabt. Am Bein war nichts, nur Prellungen und wahrscheinlich eine Zerrung, denn das Sprunggelenk war geschwollen. Da war Kreuzbechner in seiner Therapie nicht zu schlagen. Er machte einen kühlenden Reparil-Umschlag, während Dr. Dammeier mit Dr. Fellaus Hilfe die Halskrause am Hals anlegte. Glücklicherweise war der Wirbel nur angebrochen und würde bei entsprechender Ruhigstellung rasch heilen können.
Roswitha nahm das alles wie im Halbschlaf wahr. Die Sedierung, also die Ruhigstellung, wirkte, und sie schlief auch richtig, als sie vom Tisch herunter auf die Trage gebracht wurde, und Fellau und Kreuzbechner sie nach nebenan in die Krankenbaracke schafften.
Als Erika Meindl mit Dr. Dammeier alleine war, sagte sie: „Und du glaubst, die können das in Innsbruck in Ordnung bringen? Das müsste richtige Herzchirurgie sein.“
„Sie haben einen richtigen Herzchirurgen dort.“
„Ich würde München vorziehen.“
Dr. Dammeier lächelte. „Aber Erika, wenn ich sag, dass die das können, dann können’s das auch.“
„Hoffentlich hält das Herz durch. Das wäre die Voraussetzung von allem. Es ist eine Superbelastung, einmal der spontane Blutverlust und dann wieder die Volumenauffüllung durch Frischblut. Davor noch der Transport. Wenn ich nur an die Wege denke. Bis Steegroden ist das ja schlimm. Die Lastwagen haben alles zerfahren.“
„Wir werden uns Zeit lassen. Schön langsam und sicher. Vielleicht nehmen wir den Hubschrauber.“
Erika Meindl seufzte. „Und ich hatte geglaubt, es würde ein ausgesprochen ruhiger Sonntag“, sagte sie ...
Draußen hupte ein Wagen.
„Wer macht da so einen Lärm?“, knurrte Dammeier. Da fiel ihm ein, dass Timo Veith kommen wollte.
Er schaute durchs Fenster und erkannte den langjährigen Freund. „Der Timo. Ich hätt’s mir denken können.“
Und schon war er an der Tür, öffnete sie und sah den breitschultrigen weiß-blonden Mann aus seinem Golf steigen.
„Hallo“, rief Timo Veith.
Dr. Dammeier sah ihn ernst an. „Sei nicht gar so laut, Timo. Am besten kommst her, ich muss dir was erzählen.“
Noch immer standen Erika Meindl und Dr. Dammeier in der Operationskleidung da, hatten den Mundschutz herabhängen und nur die Gummihandschuhe ausgezogen. Auch die Schürzen trugen sie nicht mehr.
„Hast Arbeit?“, rief Timo, bevor er heran war.
„Ja. Aber es ist gut gangen. Arbeit mit der Roswitha hats geben ...“