Читать книгу In Between Two Worlds - Tina Hutzler - Страница 10

Prolog

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Egal wie weit sie lief, die gierige Schwärze veränderte sich nicht. Sie zog den zierlichen Körper mit jedem Schritt mehr in ihren Schlund.

Es fühlte sich an, als würde Nellie seit vielen Stunden umherirren, ohne, dass sie etwas anderes zu sehen bekam. Sie vermutete, dass sie sich in einem Gang befand, weil sie bei jedem Versuch zur Seite auszuweichen, gegen ein unsichtbares Hindernis stieß. In Wirklichkeit sah sie nichts und war sich nicht einmal sicher, ob sie auf festem Boden lief. Denn hin und wieder gab er unter ihren Füßen nach oder ein Beben versuchte ihr Gleichgewicht zu rauben.

Das Einzige, das sie neben dem Rauschen ihres Blutes hören konnte, waren die bedrohlichen Schritte hinter sich.

Wann immer Nellie einen Blick über ihre Schulter wagte, erkannte sie die stechend roten Augen ihrer Verfolgerin. Das genügte, damit sie um ihr Leben fürchtete.

Nellie wusste, wer hinter ihr war und dass es bedeutete, dass sie sich in einem Traum befand. Dieses Wissen gab ihr jedoch keine Sicherheit. In dieser Welt war ihr Leben genauso in Gefahr wie in der realen.

„Nancy…“, wimmerte Nellie verzweifelt nach ihrer Rettung und hoffte, dass ihr schlafender Körper diesen Hilferuf aussenden würde, damit ihre Schwester sie wecken konnte.

Doch selbst nach endlos langen Sekunden, in denen ihre Lunge zu schmerzen begann, tat sich nichts. Jede Nacht, in der ein solcher Albtraum sie heimsuchte, fürchtete Nellie, es könnte ihr letzter sein. So auch jetzt.

Ihre magischen Kräfte hatten sich schon immer gegen sie gerichtet und je stärker sie wurden, desto mehr fürchtete das blonde Mädchen sich vor ihnen. Dies wiederum verstärkte sie weiter und bildete dadurch einen verhängnisvollen Teufelskreis, aus dem sie kein Entkommen sah.

Erschöpft vom Rennen und fürchtend, dass ihre Beine endgültig nachgeben würden, blieb Nellie stehen und legte eine Hand auf ihre Brust, in der ihr Herz heftig mit der hektischen Atmung um die Wette schlug.

Mit einem unterdrückten Schluchzen drehte sie ihren Kopf, in der verzweifelten Hoffnung, ihr möge sich ein Ausweg aufzeigen. Stattdessen hörte sie die melodische Stimme, die mit trügerischer Sanftheit ihren Namen nannte, was ihr ein weiteres Wimmern entlockte. Es gab eine Zeit, da hat sie diesen Klang als beruhigend und wohltuend empfunden. Doch seit sie wusste, was die Hexe wollte, löste er nur noch Grauen und Furcht aus.

„Bitte, lass mich aufwachen“, flehte Nellie mit zitternder Stimme und wagte es für einen kurzen Moment in Richtung der unheilvollen Augen zu sehen, die sie lauernd betrachteten.

Ein hinterhältiges Schmunzeln zeigte ihr, dass ihre Bitte nicht erhört wurde. Es schien, als würde sich das Schwarz hinter den roten Punkten verändern, jedoch nicht zum Positiven. Im Gegenteil gaben die dunklen Schwingen, die aus puren Schatten zu bestehen schienen, der Gestalt einen noch furchterregenderen Anblick.

Seit wann besaß die Hexe Flügel? In all den Jahren hat Nellie diese nie an der Schreckensgestalt bemerkt. Ob ihr Äußeres sich veränderte, wann immer sie stärker wurde? Das war eine besorgniserregende Vermutung.

Plötzlich erhellte sich die Dunkelheit neben ihr in einem Inferno aus ungezügelten Flammen, die den geschwächten Körper hungrig verschlingen wollten. Geistesgegenwärtig sprang Nellie zur Seite und stieß einen schrillen Schrei aus, während die Hitze sie überrollte. Wie ein aufgeschrecktes Reh begann sie wieder zu laufen, weit weg von dem Feuer zu kommen, das sie glücklicherweise nicht verfolgte. Doch es sollte weiterer Schrecken auf sie warten.

Ein Windstoß erfasste sie, nur kurz bevor eine Welle aus tiefschwarzem Wasser sie gegen eine unsichtbare Wand drückte und ihr die Luft zum Atmen raubte.

Ein hoher Ton erklang so laut, sodass sie ihre Hände schützend auf die schmerzenden Ohren presste. Dies sorgte dafür, dass ihre Schritte sie nur noch taumelnd trugen und sie sich nicht dagegen wehren konnte, als sich etwas um ihr Fußgelenk schlang und ihr jeglichen Halt raubte.

Ein klagender Laut verließ ihre Lippen, als Nellie auf dem harten Untergrund aufkam, aber wurde nur kurz darauf zu einem lauten Schmerzensschrei. Etwas hatte ihren Oberarm gestreift und drei blutende Schnitte auf der weichen Haut hinterlassen. Was geschah nur? Das war der schlimmste Albtraum, den sie jemals hatte und er verstärkte die Befürchtung, dass die Hexe dieses Mal gewinnen könnte.

Doch noch war das Mädchen nicht bereit zu sterben, schließlich gab es nach all den Jahren endlich einen Hoffnungsschimmer, an den sie sich klammerte. Deswegen biss Nellie fest die Zähne zusammen und versuchte die Schmerzen zu ignorieren, die sich hartnäckig in ihrem Körper ausbreiteten.

‚Hilf mir‘, flehte sie die Stimme in ihrem Kopf an, die der Ursprung ihrer Fähigkeiten war.

Wenn Nellie sie schon nicht zu kontrollieren wusste, dann musste es die Stimme können. Anders als die Horrorgestalten hat diese sich nie gegen das Mädchen gerichtet. Aber war eine Rettung überhaupt möglich, wenn ihr Ursprung der gleiche war?

Eine Antwort darauf sollte sie nicht bekommen, aber ihr Flehen wurde dennoch erhört. Gerade als sie einen alarmierenden Blick über die Schulter riskierte, sah sie in ihrem Augenwinkel ein Licht erscheinen. Furchtsam, da sie eine weitere Gefahr erwartete, schnellten ihre Augen nach vorne, weiteten sich dann vor Staunen. Das intensive Grün ihrer Iriden begann zu leuchten, als sie erkannte, was der Ausweg aus der Finsternis war.

Ein wunderschöner Garten breitete sich vor dem erschöpften Mädchen aus, der neben den mannshohen Hecken noch allerlei farbenfrohe Blumen beherbergte. Dahinter wuchsen drei Gebäude empor, die sie bisher nur auf Bildern gesehen hat, jedoch sofort erkannte. Schon lange verspürte sie das drängende Bedürfnis zu diesem Ort zu reisen, um dort Antworten auf ihre unzähligen Fragen zu bekommen. Ihn nun auch in ihrem Traum zu sehen, fühlte sich wie ein gutes Omen an.

„Nellie!“

Mit einem schwachen Kopfschütteln wollte sie die vertraute Stimme von sich schieben. Endlich war sie in Sicherheit, das konnte sie jetzt nicht aufgeben.

Wie hypnotisiert trat die Blonde mehrere kleine Schritte auf den Garten zu. Sie wollte zu dem größten Gebäude gelangen, das eine besondere Anziehungskraft auf sie ausübte.

„Wach endlich auf, Nellie!“

Erneut die besorgte Stimme, wegen der das Mädchen kurz innehielt und blinzelte. „Nancy?“

Bevor sie jedoch nach ihrer Schwester suchen konnte, ging ein Ruck durch ihren Körper und der Boden öffnete sich unter ihren Füßen. Ein erschrockener Schrei folgte dem freien Fall, den sie zu verhindern versuchte, indem sie ihre Arme nach den Hecken ausstreckte. Doch anstatt sie zu retten, entfernten sie sich nur von ihr.

„Beruhig dich doch, ich bin es.“

Keuchend riss Nellie ihre Lider auf und blickte auf die vertraute Zimmerdecke, auf die ihr Vater vor vielen Jahren unzählige kleine Sterne geklebt hat, die ihr sachte entgegen leuchteten. Durch den sanften Druck an ihren Handgelenken merkte sie, dass ihre Arme ausgestreckt waren, als wollten sie nach etwas greifen, aber stattdessen hätten sie beinahe ihre Schwester erwischt.

Langsam ließ sie ihre Arme sinken und setzte sich schwerfällig auf. Sie war dem Albtraum nochmal entkommen. Doch ein stechender Schmerz an ihrem Arm, auf den sie sich stützte, ließ sie zusammenzucken.

„Hat die Hexe dich wieder verfolgt?“, fragte Nancy mit einem missbilligenden Unterton, worauf Nellie nur schwach nickte.

Ihre Zwillingsschwester kannte diese Gestalt bereits von vielen Erzählungen und hatte sie sogar einmal persönlich zu Gesicht bekommen.

Vorsichtig schob Nellie den Ärmel ihres Nachthemdes hoch und presste weinerlich ihre Lippen aufeinander als sie die Wunden erkannte, die ihr im Traum zugefügt wurden. Nancy fielen sie ebenfalls auf, doch bevor sie die Verletzung näher betrachten konnte, schlang Nellie schluchzend die Arme um ihren Oberkörper.

Es wurde tatsächlich mit jedem Traum schlimmer. Irgendwann würde sie nicht mehr erwachen, davon war sie überzeugt. Sie könnte ihrer Verfolgerin nicht ewig davonlaufen. Vor allem nicht, wenn sie mächtiger wurde. Nellie war nicht so stark, dass sie wie heute immer und immer wieder aufstehen könnte. Was sollte sie tun, wenn sie das nächste Mal noch schlimmere Verletzungen davontragen würde?

Von der Furcht in ihrem Herzen angefacht, erstrahlte ein helles Licht von Nellies Handgelenk aus, das die Schwestern in seinen Schein hüllte. Frustriert betrachtete sie das Mal, das ihre Verletzlichkeit präsentierte. Gleichzeitig erklang neben ihrem Bett ein bekanntes Klappern. Sie brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass die Horrorpuppe erschienen war, die Nellie am liebsten heimsuchte, wenn sie Angst zeigte.

Sie war eine kleine Porzellanpuppe mit zerzausten schwarzen Haaren. Durch das Weiß ihrer Haut stachen die pechschwarzen Augenlöcher deutlich hervor. Ebenso wie die Blutflecken an ihrem gesamten Körper. Passend zu dem mörderischen Anblick war ihr einstmals elegantes Kleid mit weißer Schürze löchrig und hing hier und da in Fetzen hinab.

Das Furchterregendste jedoch war, dass sie sich selbstständig bewegen konnte. Wann immer sie aus dem Nichts auftauchte, war es ihr einziges Ziel Nellie zu erreichen und mit ihren kalten, steifen Fingern zu berühren. Sie war eine Figur, die aus einem Albtraum stammte und doch real für das Mädchen war.

Abschätzig sah Nancy die Illusion an, die versuchte nach der Matratze zu greifen, und schob sie achtlos von sich. Im Gegensatz zu diesem groben Verhalten verdeckte sie mit einer sanften Berührung das Mal mit der nach links geneigten Waage auf dem Handgelenk ihrer Schwester, wodurch das Leuchten gedämpft wurde. Die andere Hand legte sich auf Nellies Wange und zwang sie, zu ihr aufzusehen. Die vertraute Kälte, die von der Haut der Älteren ausging, hatte etwas Beruhigendes, sodass der stumme Tränenfluss versiegte.

„Ich werde einen Weg finden, die Hexe zu besiegen.“

Das zuversichtliche Lächeln konnte Nellie nicht erwidern, noch weniger, als ein Klopfen an ihrer Tür erklang und die Stimme ihres Vaters fragte: „Nellie? Ist alles in Ordnung?“

Alarmiert sah sie zu der Puppe, die sich wieder auf den Weg zu ihrem Bett machte und die ihr Vater sehen würde, sobald er eintrat. Auch Nancy war sich dessen bewusst, weswegen sie sofort handelte und einen Arm zur Tür streckte. Auf ihren lautlosen Befehl hin vereiste das Schloss und machte es unmöglich, den Griff zu betätigen. Gerade rechtzeitig, da das leise Rütteln verriet, dass der zweifache Vater eintreten wollte. „Mädchen? Was ist los?“

Es tat Nellie leid, die Sorge zu hören, die allein ihr galt, doch hinter das Geheimnis der beiden Andersartigen durfte er nicht kommen.

„Es ist alles okay, Dad“, antwortete die Ältere der Schwestern stattdessen, „Nellie hatte wieder einen Albtraum, aber ihr geht es gut.“

Schuldbewusst senkten sich Nellies Augen zu ihrem verletzten Arm. Sie hasste es, ihre Eltern anlügen zu müssen, aber wie sollte sie erklären, dass eine Gestalt in ihren Träumen sie regelmäßig terrorisierte und sogar in der Realität gewalttätig wurde? Das würden sie niemals verstehen können.

„Okay… Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid, Engel.“ Zögernd erklangen die sich entfernenden Schritte von Henry.

Nancy wandte sich wieder ihrer Schwester zu und strich beruhigend über ihren Unterarm, auf dem die Kälte eine leichte Gänsehaut hinterließ. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fasste Nellie nach ihrer Hand und suchte den Blick der ähnlichen Augen. Ungewohnt entschlossen zeigte sie sich, als sie ihrer Zwillingsschwester ihre Entscheidung mitteilte: „Ich werde zur Morrison Memorial gehen.“

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