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„Das Schlimmste“, sagte Dr. Jürgen Fellau, „sind die Wochenenden, wenn hier auf der Baustelle alles wie tot ist und man herumlungert, als wenn man die Zeit im Lotto gewonnen hätte.“

Bernhard Kreuzbechner, der dem blonden zweiunddreißigjährigen Arzt zuhörte, grinste über sein breites Gesicht. Die ohnehin schmalen Augen waren nur mehr Striche. „Ja, was glaubst, Herr Doktor“, sagte Kreuzbechner, „auf Pfingsten, also nächste Woch, sollst sehn, wies Volk aus der Stadt umeinand rennt. In jede Schlucht kraxelns eini. Und nauf auf die Berg müssens auch. Und kein End findens net. Und plötzlich, wenns dunkel is, stehns droben und wissen net, wies abikommen sollen. Dann schreins nach der Bergwacht. Und unsereins muss aufi. Aufn Sonntag. Verstehst, Herr Doktor. Und deswegen hat der Ferdl-Doktor das mit'm Notdienst eingericht.“

„Ach was“, meinte Fellau, und sah den untersetzten, vierschrötigen Kreuzbechner missmutig an. Er wusste ja, dass der Zweiundvierzigjährige zur Bergwacht gehörte und schon manchen Bergsteiger, vor allen Dingen aber Touristen, aus dem Berg geholt hatte, wenn sie nicht mehr herunterkamen oder sich verletzt hatten. Und natürlich sah er ein, dass der Notdienst am Wochenende sein musste, wenn die Touristen kamen. Aber heute waren, soviel er wusste, gar keine Touristen gekommen.

„Hast du denn überhaupt Touristen gesehen, Kreuzbechner? Ist überhaupt jemand nach St. Hildegard gekommen?“

„Touristen vielleicht net“, sagte Kreuzbechner, der sich immer sehr bemühen musste, Hochdeutsch zu sprechen, so gut er das konnte, wenn er mit Dr. Fellau sprach, der ja aus dem Rheinland stammte. „Aber jemand ist doch gekommen.“

„Jemand? Wer denn?“, fragte Fellau, der sich so sehr langweilte, dass er schon froh war, den Kreuzbechner zur Gesellschaft zu haben.

„Als ich von der Messe kommen bin, hab ich sie gesehn, die Roswitha, die Lienzer Roswitha.“

Fellau hatte nur mit einem Ohr hingehört, verstand aber plötzlich, was Kreuzbechner gesagt hatte und sah ihn verwundert an. „Lienzer Roswitha? Sie wollen doch nicht etwa sagen, Roswitha Lienzer, die Sängerin?“

„Ja mei, eine Sängerin ist sie auch? Sie hat allweil gesungen. Früher im Kirchenchor. Und dann hat ihr reicher Onkel aus Innsbruck das Geld für das Internat gegeben. Und im Internat hat sie so schön gsungen, dass sie das Stipendium bekommen hat. Und danach ist sie auf einem Konservatorium gewesen. Ein blitzgescheites Madel ist sie, die Roswitha. Und ich hab sie gsehn.“

„Moment mal“, sagte Fellau und hob beschwörend die Hände. „Sie wollen doch nicht sagen, dass die berühmte Roswitha Lienzer hier aus dem Ort stammt?“

„Freilich will ich das sagen“, beteuerte der Kreuzbechner. „Die Eltern sind schon lang tot. Aber deswegen ist sie doch von hier.“

„Ich kann nicht glauben, dass wir von derselben Frau sprechen. Roswitha Lienzer hat an der Hamburger Staatsoper gesungen. Sie ist in Wien gewesen, und zuletzt war sie an der Metropolitan Opera in New York. Ich habe Platten von ihr.“

„Kann schon sein“, meinte der Kreuzbechner. „Aber sie ist es. Ich habe auch gehört, dass sie in Amerika drüben ist. Aber nun ist sie wieder heimkommen. Heim nach St. Hildegard.“

„Ich werde verrückt“, meinte Fellau. „Roswitha Lienzer stammt aus St. Hildegard. Das darf doch nicht wahr sein. Leute gibt’s hier! Der Dammeier ist von hier, und nun noch als Krönung Roswitha Lienzer. Haben Sie die schon mal singen hören, Kreuzbechner?“

„Ja freili. Lang ist’s her. Da ist sie noch ein junges Madel gewesen. Da hab ich sie singen hören. Schön hat’s gesunge.“

„Ich meine in einer Oper? Oder in einem Konzert?“

Der Kreuzbechner schüttelte traurig den Kopf. „Das ist für feine Leut. Dafür hab ich kein Geld net.“

„Aber im Radio. Man hat sie auch im Radio hören können.“

„Ja mei! Wissens, Herr Doktor, solche Musik ... die versteh ich net. Schlager, die mag ich schon. Oder ein Lied von hier. Das mag ich auch. Na ja, und sonntags in der Kirchen. Das hab ich schon als Kind glernt. Aber so feine Musik, so von Schubert, Beethoven und wie die alle heißen. Nein, Doktor, davon versteh ich nix.“

„Also, ich würde etwas dafür geben, dieser Frau zu begegnen. Solchen Leuten gehört ein Denkmal gesetzt. Das sind Genies. Die machen den Menschen Freude. Aber die bekommen nie ein Denkmal. Eher setzt man irgendeinem General oder einem Politiker ein Denkmal, denen die Menschheit meistens nur Blut und Tränen verdankt. Aber wer den Menschen Freude schenkt, den vergessen die Leute schon, wenn er erst ein paar Monate tot ist. Ich würde wirklich etwas dafür geben, sie singen zu hören.“

Hätte der Kreuzbechner nicht gewusst, dass Dr. Jürgen Fellau ein hervorragender Chirurg war und wirklich kein Spinner, so hätte er jetzt gedacht, dass der Doktor verrückte Einfälle hat. Aber so sah er den Arzt nur zweifelnd an und schwieg.

„Erzähl doch mal mehr von ihr! Du weißt das doch. Du bist doch von hier.“

„Ja scho. Aber da gibt’s net viel zu verzähln. Sie war ein Kind gwesn, da ist sie schon nach Innsbruck ins Internat. Und nachher, als sie wiederkommen is, da war’s auch net lang, da ist sie fort zum Konservatorium. Zuletzt hab ich sie gsehn, als die Mutter gestorben ist. Da ist die Roswitha kommen, war beim Begräbnis. Da ist sie erst kurze Zeit beim Konservatorium gewesen. Sie ist dann wieder weg, nach Wien. Und dann hab ich sie nie nimmer in St. Hildegard gesehn, bis heut. Fast hätte ich sie net erkannt. Ein schmuckes Madel ist’s, die Roswitha. Die tat dir auch gefallen, Doktor.“

„Mir geht es doch nicht um solche Dinge. Sie hat eine göttliche, eine begnadete Stimme, Kreuzbechner.“

Der Kreuzbechner konnte nicht begreifen, wie einem gestandenen Mannsbild, wie der Dr. Fellau eins war, die Stimme einer Frau wichtiger sein konnte als ihr Äußeres. Aber der Doktor war ein studierter Mann, der musste es ja wissen.

Sie saßen beide vor der Krankenstation. Fellau hatte beide Füße auf das Geländer der kleinen Holzveranda gelegt und blickte jetzt über seine Fußspitzen hinweg auf die noch immer schneebedeckten Berge, beobachtete den Flug eines Greifvogels, doch seine Gedanken kreisten immer wieder um die Musik und den Gesang von Roswitha Lienzer.

Schade, dachte er, dass ich die Platte nicht hier habe. Ich würde sofort eine spielen. Dann könnte der Kreuzbechner einmal hören, was richtiger Gesang ist. Eine Schande, dass die Leute hier so etwas gar nicht kennen.

„Da schau“, sagte der Kreuzbechner und deutete talwärts an der Baustelle vorbei, wo die Zufahrt zum Barackenlager heraufführte.

Dr. Fellau blickte in diese Richtung und entdeckte ebenfalls die Staubwolke. Ein Auto kam herauf.

„Wird der Ferdl-Doktor sein“, meinte Kreuzbechner.

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