Читать книгу Atemlos in Hannover - Thorsten Sueße - Страница 12

Оглавление

Kapitel 7

Sonntag, 13. Mai

In ihrem Dienstwagen, einem grauen VW Passat, waren Andrea Renner und Raffael Störtebecker gegen 17:30 Uhr auf dem Weg nach Hannover-Kirchrode. Andrea saß am Steuer, Raffael auf dem Beifahrersitz. Wenn sie in den vergangenen Jahren mit Thomas Stelter unterwegs gewesen war, hatte er es sich nie nehmen lassen, den Dienstwagen zu steuern. An dieser Stelle merkte sie wieder, dass die alten Zeiten mit Thomas vorbei waren.

Raffael las ihr Passagen aus einem Zeitungsartikel der Hannoverschen Nachrichten vor, der knapp zwei Wochen alt war. Kollegen hatten den Artikel im Internet entdeckt und ihn Andrea und Raffael als PDF-Datei aufs Smartphone geschickt.

Der Artikel enthielt interessante Informationen über die getötete Frau.

Dr. Nadine Odem war seit Kurzem Vorstandssprecherin des hannoverschen Bankhauses Berlinger, einer vor hundert Jahren gegründeten und immer noch im Familienbesitz befindlichen Privatbank mit derzeit hundert Mitarbeitenden. Der Aufsichtsrat der Bank hatte Nadine Odem wegen „kontinuierlich überdurchschnittlich guter Leistungen“ auf diesen Posten berufen, wie es hieß. Die Frau war zwanzig Jahre im Bankhaus Berlinger beschäftigt gewesen und hatte berufsbegleitend Betriebs- und Volkswirtschaft in Hannover studiert.

Der Zeitungsartikel ging in der zweiten Hälfte auf Nadine Odems Privatleben ein. Sie war mit einer Berufsschullehrerin verheiratet, hatte keine Kinder. Außerdem wurde erwähnt, dass sie regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit kam, gerne im Garten arbeitete und am Wochenende seit einem Dreivierteljahr mit großer Begeisterung ihr Hobby Geocaching ausübte. „Ich bin aufs Geocaching aufmerksam geworden durch Menschen, die alle an meinem Gartenzaun auffällig unauffällig nach etwas suchten“, wurde sie in dem Artikel zitiert.

*

Mareike Keppler saß zusammengesunken in einem Sessel ihres Wohnzimmers und wischte sich zwischendurch immer wieder eine Träne aus dem Gesicht. Die Nachricht von der gewaltsamen Tötung ihrer Ehefrau hatte sie sehr mitgenommen.

Andrea Renner und Raffael Störtebecker hatten auf einem Sofa ihr gegenüber Platz genommen. Der geflieste Raum wirkte modern und freundlich eingerichtet, mit liebevollen kleinen Details, was die Dekoration in der Schrankwand und auf dem Fensterbrett im Erker anging.

Alles sieht so harmonisch aus, ging Andrea durch den Kopf. Und jetzt kommen wir mit unserer Todesbotschaft und machen alles kaputt.

Mareike trug eine modische beigefarbene Bluse mit Kelchkragen zur schwarzen Jeans.

Sie ist eher die Elegante, Nadine die Sportliche.

Mittlerweile hatte sich Mareike so weit gefangen, dass sie sich in der Lage sah, Andreas Fragen zu beantworten. Raffael nahm die Rolle des stillen Beobachters ein. Mit Mareikes Einverständnis hatte er ein kleines Aufzeichnungsgerät auf dem Wohnzimmertisch postiert, um das Gespräch, wie bei Zeugenbefragungen üblich, mitzuschneiden.

Seit fünf Jahren lebten Nadine Odem und Mareike Keppler zusammen, seit einem Jahr waren sie verheiratet.

„Ich hatte auf sie gewartet und mir Sorgen gemacht, obwohl es schon manchmal später geworden ist, wenn sie ihre Geocaches gesucht hat“, äußerte Mareike und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre mittellangen braunen Haare. „Ich hatte heute Nachmittag bereits versucht, sie auf dem Handy anzurufen, aber sie ging nicht dran.“

Nach Mitteilung von Mareike hatte sich Nadine nicht mit einem anderen Geocacher zu ihrer letzten Tour verabredet.

Andrea erkundigte sich, wann genau Nadine das Haus verlassen und was sie zu dem Zeitpunkt bei sich gehabt hatte.

Anscheinend hat der Täter seinem Opfer tatsächlich nichts entwendet.

„Ich mache mir solche Vorwürfe“, stieß Mareike hervor. „Sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme. Und ich habe abgelehnt.“

Andrea versuchte vergeblich, Mareike zu beschwichtigen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre Nadine nicht ermordet worden, wenn ihre Frau sie begleitet hätte. Aber woher hätte Mareike das ahnen sollen …?!

Ihre Ehe bezeichnete Mareike als glücklich und insgesamt konfliktfrei.

Andrea stellte die klassische Frage: „Hatte Ihre Frau Feinde?“

„Nadine war immer ein freundlich zugewandter Mensch. Ich weiß nichts von Feinden.“

„Verärgerte Bankkunden …?“

„Dass wir keine Feinde haben, können Sie schon daran ablesen, dass Nadine nie einen Grund dafür gesehen hat, unsere Adresse aus dem Telefonbuch löschen zu lassen. Die Verpixelung unseres Hauses bei Street View haben noch die Vorbesitzer veranlasst.“

Ich in Nadines Position hätte das anders gehandhabt. Aber ich beschäftige mich auch täglich mit den bösen Seiten des Lebens.

Andrea fragte weiter in diese Richtung: „Hat Ihre Frau nie Konflikte am Arbeitsplatz erwähnt? Schließlich war sie Vorstandssprecherin einer Bank. Gab’s da keine Neider?“

„Na ja, es hatten sich wohl noch andere Hoffnungen auf diesen Posten gemacht. Aber von einem ernsthaften Konflikt ist mir nichts bekannt.“

„Stress mit Nachbarn, Bekannten oder Verwandten?“

Mareike schüttelte den Kopf.

„Und die Tatsache, dass Sie beide als …“, Andrea zögerte kurz, „… als gleichgeschlechtliches Paar zusammenleben, hatte nie zu problematischen Reaktionen Ihrer Umwelt geführt…?“

„Zugegeben, wir haben immer wieder mit Menschen zu tun, die eine lesbische Beziehung für eine psychopathische Fehlentwicklung halten.“ Mareikes Stimme gewann an Kraft und Lautstärke. „Aber die Phase, wo wir uns verstecken mussten, haben wir lange hinter uns gelassen. Nadines Bankhaus und die Berufsschule, an der ich arbeite, haben auf jeden Fall mit unserer Lebensweise keine Probleme.“ Sie lachte bitter. „Die sehen uns eher als Aushängeschild für ihr modernes Diversity-­Konzept.“

„Sie waren als lesbisches Paar“ – Andrea griff auf Mareikes Wortwahl zurück – „also keinen erkennbaren Anfeindungen ausgesetzt?“

„Nein.“

Keine Konflikte, scheinbar alles in bester Ordnung? Dennoch ist Nadine Odem Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Zufällig?

Andrea kam noch einmal auf Nadines Hobby zurück: „Gibt es zwischen Geocachern so etwas wie Konkurrenzkämpfe?“

„Bestimmt keine, wo der eine den anderen umbringt. Nadine hat immer davon gesprochen, wie freundlich und zugewandt Geocacher miteinander umgehen. Vor ein paar Tagen war zuletzt einer an unserem Gartenzaun, und Nadine hat ihm Tipps zu dem Geocache in der Nähe unseres Grundstücks gegeben.“

„Kannten Sie den Mann?“

„Nein. Nadine hatte die Vermutung, er wäre schon zwei Tage zuvor da gewesen. Jedes Mal hat er in unseren Garten geschaut. Beim ersten Mal war er schon weg, bevor Nadine ihn ansprechen konnte.“

Andrea fiel sofort der Zeitungsartikel wieder ein. So etwas war in der Vergangenheit offenbar schon öfters vorgekommen und nicht unbedingt etwas Besonderes. Trotzdem ließ sie sich von Mareike genau schildern, was sie wann beobachtet hatte.

„Eigentlich habe ich von dem Mann nur den schwarz-weißen Fahrradhelm erkannt“, bekundete Mareike. „Gesicht, Größe und Alter konnte ich durch die Büsche von meiner Position aus nicht erkennen. Nur Nadine ist an den Zaun gegangen und hat kurz mit ihm gesprochen.“

„Können Sie etwas zu seiner Stimme sagen?“

„Er hat nur wenig und leise gesprochen. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Denken Sie denn, der Mann könnte mit dem Mord etwas zu tun haben?“

„Es geht mir zunächst nur um die Sammlung von Fakten.“

„Mir fällt ein, dass der Mann gerade zu dem Zeitpunkt am Zaun stand, als Nadine mich auf ihre geplante Fahrradtour heute ansprach.“

„Könnte er verstanden haben, worum es in Ihrer Unterhaltung ging?“

„Weiß nicht … schon möglich.“

Leider hatte Nadine gegenüber ihrer Frau keine weiteren Angaben zu dem Mann gemacht. Es war auch unklar, ob der Mann nach dem kurzen Gespräch mit Nadine den Geocache in der Nähe des Hauses gefunden und sich in das Logbuch eingetragen hatte.

Auch wenn nachher nichts dabei herauskommt, dachte Andrea, wir werden das Logbuch des Geocaches überprüfen lassen.

Andrea und Raffael ließen sich im Anschluss an die Befragung das häusliche Arbeitszimmer von Nadine zeigen, um dadurch einen weiteren persönlichen Eindruck von der Toten zu bekommen. Das ganze Zimmer inklusive Schreibtisch wirkte penibel aufgeräumt.

Mareike Keppler war sofort damit einverstanden, dass Andrea Nadines Notebook im Rahmen ihrer Ermittlungstätigkeit mitnahm. Die Datenauswertung des Notebooks oder PCs eines Mordopfers konnte bei der Erforschung des Tatmotivs hilfreiche Hinweise geben.

Nicht, dass wir noch übersehen, dass die Ermordete Erpressermails erhalten und aus Rücksicht auf ihre Ehepartnerin verschwiegen hat …

Atemlos in Hannover

Подняться наверх