Читать книгу 10 bewegende Romane Sommer 2021: Roman Paket Liebe und Schicksale 7/2021 - Thomas West - Страница 23
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ОглавлениеDie Stille des Sonntags war längst dahin. Seit dem frühen Morgen wurde auf der Baustelle wieder gearbeitet. Hunderte von Menschen gingen ihrer Tätigkeit nach. Baumaschinen tuckerten, Raupenmotoren brüllten auf, wenn sie eine schwere Last schieben mussten. Und die Kräne quarrten und quietschten. Betonmaschinen lärmten, dass es nur so im Tal dröhnte. Presslufthämmer meißelten den Fels mit ohrenbetäubendem Krach. Lastwagen brummten auf den Zufahrtswegen zur Baustelle hin und her. Die einen voll mit Abraum, die anderen polternd leer auf dem Rückweg.
In der Sanitätsbaracke achtete niemand auf das, was auf der Baustelle geschah. Bauleiter Wepperl wusste von der Lawine. Inzwischen hatte er seine Maßnahmen getroffen.
Indessen telefonierte Dr. Fellau zum vierten Mal mit Innsbruck, wo denn das Blut bliebe.
Man berichtete ihm, dass der einzige Hubschrauber, der zur Verfügung stand, zur Rettung von Opfern eines Verkehrsunfalles unterwegs war. Mit einem Auto das Blut zu schicken, würde zu lange dauern.
Dr. Dammeier rief ein fünftes Mal an und wandte sich direkt an seinen früheren Chef, Professor Dr. Holloschek.
Er bekam ihn auch sofort und hatte das Glück, dass der nicht im Operationssaal stand.
Holloschek versprach ihm, das Blut auf schnellstem Wege zu beschaffen und wenn es notfalls von Wien herkäme, fügte er hinzu.
Dr. Dammeier wusste, dass er sich auf Professor Holloschek verlassen konnte. Aber es verging dann doch noch eine Dreiviertelstunde, ehe der Hubschrauber mit den Blutkonserven, die so dringend benötigt wurden, einschwebte.
Fünf Minuten zuvor geschah noch ein Unfall auf der Baustelle. Ein Arbeiter verletzte sich mit einem Bolzenschussgerät so schwer im Fuß, dass eine komplizierte Operation nötig gewesen wäre. Dr. Dammeier führte nur die Erstversorgung durch, und der Hubschrauber, der inzwischen gelandet war, wartete, bis Dr. Dammeier mit der Erste-Hilfe-Leistung fertig geworden war. Dann wurde der Arbeiter auf der Trage in die Maschine geladen, die unmittelbar danach abhob, um den Verletzten nach Innsbruck zu schaffen.
Während Erika Meindl das Frischblut an die Infusion Roswithas anschloss, kam ein Anruf aus St. Hildegard. Eine Küchenhilfe des Wirts Dagobert Hofer hatte sich mit kochendem Wasser Unterleib und Oberschenkel verbrüht.
Dr. Fellau fuhr sofort mit dem Jeep los.
Eine halbe Stunde später wurde ein Kranführer gebracht, der offenbar Kreislaufzusammenbruch erlitten hatte.
Das war ein Fall für Dr. Erika Meindl. Dr. Dammeier kümmerte sich nun wieder um Roswitha.
Er stand noch nicht richtig neben ihrem Bett, als Timo Veith eintraf. Kreuzbechner, der alle Hände voll mit der Unterstützung Dr. Erika Meindls bei dem Mann mit Kreislaufkollaps zu tun hatte, schickte Timo Veith zur Baracke.
Aber der Zustand, in dem sich Roswitha befand, ließ keinen Besuch zu. Und wenn er noch so kurz war. Schon allein wegen der Gefahr zusätzlicher Infektion. So konnte Timo Veith die Patientin nur durch die Scheibe des Fensters sehen.
Roswitha war erneut nach dieser schweren, dramatischen Operation in den Morgenstunden ruhiggestellt worden und befand sich in einer Art Halbschlaf, in dem sie nicht imstande war, ihre Umwelt wirklich wahrzunehmen.
Dr. Dammeier kam dann nach draußen, und Timo schaute ihn betroffen an. „Was ist denn nun noch geschehen?“
Dr. Dammeier erzählte es ihm kurz, und dann schloss er mit den Worten: „Wir können helfen, Timo. Aber heilen tut ein anderer, dort droben.“ Er deutete zum Himmel.
„Wie sind denn die Aussichten“, wollte Timo wissen.
„Wenn sie die nächsten zehn Tage übersteht“, erklärte ihm Dammeier sachlich, „dann wird's richtig gesund. Aber Sorgen mach’ ich mir schon.“
„Du meinst, es könnt’ zu Komplikationen kommen?“
Dr. Dammeier nickte auf diese Frage Timos hin. „Ja, das denk ich schon. Du hast gehört, wie’s gangen ist. Eine Notfalloperation halt. Kein richtiger OP, kein aseptischer Bereich, aber hätten wir’s net so gemacht, wär’s tot.“
„Entsetzlich. Und was war doch noch mal genau am Herzen? Erklär’s mir doch!“
Ferdl Dammeier seufzte. „Wird net leicht sein, einem Laien zu erklären. Aber gut, ich versuch’s halt. Die Aorta, die Hauptschlagader, macht an der Stelle, wo sie mit dem Herz verbunden ist, einen Bogen, den Aortenbogen. Normalerweise liegt sie frei. Aber hier ist die Herzlage anomal gewesen. Das Herz zeigt mit der Spitze beim normalen Menschen nach unten, ein wenig zur Seite geneigt, nach links. Bei ihr war das Herz fast in Seitenlage mit der Herzwand am Aortenbogen verklebt, ja, man könnte sagen angewachsen. Ich hab das erst einmal in meinem Leben gesehn. Und die linke Herzkammer war eingedrückt durch diese Verwachsung. Bei dem Aufprall, als sie gestürzt ist, hat es nicht nur die Milz zerrissen, sondern der Aortenbogen hatte auch einen Riss, einen ganz dünnen, sodass das Blut nur heraussickerte, aber nicht herausgesprudelt ist. Der Verlust war am Anfang ganz minimal. Aber mit der Zeit ist das stärker geworden. Früher oder später wäre der Riss aufgeplatzt. Das Blut hätte sich in den Brustkorb ergossen. Dann wäre jede Rettung zu spät gekommen. Diese Verletzung ist bei Aufprallunfällen sehr häufig, vor allen Dingen, wenn Leute im Auto fahren und net angeschnallt sind. Dann prallen sie mit dem Brustkorb auf das Lenkrad, und da kann so etwas passieren. Bei der Milzoperation haben wir das nicht gemerkt. Die Milz liegt unterm Zwerchfell. Und einfach so, um nachzusehn den Thorax zu öffnen, ich meine den Brustraum, wer tut das schon? Aber nachher ist der Blutdruck, der zunächst lange konstant gewesen ist, abgesackt. Es hat Herzunregelmäßigkeiten geben und schließlich Herzstillstand. Ich musste den Thorax aufmachen, um das Herz zu massieren. Und da hab ich die Ruptur gsehen. Ich denk, dass alles gut is. Und ich hoff’, dass es auch gut bleibt.“
„Was du mir gestern gesagt hast, Ferdl, darüber hab ich die ganze Nacht nachdenken müssen. Du verlangst viel.“
„Net für mich, Timo“, sagte Dr. Dammeier mit hintergründigem Lächeln.
„Ich weiß, Ferdl. Trotzdem ist es viel. Aber ich hab dir gesagt, dass ich es tu, also tu ich’s auch.“
„Willst du es der Sabrina erzählen?“
Timo schüttelte den Kopf. „Auch darüber hab ich nachgedacht. Ich tu’s net.“
Dr. Dammeier lag es auf der Zunge, Timo zu fragen, ob er denn wirklich daran glaubte, dass Sabrina für ihn die große Liebe sei. Aber er unterließ es. In der jetzigen Situation hielt er das für unangebracht. Jetzt war erst einmal wichtiger, Roswitha aus der größten Lebensgefahr herauszubringen. Die Absicht, sie übermorgen nach Innsbruck zu schaffen, musste er ohnehin aufgeben.
Transportfähig war Roswitha jetzt nicht mehr.
„Wann könnt’ ich mit ihr reden“, wollte Timo wissen.
„Morgen vielleicht. Heut besser net.“
„Du siehst ja auch aus, als hättest du dringend Schlaf nötig“, meinte Timo, als er Ferdl prüfend anschaute.
Der zuckte die Schultern. „Manchmal ist hier tagelang nix. Und dann kommt an einem Tag und einer Nacht alles.“
Wie zur Bestätigung läutete wieder das Telefon über dem Platz vor der Baracke.
„Da siehst. Entschuldige“, sagte Dammeier und lief in die Baracke hinein, Kreuzbechner kam gerade aus dem zweiten Krankenraum heraus. Da tauchte Dr. Dammeier am Fenster auf, öffnete es und rief ihm zu: „Nimm den Sanka! Dem Hofker Bauer hat ein Stier den Oberschenkel aufgeschlitzt. Mach die Erste Hilfe und bring ihn heraus zu uns!“
Sie hatten einen Rettungswagen auf der Baustelle, der vom österreichischen Heer stammte. Er war geländegängig, aber wie Dr. Dammeier immer sagte, eine „arge Rumpelkiste“. Doch jetzt blieb gar keine andere Wahl, um den Patienten zu holen.
Kreuzbechner lief zum Sanitätskraftwagen, den sie, weil es ein Militärfahrzeug war, Sanka nannten, und fuhr kurz darauf los.
„Wenn ich mehr Zeit hätte“, sagte Timo, „würde ich mir einen weißen Kittel anziehen und mich um die Roswitha kümmern.“
„Ich hab schon eine Schwester angefordert. Sie wird noch im Laufe des Tages von Innsbruck kommen“, sagte Dr. Dammeier. „Wenn wir Patientinnen haben, ist es mit dem Kreuzbechner net getan. Mein Kollege Fellau wird das Mädchen, dass sich verbrüht hat, auch heraufbringen, denk ich. Ich weiß net, wie schlimm es aussieht. Aber du siehst, Timo, viel Zeit habe ich nimmer.“
„Ich fahr jetzt besser zurück. Aber am Nachmittag komm ich wieder“, erklärte Timo Veith. „Ich werde meinem jungen Verwalter sagen, was zu tun ist, dann komm’ ich herauf, und ich bleib hier und kümmer’ mich um Roswitha. Bist’ einverstanden?“
Dr. Dammeier schüttelte ungläubig den Kopf. „Das wirst net schaffen, Timo. Lass uns das machen! Komm sie morgen besuchen! Sie braucht dich. Aber pflegen tun wir sie. Ich hab dir ja gsagt, wir bekommen eine Schwester aus Innsbruck. Und jetzt fahr! Aber morgen sei hier! Da braucht sie dich wirklich. Nicht um sie zu pflegen. Sie braucht dich, damit du ihr Mut machst.“
Timo Veith schluckte, nickte dann und sagte zögernd: „Also gut. Aber du rufst mich an, wenn was ist. Ich werd’ doch am Nachmittag heraufschauen.“
„Tu’s, wenn du willst! Und jetzt muss ich mich um die Patienten kümmern.“ Es wurde ein sehr turbulenter Vormittag. Aber immerhin hatte Dr. Dammeier so viel Zeit, um ab und zu nach Roswitha zu schauen.
Erika Meindl war voller Hoffnung. Der Kreislauf und die Atmung, aber auch das Herz, schienen tadellos zu arbeiten. Eigentlich wurde es immer besser, je mehr das verlorene Blut durch Frischblut ersetzt werden konnte. Dies geschah nur allmählich. Aber die Furcht vor einer Infektion, vor Komplikationen, ließ die Ärzte nicht los.
Gegen Mittag tauchten dann die ersten Arbeiter auf, die sich irgendwelche Schürfwunden oder andere Verletzungen bei der Arbeit zugezogen hatten und versorgt werden mussten. Indessen war auch Dr. Fellau längst wieder da. Er hatte das Mädchen mit den Verbrühungen nicht mitgebracht. Offensichtlich war alles doch nicht ganz so schlimm verlaufen wie befürchtet.
Am frühen Nachmittag kam dann die Schwester aus Innsbruck, die Professor Holloschek geschickt hatte. Es war eine Frau um die vierzig, sehr resolut und äußerst erfahren.
Endlich konnte sich Dr. Erika Meindl für zwei Stunden hinlegen, um zu schlafen.
Aber im Verlauf des späten Nachmittags wurden dann noch drei Leichtverletzte gebracht, die ambulant versorgt werden konnten. Und am Abend, als die Ärzte gerade aßen, kam der Alarmruf aus Steegroden, wo ein fünfjähriger Bub Pflanzengift geschluckt haben sollte.
Dr. Fellau und Kreuzbechner rasten sofort mit dem Sanka hinunter, um dem Jungen den Magen auszupumpen. Aber als sie unten ankamen, stellte sich alles als Irrtum heraus. Eine erfreuliche Meldung allerdings, denn der Bub hatte nicht vom Pflanzengift, sondern Rizinusöl getrunken, das sich in einer Flasche befand, die gleich neben dem Gift gestanden hatte.
Nachdem Fellau den Bauern zurechtgestaucht hatte, dass er Gifte frei herumstehen ließ, kam er mit Kreuzbechner wieder zurück. Der Bub würde jedenfalls die kommende Nacht nicht sehr viel zum Schlafen kommen und wohl die meiste Zeit auf der Toilette verbringen.
Am Abend, als die Sonne schon hinter den Südtiroler Bergen versank, wurde Roswitha richtig wach. Dr. Erika Meindl war gerade bei ihr, und hatte Schwester Waltraud, die nun auch einmal zum Essen kommen sollte, abgelöst.
Roswitha hatte schon eine ganze Zeit lang die Augen geöffnet gehabt, schien aber Mühe zu haben, sich mit ihrer Umwelt zurechtzufinden. Allmählich sah sie doch klarer und begriff, dass sie noch immer in der Krankenstation lag. Was zwischendurch geschehen war, wusste sie nicht.
Fragend schaute Roswitha auf die Ärztin. Als die bemerkte, dass Roswitha jetzt offenbar völlig klar sah, setzte sie sich auf den Stuhl neben dem Bett und sagte: „Na, tut es irgendwo weh?“
Roswitha wollte die rechte Hand bewegen, um auf ihre Brust zu zeigen, aber an diesem Arm waren ebenso wie an dem anderen Kontrollgeräte angeschlossen. Am linken Arm hatte sie zudem noch den Infusionskatheter.
„Nein, lassen Sie mal Ihren Arm ruhig“, sagte Dr. Meindl. „Tut die Brust weh?“
„Ein wenig“, lispelte Roswitha, die Mühe hatte, richtig zu sprechen.
„Er hat Ihr Herz operieren müssen“, sagte die Ärztin und erklärte Roswitha dann, was in der Nacht gegen Morgen geschehen war. Sie brachte es Roswitha sehr schonend bei, und die erschrak auch gar nicht. Als die Ärztin fertig war, sagte Roswitha, schon ein wenig besser verständlich: „Werd’ ich wieder gesund?“
„Wir hoffen schon“, entgegnete Erika Meindl. „Wir haben Sie unter starken Antibiotikumschutz gestellt. Wissen Sie, so eine Notfalloperation ist keine Kleinigkeit.“
„Werd’ ich wirklich wieder gesund, wenn alles gut geht?“
„Ja, das glaub ich schon“, sagte Dr. Meindl. „Das mit Ihrem Herzen, ich denke, das hat er in Ordnung bringen können. Ein teuflischer Zufall, dass Sie diese Ruptur an der Aorta hatten. Und so hat er auch gesehen, was noch alles daran ist. Ich denke schon, dass Sie wieder gesund werden. Aber genau wissen ... genau wissen tut das niemand. Doch Sie sind jung. Und ein wenig Glück brauchen wir auch. Und bemühen tun wir uns, so gut wir können.“
„Wo ist er?“, fragte Roswitha.
„Doktor Dammeier?“
„Ja, er.“
„Er hat zu tun. Aber ich seh ihn gleich und sag ihm, dass Sie wach sind. Er wird bestimmt zu Ihnen kommen. Und Herr Veith ist heute Morgen schon da gewesen. Doktor Dammeier hat ihn weggeschickt. Hat ihm gesagt, dass er erst morgen wiederkommen soll. Er wollte schon am Nachmittag kommen. Aber er hat sehr viel zu tun.“
Roswitha schien enttäuscht. Sie schloss die Augen und sagte nichts.
Doch plötzlich ging die Tür auf, und Dr. Dammeier kam herein.
„Unsere Patientin ist wach“, sagte Erika Meindl lächelnd.
„Das trifft sich wunderbar. Ich habe gerade einen Pseudokollegen mitgebracht. Schau dir den an, Erika!“
Roswitha hatte die Augen geöffnet, und als Dr. Dammeier das bemerkte, schaute er sie an und sagte: „Wir haben einen neuen Doktor auf der Station. Hier ist er.“ Dr. Dammeier lachte, und herein kam Timo Veith im weißen Kittel, darunter weißes Hemd und weiße Hosen.
„Ich habe ihn aseptisch gemacht“,, meinte Ferdl Dammeier launig.
Timo Veith hatte nur Augen für Roswitha. Und sie sah nur ihn. Dass er einen weißen Kittel trug, irritierte sie gar nicht. Sie hatte schon verstanden, was Ferdl Dammeier gemeint zu haben schien. Ihre Gedanken kreisten um ganz andere Dinge.
Timo war also doch gekommen ...