Читать книгу 10 bewegende Romane Sommer 2021: Roman Paket Liebe und Schicksale 7/2021 - Thomas West - Страница 21
Оглавление8
Sie hatten sich alle zwei Stunden abgelöst. Jetzt war es kurz nach drei Uhr morgens. Erika Meindl hatte wieder die Wache bei Roswitha.
Ein Buch in der Hand, saß sie neben der Patientin, die zu schlafen schien. Aber plötzlich wurde sie unruhig. Und dann war sie hellwach, blinzelte in die Lampe, die schräg neben dem Bett hing, und Erika Meindl ließ das Buch, das sie in den Händen hielt, sinken. Sie sah deutlich, dass Roswitha hellwach war.
„Na, sind Sie munter geworden?“, fragte Erika.
Roswitha versuchte, den Kopf zur Seite zu wenden, aber die Halskrause behinderte sie. So blickte sie auf Erika und fragte mit spröder Stimme: „Wo ist er? Wo ist Timo?“
„Meinen Sie Herrn Veith? Der wird am frühen Morgen wiederkommen. Er musste zurückfahren nach Innsbruck. Aber er kommt hundertprozentig zurück. Es ist noch Nacht. Haben Sie Schmerzen?“
Roswitha schien in sich hineinhorchen zu müssen, um herauszufinden, ob sie Schmerzen hatte. Sie schloss kurz die Augen und murmelte dann: „Nein ... nichts, nicht sehr. Mein Bauch, was ist damit?“
Sie schien sich an nichts zu erinnern. Und Erika Meindl erzählte ihr der Reihe nach ganz ruhig, was hinter Roswitha lag. Der offensichtliche Sturz in die Tiefe im Zusammenhang mit der Lawine und dann die Operation wegen der verletzten Milz. Natürlich stellte sie alles harmloser dar, und dass ein Halswirbel angeknackst war, verschwieg sie völlig.
Als sie alles gehört hatte, sagte Roswitha nur:
„Er kommt am Morgen? Kommt er bestimmt?“
Der Verdacht, dass sie dem Bericht Erikas gar nicht richtig zugehört hatte, kam der Ärztin sofort. Und sie musste mit Schrecken an das denken, was ihr Dr. Dammeier von Timo erzählt hatte. Du lieber Himmel, gib, dachte Erika Meindl, dass Ferdl recht hat, und bei Timo noch ein Fleck im Herzen frei ist für Roswitha. Sie muss ihn unbändig lieben. Ich als Frau spüre das.
Aber sie sagte nur: „Er kommt gewiss wieder. Ganz sicher. Ich weiß es. Er wäre am liebsten geblieben“, behauptete sie, „aber er hat noch einmal kurz zurückgemusst. Ich denke, dass er morgen früh kommt und den ganzen Tag bleiben wird.“
Roswitha schien beruhigt. Sie schloss wieder die Augen, da plötzlich blähten sich ihre Nasenflügel, sie öffnete den Mund und schien schwer Luft zu bekommen. Ihre Lippen wurden dunkel, der Atem ging hastig und flach.
Gewohnheitsmäßig griff Erika Meindl nach dem Puls Roswithas und spürte, wie das Herz unruhig schlug. Sofort nahm sie ihr Stethoskop, streifte die Decke von Roswithas Brust und begann sie abzuhören. Was sie da hörte, war ein einziges Alarmsignal.
Roswitha befand sich unmittelbar vor einem Kollaps.
In solchen Augenblicken musste sich Erika Meindl jedes Mal zur Ruhe zwingen. Nur jetzt keine Panik, dachte sie. Alles machen, wie gelernt. Fehler könnten tödlich sein.
Sie hatte alles vorbereitet, obgleich das hier keine hochmodern ausgerüstete Intensivstation war, sondern nur eine Krankenstation. Aber einen Defibrillator, der die Herztätigkeit anregen konnte, gab es. Und auch ein Elektroschock-Gerät. Sie hatte beides zur Verfügung. Doch noch schlug dieses Herz. Noch war es zu keinem Herzstillstand gekommen. Aber es schlug unregelmäßig. Und dazu noch unterschiedlich kräftig. Es gab starke Schläge und ganz matte.
Sie maß den Blutdruck. Und wenn der auch nicht hoch war, so hatte er sich nicht verändert. Dr. Meindl ließ jetzt am Arm angeschlossen, um den Blutdruck ständig kontrollieren zu können. Während sie sich noch damit befasste, folgte der Errötung von eben eine Blässe im Gesicht der Patientin. Die Lippen wurden fast weiß. Der Blutdruck, der eben noch konstant schien, sackte ab. Die Atmung wurde schlecht, der Herzschlag noch unregelmäßiger.
Dr. Meindl griff zum Telefon, das unweit von ihr stand und wählte den Apparat jener Baracke, in dem Dr. Dammeier und Dr. Fellau schliefen. Auch Kreuzbechner war da.
Es dauerte doch eine geraume Zeit, bis jemand abhob. Es war Kreuzbechner.
„Wecke die beiden und komm auch mit. Lebensgefahr!“
Dr. Dammeier war der Erste, der auftauchte. Mit nacktem Oberkörper, nur die Hosen an, so stürmte er herein.
„Der Blutdruck sackt weg. Aber es ist nicht die Milz. Es ist das Herz. Es sieht fast wie ein Infarkt aus, aber es muss etwas anderes sein. Es kommt mir fast wie eine Ruptur vor. Da, jetzt ... o Gott, Herzstillstand!“
Dr. Dammeier blieb ruhig. Er schob den Defibrillator herüber, und Erika Meindl, die sich ebenfalls zur Ruhe zwang, handelte wie ein Automat. Als der Defibrillator angeschlossen war und die Impulse das Herz wieder in Bewegung setzen sollten, sagt sie zweifelnd: „Ich glaube nicht, dass wir das schaffen.“
„Dann gibt es nur eins“, erklärte Dammeier entschlossen. „Thorakotomie. Und das sofort! Los, in die Ambulanz mit ihr! Voran!“
Kreuzbechner stürzte herein. Ihm folgte Fellau.
Es dauerte Sekunden, während Erika Meindl versuchte, mit dem Defibrillator doch noch etwas zu erreichen. Aber der Herzstillstand blieb unbeseitigt.
Als sie die Patientin im Laufschritt nach nebenan schafften, sagte Dr. Dammeier: „Wenn es ein Hämatothorax ist, bedeutet es den Tod.“
Kreuzbechner, der sich mit solchen Begriffen nicht ganz so sicher auskannte, meinte: „Was ist das denn?“ Dabei sah er Dr. Fellau an.
„Wenn die Aorta in der Herzgegend reißt und das Blut in den Brustkorb läuft.“
„Du lieber Himmel, das wird doch nicht sein? Ja, wieso denn?“
„Wieso?“, fragte Dammeier, als sie die Patientin schon auf den Tisch gebettet hatten und in fliegender Eile alles zu einer Brustkorböffnung vorbereiteten. „Es hat sich ein Aneurysma gebildet, eine Aufbauchung. Das hängt mit dem Sturz zusammen. Während wir die Milz operiert haben, konnten wir nicht sehen, dass oben am Herzen etwas ähnliches sein muss. Aber es war eben noch keine Ruptur. Die ist jetzt erst eingetreten.“
„Ein Aneurysma“, murmelte Kreuzbechner. Er wusste, was das ist. Wenn die Außenwände einer Ader verletzt wurden, und diese Ader sich plötzlich wie ein Ballon aufblähte, bis sie irgendwann platzte. Und jetzt schien sie geplatzt zu sein.
Es war keine Zeit, um die Operation mit aseptischen Vorkehrungen durchzuführen. So, wie er war, nur Gummihandschuhe über den Händen, operierte Dr. Dammeier. Die Patientin befand sich nicht in Narkose, aber Dr. Meindl war bereit, die Narkose sofort anzulegen, sobald die Patientin womöglich das Bewusstsein erlangte. Aber dazu musste das Herz erst einmal wieder schlagen.
In einer Schnelligkeit, wie das Erika Meindl in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte, öffnete Dammeier den Brustkorb, und dann hatte er den Herzbeutel erreicht, während gleichzeitig von Dr. Fellau versucht wurde, die möglicherweise verlorene Blutmenge wieder in die Adern zu bekommen. Er allerdings nahm dazu Plasmaexpander, bis Kreuzbechner endlich noch zwei Flaschen vom Frischblut aus Roswithas Blutgruppenbereich herbeigeschafft hatte.
Das Herz lag frei. In diesem Augenblick hatte auch Dr. Dammeier schon den Riss direkt am Herzen festgestellt. Und hier sickerte das Blut heraus.
Sofort führte er mit der Hand eine Kompression durch, während ihm Dr. Fellau die Gefäßklemmen hereinreichte, dass er sie proximal und distal anlegen konnte.
„Defibrillator“, sagte Dammeier nur, und Fellau reichte ihm die beiden Anschlüsse.
Dr. Dammeier hielt sie ans Herz, der Stromstoß kam, und da, der Herzmuskel zog sich zusammen, entspannte sich, zog sich zusammen ...
„Es schlägt!“, sagte Dammeier nur. „Es schlägt!“
Und nun schlug es aus eigener Kraft.
Es schlug weiter und weiter, und Dammeier nähte.
Roswitha kam zu sich. Erika Meindl legte ihr sofort die Narkose an.
„Es ist so weit“, rief sie, als die Narkose wirkte, und Dammeier begann zu nähen. Mit nacktem Oberkörper, nur die Gummihandschuhe, den Mundschutz, keine Schürze, nichts. Dazu war keine Zeit mehr gewesen. Ein Noteingriff, wie er im Buche stand.
Er nähte die Ruptur, den Riss also, und bei dieser Gelegenheit entdeckte er etwas, das ihm alles erklärte.
„Schau hier, Erika“, sagte er nur und gab auch Fellau einen Wink sich anzusehen, was er schon gesehen hatte.
Da war eine Verwachsung an Roswithas Herzen. Und deshalb hatte schon dieser Stoß, den sie erlebt hatte, zur Ruptur, also zum Riss an der Außenwand geführt.
„Das ist die Gelegenheit“, sagte Erika. „Das sollten wir jetzt machen.“
„Und ich mach’ es auch“, erklärte Dammeier.
Vorsichtig trennte er die Verwachsung auseinander, nähte und fixierte dieses angewachsene Stück der Aorta weiter oben, damit es nicht wieder anwachsen konnte.
Es dauerte dann noch gut zwei Stunden, bis sie mit allem fertig waren. Und danach galt es, die Patientin unter starken Antibiotikumschutz zu setzen, weil die Gefahr einer Infektion weitaus größer war, als bei einer normalen Operation im aseptischen, klinisch einwandfreien Operationssaal.
Aber Roswitha lebte.
„Blutdruck steigt erfreulich“, hatte Erika Meindl immer wieder während der Operation gesagt. Und am Schluss der Operation war der Blutdruck mit Hilfe des Plasmaexpanders und nachher des weiter zugeführten Frischblutes beinahe normal.
Aber sie brauchten noch viel mehr Blut. Und das hatten sie hier nicht. In Innsbruck war es, dieses Blut, das sie so dringend brauchten. Immerhin, noch während der Operation hatte Erika Meindl in Innsbruck angerufen. Man hatte versprochen, es auf den Weg zu bringen.
Noch immer war der Fahrer nicht da. Die Operation war beendet, und mit Plasmaexpander konnte der Volumenverlust im Kreislauf der Patientin nicht ewig aufrecht erhalten werden. Sie brauchten frisches Blut.
Und sie brauchten es jetzt!