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Kapitel 5

Sonntag, 13. Mai

Rechtzeitig vor zwölf Uhr hielt er sich wieder in der Nähe ihres Hauses auf. Dieses Mal merklich weiter entfernt, im Schatten eines Baumes, der am Straßenrand stand. Er hatte den Fahrradhelm gewechselt, trug heute ein graues Modell. Sein Fahrrad sowie einen Rucksack hatte er an den Baum gelehnt. Er achtete darauf, möglichst nicht von Passanten gesehen zu werden. Zum Glück war sonntags um diese Zeit nicht viel los auf der Straße.

In der linken Hand hielt er ein Smartphone, welchem er vermeintlich seine Aufmerksamkeit schenkte. Mit der rechten Hand wischte er gelegentlich über das Display, mittlerweile eine der unauffälligsten Verhaltensweisen von Menschen in Warteposition. Wobei das Smartphone nur ein Fake war. Es handelte sich bei dem Gerät um ein ausrangiertes Modell, welches gar keine SIM-Karte mehr enthielt. Er führte es lediglich als Requisite zur Tarnung offen mit sich herum.

Als ein Auto die Straße entlangfuhr, drehte er den Kopf weg, um nicht unnötig sein Gesicht zu präsentieren.

Er hatte sich ein kleines Zeitfenster gesetzt, in dem er im Umkreis ihres Hauses warten wollte. Wenn sie sich in diesem Zeitraum nicht auf den Weg machte, würde er wieder verschwinden und sein Vorhaben vertagen. Auf keinen Fall durfte er sich durch ein zu langes Verweilen an einem Ort verdächtig machen.

Die Chance war groß, dass Nadine Odem um diese Zeit zu ihrer Geocaching-Tour in den Misburger Wald aufbrechen würde.

Was sprach dagegen? Dass sie es sich kurzfristig anders überlegt hatte. Oder dass sie unter „Sonntagmittag“ dreizehn Uhr oder später verstand. Und sollte sich Nadines Ehefrau doch dazu durchringen, sie zu begleiten, ließ sich sein Plan ebenfalls nicht durchführen.

Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Bereits kurze Zeit nach seiner Ankunft kam Nadine aus dem Haus. In der Eingangstür stand ihre Ehepartnerin und rief ihr etwas zu.

Nadine war mit einer dunkelroten Windjacke und einer langen Blue Jeans bekleidet. Einen Rucksack hatte sie ebenfalls dabei. Aus der Garage, welche unmittelbar ans Haus grenzte, holte sie ihr Fahrrad. Zuvor hatte sie ihren schwarz-weißen Schutzhelm aufgesetzt.

Die Partnerin winkte ihr kurz und schloss die Eingangstür.

Ein Abschied für immer!

Nadine trat in die Pedale und fuhr los. Er ließ ihr einen kleinen Vorsprung, dann fuhr er in ausreichendem Sicherheitsabstand hinter ihr her.

Ihren Fahrstil hatte er richtig eingeschätzt. Sie war eine geübte Radfahrerin, fuhr durchschnittlich schnell, ohne Ambitionen zu rasen. Es war kein Problem für ihn, ihr zu folgen. Er konnte sich ruhig etwas zurückfallen lassen, da er wusste, wohin die Fahrt gehen würde. Rechtzeitig vorm Wald würde er den Abstand wieder verkürzen. Er würde sie nicht entkommen lassen.

Im Wald bist du dran!

*

Nadine Odem freute sich auf die nächsten Stunden. Ungefähr zwanzig Minuten veranschlagte sie mit dem Fahrrad von ihrem Haus zum Misburger Wald, der sich in einem nordöstlichen Stadtteil von Hannover befand.

Zu Hause hatte sie eine Route ausgearbeitet, die sie in einem Rundweg durch den Wald von einem Geocache zum nächsten führen würde. In einigen Fällen hatte sie zuvor am PC einige Rätsel lösen müssen, um die Koordinaten der versteckten Behälter zu erhalten. Dabei handelte es sich um sogenannte Mystery-Caches. Bei den anderen Caches, die sie heute finden wollte, war der Fundort frei zugänglich auf einer digitalen Karte für Geocacher verzeichnet.

Sie radelte durch Wohngebiete, passierte den Hermann-Löns-Park und später einen Kleingartenverein.

Schade, dass Mareike keine Lust zum Geocaching hat. Aber sie nervt die ständige Unterbrechung eines Spaziergangs oder einer Fahrradtour, ‚nur um im Dreck nach diesem Schnickschnack zu suchen‘, wie sie sich ausdrückt.

Nadine erreichte den Misburger Wald, der Teil eines größeren Landschaftsschutzgebietes war, zu dem auch das Altwarmbüchener Moor gehörte. Der Wald bestand aus Laub- und Nadelbäumen. Irgendwo gab es hier einen idyllischen See und mehrere Hundert Jahre alte Bäume, die als Naturdenkmal galten.

Zunächst fuhr sie einen breiten geraden Weg entlang und überholte zwei Spaziergänger. An ihren Lenker hatte sie eine Halterung für ihr Smartphone montiert, auf dem sie mithilfe einer Geocaching-App ihre Ziele anvisierte. Neben den breiten Wegen, ideal für Radfahrer und Spaziergänger, führten seitlich immer wieder Pfade durch das üppig grüne Walddickicht. Die Caches lagen in der Regel etwas abseits, um die Gefahr, dass sie zufällig von Muggles entdeckt wurden, zu verringern.

Ein Rennradfahrer, bekleidet mit einem blau-gelben Trikot, starrer Blick nach vorne, kam ihr zügig entgegen und schoss an ihr vorbei. Ein Radtrikot mit kurzen Hosen, wie er es trug, wäre für sie völlig unpassend. Als Geocacherin musste sie einplanen, dass der Weg zum Schatz durch Dornengestrüpp und Brennnesseln führte.

Behälter und Logbuch konnten unterschiedliche Größen aufweisen. Es gab Minibehälter, meistens magnetisch, die beispielsweise an der Hinterseite eines metallischen Hinweisschildes angebracht waren. Das Logbuch bestand in diesem Fall aus einer winzigen Papierrolle. Bei den meisten Behältern handelte es sich um PETlinge, eine Art Reagenzglas aus Kunststoff mit Schraubverschluss, oder um Filmdosen. Die dazugehörigen Logbücher waren in der Regel zusammengeheftete Papierstreifen im Längsformat.

Hier im Wald und seiner Umgebung musste Nadine damit rechnen, dass die Caches in Astlöchern, in Baumstümpfen, unter Steinen im Gebüsch oder im Hohlraum eines Pfostens versteckt sein konnten. Die entsprechende Geocaching-Ausrüstung – Teleskopmagnet, Inspektionsspiegel, Pinzette, Draht, Einmalhandschuhe – führte sie im Rucksack mit sich. Zusätzlich hatte sie in der Jackentasche ein Notizbuch mit Kugelschreiber.

Sie stoppte ihre Fahrt.

Hier in der Nähe muss der erste Cache sein.

Sie blickte sich nach eventuellen Muggles um. Kein Mensch zu sehen bis auf einen Radfahrer, der weit entfernt hinter ihr haltgemacht hatte und vom Rad gestiegen war.

Jetzt kann ich es wagen.

Sie stellte ihr Rad am Wegesrand ab und schlug sich ins Gebüsch. Einen Hinweis, wo sich der Behälter befand, gab es nicht. Immer wenn es darum ging, mit den Händen in der Erde zu graben oder in dunkle Öffnungen zu greifen, in denen sie unmittelbare Bekanntschaft mit Käfern und Spinnen machen konnte, war sie froh, sich ihre Einmalhandschuhe anziehen zu können. Auch bei diesem Cache kamen die Handschuhe zum Einsatz.

Nadine brauchte eine Weile, bis sie die kleine Dose in einem vermoderten Baumstumpf entdeckt hatte. Der Eintrag ins Logbuch mit Nickname und Datum diente dazu, den Erfolg ihrer Suche zu belegen. Der Fund wurde zusätzlich in der Geocaching-App geloggt.

Als sie wieder den größeren Weg betrat, registrierte sie, dass der Radfahrer hinter ihr seinen Standort nicht verlassen hatte.

Sie fuhr weiter. Die Handschuhe hatte sie wieder abgestreift. Der nächste Cache war einfacher zu finden. Er lag unter Ästen versteckt hinter einem Baum. Ein Spaziergänger tauchte in der Nähe auf, vor dem sie sich verborgen hielt. Ein uneingeweihter Passant sollte nicht sehen, wie sie im Wald mit einem vermeintlichen Reagenzglas hantierte.

Beim nächsten Halt waren ihre langen Hosen wieder von Vorteil. Links vom Weg ging ein sehr schmaler Trampelpfad durch ein Feld von hohen Brennnesseln, umrahmt von Buchen, Ahornbäumen und Kiefern. Der Trampelpfad machte einen Schwenk nach links und verschwand hinter dem dichten Grün der Bäume.

Ein ideales Versteck für einen Cache. Kein Muggle latscht freiwillig durch die Brennnesseln. Und hinter den Bäumen kann ein Geocacher von niemandem auf dem Waldweg gesehen werden.

Die Koordinaten dieses traditionellen Geocaches waren im Internet für jeden Interessierten frei zugänglich.

Sie lehnte das Fahrrad an eine Buche neben dem Trampelpfad. Das permanente Rauschen fahrender Autos war im Hintergrund zu hören. Die A37 war nicht weit entfernt.

Gerade als sie die ersten Meter durch die Brennnesseln zurückgelegt hatte, sah sie im Augenwinkel einen Radfahrer ankommen. Genau aus ihrer Richtung. Sie überlegte, ob sie einfach weitergehen, stehen bleiben oder auf den Waldweg zurückgehen sollte.

Sie entschied sich dafür, in den Brennnesseln zu verharren, zumal sie plötzlich die Eingebung hatte, den Mann zu kennen. Er hatte einen grauen Schutzhelm auf, trug eine Jacke zur langen Cargohose, zudem auf dem Rücken einen Rucksack.

Als er näher kam, war sie sich sicher: Der Geocacher, mit dem ich vorgestern vor meinem Haus gesprochen habe.

Er nickte freundlich, als er mit seinem Rad vor ihr auf dem Waldweg zum Stehen kam.

„Haben Sie ihn gefunden, vorgestern?“, fragte sie.

Er lächelte, guckte leicht nach unten: „Oh ja, durch Ihren Tipp haben Sie es mir einfach gemacht. Ich war vorgestern bei Ihnen noch erfolgreich.“

Sie zeigte auf das Smartphone in seiner Hand: „Sind Sie auch auf Cacher-Tour?“

„Ja“, bestätigte er. „Ich gehe davon aus, dass wir an dieser Stelle nach derselben Sache suchen. Geht wohl dort den Trampelpfad entlang …?“

„Das war meine Vermutung.“ Sie blieb stehen und machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

„Ich bin noch nicht lange dabei“, bekundete er. „Aber Geocaching ist ein tolles Hobby. Ich habe dadurch schon etliche freundliche Leute kennengelernt. Man ist sofort auf einer Wellenlänge.“

Nadine fasste Vertrauen zu dem Mann. Mit Geocachern, egal ob Mann oder Frau, hatte sie in vergleichbaren Situationen im Wald oder auf Feldwegen bisher ebenfalls nur gute Erfahrungen gemacht.

„Ich hab ja schon vorgestern gesagt, dass ich Miraculine bin“, äußerte sie und blickte ihn auffordernd an: „Und mit wem habe ich es zu tun?“

„Spirou 13.“

„Spirou – wie der Comic-Held …?“

„Genau.“

Der Hinweis, dass er sich womöglich für eine francobelgische Comic-Reihe wie „Spirou und Fantasio“ interessierte, machte ihn gleich für sie sympathischer. Nadine hatte schon immer eine Vorliebe für die francobelgischen Asterix-Comics gehabt.

„Und warum 13?“, fragte sie nach.

„Das ist meine Glückszahl.“

„Wir können ja zusammen nach dem Cache gucken“, meinte sie schließlich. „Vier Augen sehen mehr als zwei.“

„Ich bin dabei“, strahlte er und lehnte sein Fahrrad an das ihre.

*

Seine Einschätzung aus der räumlichen Entfernung hatte sich als richtig erwiesen. Der Ort, an dem er sein Vorhaben umsetzen konnte, durfte nicht vom Waldweg aus einsehbar sein. Hier schien alles perfekt. Der Lärm von der Autobahn konnte Geräusche übertönen. Momentan war außer Nadine niemand zu sehen. Was sich natürlich von einer Minute zur nächsten verändern konnte. Er brauchte für sein Vorhaben etwas Zeit, sodass es dringend notwendig war, dass er mit ihr hinter den Bäumen verschwand. Und an dem bewussten Ort zielte sein Plan darauf ab, dass sie ihm den Rücken zuwandte.

Er hatte sich die letzten beiden Tage gut präpariert. Natürlich musste er davon ausgehen, dass sie sich im Wald einem fremden Mann gegenüber misstrauisch verhalten würde. Insofern setzte er voll und ganz auf den Geocacher-Bonus. Nadine hatte ihn schon in Kirchrode für ein Mitglied der Cacher-Community gehalten. Im Misburger Wald war sie auf Cacher-Tour, sein Rucksack mit Werkzeugen, die für Geocacher typische Cargohose und seine Einmalhandschuhe müssten ihr eigentlich vertraut vorkommen. Ihren Cacher-Namen hatte er sich gemerkt. „Miraculine“ hatte sofort die Assoziationen Miraculix und Asterix bei ihm ausgelöst. Er setzte darauf, mit dem Namen „Spirou“ eine Gemeinsamkeit zu schaffen, um bei ihr zu punkten. Den Versuch war es wert. Und wenn er ihr einen Cacher-Namen präsentierte, trat an die Stelle seiner Anonymität eine vermeintliche Vertrauenswürdigkeit. Selbstverständlich war der Name „Spirou 13“ nirgendwo auf den Geocaching-Seiten im Internet registriert. Aber da er angeblich neu dabei war, würde es Nadine nicht verwundern, dass sie seinen Namen noch nie gelesen hatte.

Da sie in Sachen Geocaching eindeutig über mehr Erfahrung verfügte als er, übernahm sie selbstverständlich die Führung und ging als Erstes den Trampelpfad entlang. Er spürte gleich, dass sie es auch in anderen Zusammenhängen gewohnt war, selbstbewusst voranzugehen. Mit zwei Meter Abstand folgte er ihr. Wie sie hatte er sich seinen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Permanent schielte sie auf das Smartphone in ihrer Hand, um sich an der angezeigten Karte zu orientieren. Die App gab Auskunft, wie viele Meter ungefähr sie noch vom Cache entfernt war. Er hatte die ganze Zeit darauf geachtet, dass sie nicht sehen konnte, dass sich auf dem Display seines Smartphones gar keine Geocaching-App befand. Die für ihn tatsächlich wichtigen Gegenstände befanden sich in den seitlich aufgesetzten Taschen seiner Hosenbeine.

Der Trampelpfad endete auf einer kleinen Lichtung. Nadine stoppte und blickte konzentriert auf die Baumstämme und den Waldboden davor.

Sie hat nur noch Augen für die Suche nach dem Cache!

Eine Notwendigkeit, dass sich eine zweite Person daran beteiligte, bestand nicht. Nadine hatte den Cache sofort unter einigen Rindenstücken vor einem Baumstamm gefunden.

Dabei bemerkte sie nicht, dass sich ihr Begleiter hinter ihrem Rücken ein Paar Einmalhandschuhe übergestreift hatte. Dieses Mal handelte es sich bei dem Behälter um eine Art Tupperdose, in der sich außer dem Logbuch eine kleine Figur und mehrere Aufkleber befanden.

Während sie damit beschäftigt war, sich mit einem Kugelschreiber in das Logbuch einzutragen, hatte er mit der rechten Hand sein Springmesser aus der Beintasche gezogen. Die zweischneidig geschliffene Klinge sprang aus dem Messerheft. Blitzschnell trat er von hinten an Nadine heran, ließ seinen rechten Arm um sie herumschnellen und durchschnitt kraftvoll mit der scharfen Klinge von links nach rechts ihren Hals.

Blut floss in großem Schwall sofort aus der Wunde und durchtränkte die Windjacke der Frau. Nadine röchelte, machte einige ruckartige Bewegungen. Zum Schreien war sie nicht mehr in der Lage. Dann kippte sie nach vorne, dabei zeigte sie noch eine Schnappatmung.

Gleich ist es zu Ende.

Sie verlor kurz darauf das Bewusstsein und lag regungslos auf dem Waldboden. Der starke Blutverlust führte innerhalb kürzester Zeit zum Tod.

Er nahm sich Zeit und betrachtete sein Opfer eine Weile.

Der Plan ist aufgegangen!

Dann holte er die Fotokamera aus seinem Rucksack.

Atemlos in Hannover

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