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Nancy Taylor
Оглавление02.09.2018 – früher Nachmittag
Morrison Memorial, Hauptgebäude
Nur noch langsam zogen die Bäume an ihr vorbei. Die grünen Augen bewegten sich gleichmäßig, um neue Punkte in der Umgebung zu fixieren. Nichts verdeutlichte schwindende Momente mehr, als sie während des Autofahrens an sich vorbeiziehen zu sehen.
Hinter ihr lag ein langer Flug von Kalifornien nach London mit nachfolgender Autofahrt zum Internat, die sie dank des geringen Verkehrsaufkommens außerhalb der Stadt zügig zurücklegen konnten. Es waren nur noch ein paar wenige Kilometer, die Nancy und ihre Zwillingsschwester von ihrem neuen Zuhause auf Zeit trennten. Sie konnte noch immer nicht davon sprechen, dass sie angespannt wegen der neuen Umgebung und den damit einhergehenden Veränderungen war. Nur die Wehmut, ihre alte Schule zurücklassen zu müssen, breitete sich langsam in ihren Gedanken aus.
Das Internatsgebäude erschien in ihrem Sichtfeld, das durch die angeordneten Bäume in helle und dunkle Farbtöne wechselte. Für viele mochte das Lichtspiel der Alleen eine Belastung für die Augen darstellen, für die blonde 17-Jährige stellte dies jedoch kein Problem dar. Seit sechs Jahren war sie durch ihre Verwandlung zu einer Andersartigen nicht nur mit besonderen Kräften ausgestattet, sondern auch mit einem viel besseren Sehvermögen gesegnet. Während sie die Andersartigkeit als Bereicherung für ihr Leben betrachtete, erging es ihrer Zwillingsschwester anders, die seit dem Tag dieser einschneidenden Veränderung unter ihren Fähigkeiten litt.
Mit einem lautlosen Seufzen senkte Nancy ihre Augenlider und sah ihrem Vater dabei zu, wie er an den Knöpfen der Klimaanlage drehte. Nancy, deren Körper auf jegliche Art von Wärme reagierte, hat mittlerweile gelernt, die Temperatur nahe ihres Körpers bis zu einem gewissen Grad selbstständig abzukühlen, um keine unschönen Flecken auf ihrer hellen, fast weißen Haut zu riskieren. Es war nicht immer leicht, das Geheimnis ihres kalten Körpers vor ihrer Familie zu schützen, doch die zweieiigen Zwillinge haben gemeinsam entschieden, dass die Andersartigkeit eine Sache zwischen ihnen bleiben musste, um ihre Lieben nicht zu verunsichern.
Als sie den Blick nur flüchtig hob, erkannte sie im Außenspiegel ihre Schwester, deren giftgrünen Augen sich nicht zu entscheiden vermochten, ob sie auf die unruhig spielenden Hände in ihrem Schoß oder auf das Geschehen hinter dem Fenster achten sollten. Fahrig glitten ihre Finger dabei immer wieder durch ihren blonden Haarschopf und ihre sonst weichen und gütigen Gesichtszüge waren so verunsichert, dass Nancy sich nicht anstrengen musste, um zu erkennen, dass Nellie unsagbar nervös war. In diesem Fall wusste die ältere der Zwillinge aber, dass es eine gute Art von Anspannung war. Es war Nellies sehnlichster Wunsch, die Morrison Memorial School zu besuchen. Für Nancy war es deshalb nicht infrage gekommen, ihre Schwester mit ihrem Vorhaben allein zu lassen und so hatte sie sich dazu entschieden, Nellie dabei zu unterstützen, ihre Eltern von einem Besuch des Londoner Internats zu überzeugen.
Im Hinblick auf ihre alte Schule bedauerte Nancy die Entscheidung insgeheim, doch sie stellte ihre Interessen gerne hinter Nellies Wohlergehen. Das war für die Andersartige viel bedeutender als ein Schulzeugnis der angesehensten Schule Kaliforniens.
Nicht daran denkend, Nellie mit ihrer Schwermütigkeit zu belasten, wandte sie ihren Blick ab und klappte den Blendschutz nach unten. Der angebrachte Spiegel half Nancy dabei, das Make-up zu überprüfen, das ihr schmales Gesicht edel in Szene zu setzen wusste. Leicht reflektierend schimmerte das bronzefarbene Rouge auf ihren Wangen, das abgestimmt zu dem zart goldenen Highlighter ihrer Augenlider war. Die tiefschwarze Wimpernfarbe setzte weitere Akzente, die sie in ihrer gesamten Erscheinung etwas älter wirken ließ als ihren Zwilling. Ihre Frisur abschließend kontrollierend, drehte sie ihren Kopf etwas zur Seite und fasste mit der Hand in das hellblonde gelockte Haar, um mit sanftem Druck nach oben das Volumen zu begünstigen.
„Wenn ich mal meine Meinung äußern dürfte, du siehst fabelhaft aus.“
Mit einem hörbaren Schmunzeln ließ Nancy die Hand sinken und schob den Blendschutz wieder zurück: „Sehr objektiv von dir, Dad“, erwiderte sie und betonte das letzte Wort säuselnd.
„Euer Onkel hat schon recht, wenn er sagt, dass ihr uns viel zu schnell erwachsen werdet.“ Henry seufzte, ließ seine Töchter aber mit einem munteren Lächeln auf den Lippen wissen, dass es ihn nicht traurig stimmte, mitzuerleben, wie aus ihr und Nellie junge Frauen wurden. „Und ehe Emily und ich uns versehen, seid ihr aus der Schule und macht uns damit deutlich, dass wir wirklich alt werden.“
„Aber Dad“, mischte sich Nellie mit leiser, amüsierter Stimme ein, die in ihrem Unterton auch ein wenig tadelnd klang. „Ihr seid im besten Alter und weit davon entfernt alt zu werden!“
Nancy stimmte ihrer Schwester mit einem bekräftigenden Nicken zu und beobachtete, wie der zweifache Vater seine Tochter durch den Innenspiegel liebevoll anlächelte.
„Danke, mein Engel.“ Dennoch verließ ein schweres Seufzen seine Lippen, gefolgt von einem amüsierten Schmunzeln. „Ohne euch wird es so ruhig werden. Ich werde es vermissen, jeden Tag Mace zu hören.”
Neckisch funkelten seine Augen zu der Jüngsten, die mit verlegener Röte den Blick senkte. Nancy betrachtete die Reaktion zärtlich. Jeder in der Familie kannte die Texte ihres Lieblingssängers bereits auswendig, aber keiner störte sich daran. Nancy wusste, dass Nellie diese Musik brauchte, wenn es ihr schlecht ging, und davon hatte es in der vergangenen Zeit zu viele Tage gegeben. Ihr würde es guttun, Ablenkung durch die Morrison Memorial School zu bekommen.
Nancy bemerkte, wie sich das Auto deutlich verlangsamte und der Parkplatz des Internats näher kam. Trotz ausgewiesener Reservierungen bot sich ein Platz zwischen anderen parkenden Autos unter einem schattenspendenden Baum, unter dem Henry den Leihwagen abstellte.
„Da wären wir.“
Kaum war der Motor verstummt, nahm der Familienvater die Hände vom Lenkrad. Nancy sah sich mit seinem liebevollen Blick konfrontiert und ahnte bereits, was er jetzt sagen wollte. Deshalb sprach sie das ermahnende „Dad“ auch im Interesse ihrer Zwillingsschwester aus.
„Noch könnt ihr es euch überlegen.“
Über den Rückspiegel tauschten die Schwestern einen belustigten Blick und Nellie schüttelte sogar den Kopf über ihren Vater.
„Schon gut“, sagte Henry und hob abwehrend die Hände, wirkte durch die Entschlossenheit seiner Tochter besänftigt, „aber ich habe es euch angeboten.“
„Wir kommen schon zurecht“, versicherte Nancy ihm abermals und stieg als Erste aus dem Auto.
Ein kühler Wind schlug ihr entgegen und bauschte ihre langen Haare auf, die sie nur zögerlich auf einer Seite hinters Ohr strich, zu abgelenkt war sie vom Anblick des Internats. In der Broschüre und im Internet gab es einige Bilder von außen und den Innenräumen des Gebäudes, dennoch wirkte dieser Ort in der Realität sehr viel einnehmender als Nancy es für möglich gehalten hätte. Sollte Nellie recht behalten? Hatte das Internat tatsächlich mit der Andersartigkeit zu tun?
„Es sieht noch viel beeindruckender aus als auf den Bildern.“
Durch Nellies ausgesprochene Faszination beendete Nancy den Versuch ihrer gedanklichen Stimme zu lauschen und beließ es dabei, dass ihr die neue Schule bereits jetzt das sichere Gefühl vermittelte angekommen zu sein. Wenn es sich für Nellie mindestens genauso anfühlte, konnte sie ihre geschundene Seele endlich heilen lassen und der Schulwechsel hätte sich gelohnt.
„Na, wie gefällt es euch?“, erkundigte Henry sich bei seinen Töchtern, woraufhin Nancys Blick entschlossen seine Augen suchten, die auf das Gepäck im Kofferraum aufmerksam machten. Der zweifache Vater lud die zwei schweren Koffer aus, wogegen seine Töchter sich nur um jeweils eine Tasche kümmern mussten.
Während Nellie begeistert schwärmte, betrachtete Nancy schweigend das Gelände und fiel hinter den beiden ein Stück zurück. Die auffallend große Uhr, die am mehrstöckigen Hauptgebäude angebracht war, würde sie als kennzeichnend für England betiteln. Die Außenfassade der Gebäude auf dem Grundstück beurteilte sie als gepflegt und es ließ sich erkennen, dass der Direktor um Ansehnlichkeit des äußeren Erscheinungsbildes seiner Privatschule bemüht war. Durch die Broschüre wusste sie, dass die rechte Seite den Mädchentrakt darstellte, weswegen sie diesem besondere Aufmerksamkeit schenkte. Die Doppeltür war bei beiden Trakten, die sich parallel gegenüber standen, einladend geöffnet und bei genauerem Hinsehen konnte sie die eine oder andere Person an den Fenstern vorbeihuschen sehen.
Vereinzelt fanden sich üppige Laubbäume im Innenhof, unter denen Bänke aufgestellt waren und den Sitzenden Schatten spendeten. Nancy konnte sich vorstellen, abends hier zu sitzen und den Tag in aller Ruhe ausklingen zu lassen. Würde sie nicht die gewünschte Stille finden können, bot das Schulgelände auch noch einen großen Wald, der sich hinter dem Mädchentrakt befand und dessen Größe sie nur abschätzen und nicht mit bloßem Auge erfassen konnte. Dazu war das ganze Gelände viel zu weitläufig. Es bot für Schüler die optimale Bedingung, sich nicht eingesperrt zu fühlen. Dieses Vorurteil von Internaten war weit verbreitet und auch Nancy hatte im ersten Moment daran gedacht, als Nellie sie mit dem Wunsch konfrontiert hat, auf die Morrison Memorial School gehen zu wollen.
Der Innenhof endete mit der Eingangshalle und verneigte sich auf diese Weise vor dem eindrucksvollen Hauptgebäude. Nancy, die zu ihrem Vater und ihrer Schwester aufgeschlossen hatte, betrat gleichzeitig mit ihnen die Halle und das Erste, was ihr auffiel, war der zarte Geruch von Blumen. Schnell war die Quelle des Duftes entdeckt. Auf jeder Fensterbank verteilt standen liebevoll hergerichtete Vasen mit Magnolien.
Eine große Willkommenstafel war an einer der Säulen angebracht, auf denen sich der schwere Beton des alten Bauwerks stützte. Überall gab es kleinere Nischen, in die Laternen gestellt wurden und die von verschnörkelten Mustern an den Wänden umrahmt waren. Ein glanzvoller Teppich schmückte die verschiedenen Gänge, die man von der Eingangshalle aus erreichen konnte.
„Es sieht alles so edel aus.“ Nellie kam nicht mehr aus dem Staunen heraus.
Die Eingangshalle würde Nancy nicht für eine Schule halten. Sie glich in ihren Augen eher einem festlich geschmückten Vestibül.
Ihrer Zwillingsschwester knapp zustimmend, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die Tafel, auf der die Stockwerke und die Räumlichkeiten aufgeführt waren. Henry tat es seiner Tochter gleich und stellte die zwei Koffer neben sich ab, um ihnen Zeit zu geben, alles in Ruhe anzusehen.
„Das Büro von Mr. Barnheim befindet sich im ersten Stock“, stellte Nancy fest.
Ihre Augen wanderten deshalb die Treppen hinauf, während sie Nellie weiter zuhörte, wie sie sich an den schönen Kleinigkeiten der Eingangshalle erfreute. Nancy konnte sie nichts vormachen, sie schaffte es ihren Zwilling problemlos zu lesen und wusste, dass sie versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen.
Den Blick wieder zur Tafel gewandt, um sich über die Räumlichkeiten zu informieren, bemerkte Nancy durch das plötzliche Verstummen ihrer Schwester, dass sich jemand nähern musste. Ein schwarzhaariger Junge, schlank und etwa in ihrem Alter, lief eilig die Treppen herab und hielt sich das Handy ans rechte Ohr. Er strich sich eine der halblangen Strähnen aus dem Gesicht, die ihm schräg über seine Stirn fielen.
Nancy sah, wie er seinen Mund bewegte und sich erbost über etwas ereiferte. Er drückte sich in deutscher Sprache aus, weshalb die hellblonde Amerikanerin nicht alles verstehen konnte. Nellie genügten der scharfe Tonfall und die wütenden Gesichtszüge des Fremden, um bestürzt die eigene Miene zu verziehen. Der Junge war definitiv nicht gekommen, um Neuankömmlinge willkommen zu heißen.
Als er fast im Erdgeschoss bei ihnen angelangt war, erfuhr Nancy den Grund für die schlechte Laune: Er war nicht freiwillig auf dem Internat. Gehässig wechselte der Junge in die englische Sprache und betonte, dass er diese schulische Einrichtung für eine Irrenanstalt hielt. Wollte er die Neulinge dadurch warnen? Abschreckend wirkte für Nancy bisher einzig der Fremde.
Der Deutsche schenkte ihnen keinerlei Beachtung, während er von hör- und sichtbarem Missmut begleitet wie ein kläffender Hund in sein Handy schimpfte und ausweichend auf den Boden schaute. Mit schnellen Schritten verließ er die Eingangshalle und hinterließ eine betroffene Nellie.
Nancy ging auf ihre Schwester zu und legte ihr beruhigend eine Hand an den Rücken. „Es kann nicht jedem hier gefallen.“
Das aufmunternde Lächeln schaffte es, Nellie zu erreichen, die zwar nur schwach nickte, nach Henrys ironischer Bemerkung aber auch leise lachen musste. „Scheint ja ein richtiger Sonnenschein zu sein, der Junge. Aber jetzt kommt, lasst uns diese Anstalt weiter besichtigen.“
Die Gelassenheit von Henry überraschte Nancy nicht. Als Mediziner war er es gewohnt, viele neue Menschen mit ihren ganz speziellen, merkwürdigen Verhaltensweisen kennenzulernen, sodass ihn das nicht schocken konnte. Auch Nancy blendete den schlecht gelaunten Bengel gekonnt aus und hoffte, dass auch Nellie sich durch das unfreundliche Verhalten nicht irritieren ließ. Ihre Schwester hatte große Hoffnungen und eine so gute Meinung über das Internat, die sie wegen der Begegnung mit dem Jungen nicht über Bord werfen sollte.
Der Gang im ersten Stock führte sie an mehreren verschlossenen Türen vorbei, die Nancy aufmerksam betrachtete. Auf den Metallschildern befanden sich die Namen, die ihr anhand der zugesandten Unterlagen, bereits vertraut waren.
Als sie ihren Blick wieder nach vorne richtete, erkannte sie eine ältere, kleine Dame, die vor der nächsten Tür den Kopierer bediente, der im Flur für alle zugänglich stand. In der freien Hand hielt sie einen Stapel Papiere fest und machte einen gehetzten Eindruck auf Nancy. Die Eile führte schließlich dazu, dass sie die Blätter achtlos ablegte, die gleich darauf von der Ablage rutschten. In Sekundenschnelle waren die Papiere schwebend zu Boden gesegelt und entlockten der Frau mit der kurzen, rötlichen Dauerwelle ein überfordertes Seufzen.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen!“
Nancys Vater schritt sofort zur Tat und eilte zu der Dame, um ihr beim Aufheben der Unterlagen behilflich zu sein. Auch Nellie und sie reagierten höflich, wenngleich Nancys Reaktion zurückhaltender ausfiel. Trotzdem klaubte auch sie einige der Blätter auf und reichte sie der Frau, die sich mit einem erfreuten Lächeln bei ihren Helfern bedankte: „Das ist wirklich sehr nett von euch.“
„Misses Farrell?“ Ihr Vater erkannte die Stimme der Dame und ließ die Andere mit seiner Vorstellung nicht lange im Unklaren, „Mein Name ist Henry Taylor. Wir haben telefoniert.“ Henry reichte der Sekretärin zur Begrüßung die Hand und auch Nancy erkannte in ihr die Büroangestellte, mit der ihr Vater schon mehrere Telefonate geführt hat.
„Ah…, ja natürlich, Mister Taylor!“
Es dauerte nicht lange, bis die ältere Dame sie als die Neuankömmlinge aus Kalifornien erkannte und ihnen ein herzliches Lächeln schenkte.
„Ich werde Mister Barnheim sofort Bescheid geben, dass Sie angekommen sind.“
„Nur keine Eile. Herzlichen Dank“, erwiderte Henry knapp und wartete, bis sie zurück ins Sekretariat ging. Er schob derweil die schweren Koffer zur Wand, die er wegen seines beherzten Einsatzes mitten im Gang hatte fallen lassen.
Eingeschüchtert und überwältigt von den neuen Eindrücken, die erwartet und dennoch überraschend schnell vonstatten gingen, suchte Nellie nach Nancys Blick und sagte unsicher: „Mrs. Farrell scheint nett zu sein.“
Tatsächlich strahlte die ältere Sekretärin eine mütterliche Art aus und erinnerte Nancy an ihre eigene Großmutter, die sich tränenreich von den Zwillingen verabschiedet hatte. Nellie und sie hatten ihr versichern müssen, ihr mindestens einmal im Monat einen langen Brief zu schreiben und ihr vom Internat und ihrem Leben im fremden Land zu berichten. Auch Bilder wollten sie ihr schicken. Während des Flugs hat sie schon davon erzählt, sich so bald wie möglich die London Bridge und den Buckingham Palace aus nächster Nähe ansehen zu wollen.
Mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen wandte sie sich Nellie vollständig zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie sachte zu sich zu drehen und ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
„Und der Rest wird es ganz sicher auch sein“, wusste Nancy zu antworten, um ein paar der nagenden Zweifel zu beseitigen.
Die Hand von der Schulter ihrer Schwester lösend strich sie ihr eine der welligen Haarsträhnen zurück, die sanft auf ihre Schulter glitten.
„Natürlich abgesehen von diesem Proleten von eben“, merkte Nancy mit erheitert klingender Stimme an, darauf abzielend in das ähnliche Gesicht ein Lächeln zu zaubern.
„Vielleicht ist er nur überfordert mit der neuen Situation und hat Angst“, verteidigte Nellie den schwarzhaarigen Jungen zweifelnd.
Nancy belächelte den Versuch liebevoll. Nellie war zu gut für diese Welt und wäre gar nicht imstande dazu, über jemanden etwas Böses zu denken.
Nur wenige Augenblicke später kehrte Mrs. Farrell mit dem Direktor des Internats zurück, dessen Erscheinungsbild einen sehr seriösen und adretten Eindruck erweckte. Seine Gesichtszüge wirkten ernst, was die Brille mit schmalem Rahmen zusätzlich verstärkte und die kantigen Wangenknochen hervorhob. Das ergraute Haar war ordentlich zurückgekämmt und ein grauer Bart, abgegrenzt an Wange und Kinn, rundete das Gesicht ab. Die breiten Schultern verstärkten sein autoritäres Auftreten.
„Mister Taylor, es freut mich sehr, Sie und Ihre Töchter heute persönlich kennenzulernen.“
Trotz der hart anmutenden Gesichtszüge schmückte sein Gesicht ein ehrliches Lächeln, als sie einander zur Begrüßung die Hand reichten.
„Folgen Sie mir doch bitte in mein Büro, dort können wir uns weiter unterhalten.“
Nancy ließ Nellie den Vortritt dem Direktor zu folgen und wollte das Schlusslicht bilden, doch dazu kam es erst gar nicht, da sich der schwarzhaarige Junge von eben energisch an ihnen vorbeidrängte.
„Das können Sie nicht machen!“, beschwerte er sich, nachdem Mr. Barnheim den neuesten Besucher bemerkt hatte, „Ich möchte sofort ein anderes Zimmer zugeteilt bekommen.“
Nancy hob erstaunt die Augenbrauen und tauschte einen verständnislosen Blick mit ihrer Schwester. Da er bei dem Telefonat mit seinem Erziehungsberechtigten, wie Nancy vermutete, seine Abneigung gegen das Internat ohne Umschweife geäußert hatte, suchte der Deutsche anscheinend Gründe, um sich zu beschweren.
„Nun, Felix“, setzte Mr. Barnheim ruhig an, „Du weißt, dass das Kollegium über die Zimmerverteilung entscheidet und wir Wünsche nicht berücksichtigen können.“
„Das ist mir völlig egal. Ich schlafe jedenfalls nicht in diesem Zimmer!“ Er wandte sich trotzig ab, wodurch sich Nancys und sein Blick einen kurzen Moment trafen.
Der Junge hatte auffallend helle blaue Augen, die durch die schwarzen Haare noch mehr herausstachen und die noch bubenhaften Gesichtszüge verstärkten.
Leise hörte sie, wie sich ihr Vater bei Mr. Barnheim erkundigte, ob sein Wunsch dennoch berücksichtigt werden konnte, Nellie und Nancy in einem gemeinsamen Zimmer unterzubringen. Zum Leidwesen aller bewies auch Felix gute Ohren und griff mit einem gehässigen „Ach“ das Gespräch wieder auf.
Nancy konnte die Wut des Schülers regelrecht spüren und die Feindseligkeit in den hellblauen Augen erkennen, als dieser wieder auf den Direktor zutrat, die Hand in Nellies und ihre Richtung ausstreckend.
„Offenbar können doch Wünsche berücksichtigt werden. Warum ist es bei den beiden möglich?“
Auf eine Erklärung lauernd, lag auch Nancys Blick auf dem Direktor, der sich trotz Felix’ Verhalten nicht aus der Ruhe bringen ließ. Im Internet hatte sie über ihn gelesen, dass sich Mr. Barnheim durch sein geruhsames Wesen auszeichnete und Konfliktsituationen mit Geduld und Verständnis lösen konnte. Dass er den Zwillingen seine Erfahrung als Leiter des Internats so früh beweisen musste, hatte die hellblonde Amerikanerin nicht erwartet. Dies löste eine gewisse Erwartungshaltung in ihr aus, die dem Besitzer dieser privaten Einrichtung keine Vorschusslorbeeren durch unbestimmte Bewertungen und Beschreibungen im Internet erteilen wollte.
„Es ist kein anderes Zimmer in eurem Trakt frei. Allerdings gibt es bei den Mädchen noch unbesetzte Betten. Wenn du also unbedingt der Meinung bist, umziehen zu müssen, steht es dir frei, dich im Mädchentrakt einzuquartieren.“
Obwohl Mr. Barnheim so gefasst erschien, glaubte die Andersartige seiner Aussage einen süffisanten Ton entnehmen zu können. Nancy konnte Felix’ Gesicht nicht vollständig sehen, weil sie schräg hinter ihm stand und nur sein Profil einfangen konnte, aber das genügte, um zu erfassen, dass dieser Vorschlag nicht auf Begeisterung stieß. Ob die dezente Provokation in diesem Fall das richtige Mittel war, um Felix’ Gemüt abzukühlen, vermochte Nancy nicht zu sagen und hielt Mr. Barnheims nächsten Worte deshalb für angemessener.
Die kurze Auseinandersetzung reichte aus, um Nellies Arm an ihrem zu spüren, die sich ängstlich neben sie gestellt hat und sich nicht traute, einen der Anwesenden direkt anzusehen. Die angespannte Situation war belastend für Nellie, nicht zuletzt, weil Felix auch zu der Sorte Andersartiger zu gehören schien, die sich nicht durch friedvolles Miteinander auszeichneten. Nancys innere Stimme blieb in dessen Gegenwart ruhig, was das sichere Indiz dafür war, dass er zur selben Gesinnung wie sie gehörte: den feindseligen Impater. Denen gegenüber standen die Parcatis, zu denen ihre Schwester zählte. Hatte ihre Stimme noch kurz nach ihrer Verwandlung zur Andersartigen im Beisein von Nellie regelrecht geschrien und wegen der gegensätzlichen Art Alarm geschlagen, war sie nun seit Jahren verstummt. Schon seit ihrer Kindheit hat Nancy sich um ihren Zwilling gekümmert, sie gestärkt und ihr Halt gegeben, weswegen sie nicht zugelassen hatte, dass die schwesterliche Liebe für Nellie durch die Andersartigkeit beeinflusst wurde.
„Das Gespräch ist beendet, Felix. Wir können nach meinem Termin gerne noch einmal in Ruhe darüber reden, aber die Zimmerverteilung bleibt bestehen, auch wenn sie nicht deinem Wunsch entspricht.“
Er ließ dem schwarzhaarigen Jungen nicht noch einmal die Chance, den Besuchern und dem Direktor dazwischenzufunken, sondern richtete seine Worte an Nancys Vater: „Entschuldigen Sie bitte die unvorhergesehene Unterbrechung.“
Während Mr. Barnheim mit Henry nach der Verzögerung das Sekretariat betrat, wollten auch Nancy und ihr Zwilling ihnen folgen. Wäre da nicht immer noch Felix, der zu zögern schien, ob er dem Schulleiter einfach folgen oder es erstmal auf sich beruhen lassen sollte.
Nancy legte ihre Tasche neben den beiden Koffern an der Seite ab und richtete ihren gebeugten Oberkörper ruckartig auf, als Nellies zaghafte Stimme erklang, die sich bei Felix erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Sofort verfinsterte sich der Blick der blonden Impater. Statt die Hilfsbereitschaft dankbar schätzen zu wissen, murmelte der Schwarzhaarige maulend: „Auch das noch.“
Dass sich dies aber nicht auf Nellie, sondern auf den Jungen bezog, der sich ihnen näherte und allem Anschein nach auch zum Direktor wollte, stellte sich kurz danach heraus, indem Nancy Felix’ Blick beiläufig folgte. Kaum auf den Neuankömmling aufmerksam geworden, stellte die Amerikanerin eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Gesichtszügen der beiden Jungen fest. Ihre Haarfarben dagegen standen in starkem Kontrast zueinander. Hell und Dunkel.
Die Überlegung an eine mögliche Verbindung verwarf sie uninteressiert, als ihre Stimme ihr eine Abneigung gegen den blonden Jungen zuzuflüstern versuchte. So penetrant wie die Beeinflussung sich bemühte, musste Nancy davon ausgehen, dass es sich bei ihm nicht nur um einen gewöhnlichen Menschen, sondern um einen Parcatis handelte.
Diese Vermutung sprach sie nicht laut aus und nahm lediglich mit einem knappen Nicken als Antwort auf seinen freundlichen Gruß von seiner Anwesenheit Notiz. Nellie erwiderte jenen mit einem schüchternen „Hallo.“
Nur beiläufig nahm Nancy zur Kenntnis, dass trotz der ähnlichen Mimik der Blonde älter als Felix aussah und ein Stück größer war. Auch an dessen Ausdruck zeichneten sich sichtbare Unterschiede ab, die bei Nancy einen eher belustigenden Effekt erzielten.
Felix’ Mund war zu einem unbegeisterten Schmollen geformt und die hellblauen Augen funkelten die dunkleren böswillig an, als wäre er ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Der Größere hingegen teilte ihm mit, dass er sich freute, ihn wiederzusehen und breitete die Arme zu einer Umarmung aus.
„Komm, Dad wartet sicher schon auf uns.“ Nancy wandte sich an ihre Schwester und wollte sich von den beiden Jungs entfernen, um nicht etwas von der Lava abzubekommen, wenn der Vulkan tatsächlich ausbrach.
Sie wartete geduldig darauf, dass Nellie ihre Tasche zu dem anderen Gepäck stellte. Leider bewahrheitete sich Nancys Befürchtung und das Unglück nahm innerhalb einer winzigen Sekunde seinen Lauf, ohne dass sie es verhindern konnte.
Das hörbare Schnauben von Felix bildete eine perfekte Symbiose mit der abwehrenden Armbewegung, die genug Kraft hatte, den Blonden von sich zu stoßen. Der Größere versuchte Halt an der Wand zu finden und stützte seine Arme nach hinten ab. Dabei stieß er an Nellie, der die Tasche von der Schulter glitt und die gegen die Wand gedrückt wurde. Alarmiert durch den erschrockenen Laut ihrer Schwester eilte Nancy zu ihr.
„Idiot!“, schimpfte sie über den flüchtenden Impater.
Es passte ihr nicht, unfreiwillig in fremde Konflikte hineingezogen zu werden, die sie weder interessierten noch etwas angingen. Für die kontrollierte und stets gefasste Amerikanerin stellte es ein Unding dar, sich so flegelhaft zu benehmen. Ihre Meinung über diesen Felix sank ins Bodenlose.
„Wir bezeichnen ihn eher als Kobold, wenn er sich so benimmt“, entgegnete der blonde Junge scherzhaft auf die Beleidigung, die Nancy Felix hinterhergeworfen hat. Mit einem verlegenen Schmunzeln versuchte er die Situation noch zu retten. „Ich muss mich für meinen Bruder entschuldigen. Er… freut sich nur so unbändig mich zu sehen.“
Ein Fakt, der kaum zu übersehen war und zu dem Nancy Stellung beziehen wollte, wenn ihr ihre Zwillingsschwester nicht zuvorgekommen wäre.
„I-ist ja nichts passiert“, erwiderte Nellie schnell und freute sich über die Hilfsbereitschaft des Blonden, der ihr mit den Taschen half und sich besorgt vergewisserte, dass ihr durch den abrupten Zusammenstoß nichts geschehen war.
„Du solltest ihn besser einfangen, bevor er mit seiner Freude noch irgendwen versehentlich die Treppe hinunterstößt“, reagierte Nancy schnippisch auf den völlig unpassenden und deplatzierten Kommentar, an dem sie nichts Lustiges finden konnte.
Mit dieser Entgegnung schien der Blonde nicht gerechnet zu haben und blinzelte sie erstaunt an. Ausdruckslos trafen die grünen Augen auf die blauen ihres Gegenübers. Seine Mundwinkel zuckten schwach und offenbarten anschließend ein selbstbewusstes Lächeln. „Du hast recht. Mister Barnheim scheint sowieso noch beschäftigt zu sein.“ Und somit verabschiedete er sich von den Zwillingen. „Dann werd ich ihm mal hinterhergehen, bevor er wirklich noch was anstellt. Man sieht sich.“
Nancy verzog keine Miene, als er an ihr vorbeiging. Sie wollte den Gedanken an die ungleichen Brüder erstmal beiseiteschieben, auch wenn Nellie kleinlaut davon sprach, dass er doch ganz freundlich war. Dass sie dadurch unscheinbare Kritik an Nancys ablehnendem Verhalten äußerte, war ihr vermutlich nicht bewusst. Deshalb griff die blonde Impater eine von Nellies Einschätzungen auf, nachdem sie kurz im Türrahmen stehen geblieben war: „Denkst du immer noch, dass Felix nur unsicher ist?“
Nellie gab mit einem langsamen Kopfschütteln zu, dass die Unsicherheit nicht für so ein konfliktsuchendes, nahezu feindseliges Verhalten verantwortlich sein konnte. Dennoch hielt sie tapfer ihre Einstellung aufrecht und äußerte, dass er womöglich schlichtweg mit Problemen zu kämpfen hatte und sich nicht anders zu helfen wusste, als um sich zu schlagen.
Nancy zuckte unbeteiligt mit den Schultern und betrat nach der Verzögerung mit Nellie das Sekretariat. Hinter einem hohen Schreibtisch saß Mrs. Farrell, die auf die geöffnete Tür deutete, die den Durchgang zum Büro des Direktors darstellte. Gutmütig und die Situation im Gang offenbar missverstehend, erfreute sie sich daran, dass die Zwillinge schon ersten Anschluss gefunden haben.
Neben dem piependen Ton, der ein Fax ankündigte, hörte Nancy die Stimme des Direktors. Nach nur wenigen Worten kristallisierte sich heraus, über welches Thema sie gerade sprachen, weswegen sie Nellie einen aufmunternden Blick schenkte.
„Sie können unbesorgt sein. Mister Serra verfügt über außerordentliche pädagogische Fähigkeiten und seine Referenzen sind herausragend. Aber Sie können sich gerne selbst ein Bild von unserem geschätzten Kollegen machen. Ich habe ihn gebeten, unserem Gespräch beizuwohnen.“
Nachdem Nancy tröstend nach Nellies Hand gegriffen und sie kurz gedrückt hatte, klopfte sie behutsam an die Tür, um auf sich und ihre Schwester aufmerksam zu machen – außerdem konnte sie so die Unterhaltung unterbrechen, der Nellie mit ihrem ausgeprägten Gehör in ihrem gesamten Ausmaß ausgesetzt wäre.
„Nellie, Nancy, setzt euch doch.“ Mr. Barnheim bot ihnen einen Platz neben ihrem Vater an und lehnte sich selbst in seinen Bürostuhl zurück.
Der mittlere Stuhl wartete darauf, von Nellie besetzt zu werden. So hatte sie zur Linken ihren Vater als Stütze, während Nancy sich rechts von ihr hinsetzte. Die Impater ließ ihren Blick unauffällig schweifen, um sich ein Bild vom Zimmer des Direktors zu machen.
Der Raum verzichtete auf dunkle Farben, wirkte durch die hellgrünen Nuancen sehr offen und weit. Hinter dem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch befand sich ein Doppelfenster, geschmückt mit Blumen und braunen Gardinen, die den Luftzügen zur Sichtbarkeit verhalfen. Außerdem erinnerten die Farben an den Wald, der vom Fenster aus gut sichtbar war. Platz für Ordner und Bücher bot das Regal, das bis an die Decke reichte und dem Raum aufgrund seiner Breite ein wenig die Größe nahm.
Bevor sie das Gespräch wieder aufnehmen konnten, betrat eine weitere Person das Büro. Der Direktor stellte den schwarzhaarigen Mann sogleich als Vincent Serra, den Vertrauenslehrer der Morrison Memorial School, vor. Obwohl er noch nicht zu den älteren Herrschaften gehörte, strahlte der Lehrer Autorität und Pflichtbewusstsein aus.
Mr. Serra begrüßte die Gäste mit einem Händedruck und beschaffte sich dann eine Sitzgelegenheit aus dem Sekretariat, um sich dazu setzen zu können. Dabei achtete Nancy auf die fein definierten Muskeln an seinen dezent gebräunten Armen, die durch das kurzärmelige Hemd gut sichtbar waren. Er besaß eindeutig eine sportliche Statur, was zu einem seiner Unterrichtsfächer passte.
„Euer Vater und ich haben uns gerade über die außerschulische Betreuung unterhalten“, fasste Mr. Barnheim für seinen Kollegen und die Zwillinge zusammen.
Nancy hatte befürchtet, der Direktor würde sich in Lügen verstricken, um Nellie nicht in Verlegenheit zu bringen, doch er blieb bei der abgeschwächten Form der Wahrheit. Es war mit ihren Eltern so abgemacht, dass sie nur unter der Bedingung Schule und sogar Land wechseln durften, wenn es sich um ein Internat mit besonderer Betreuung handelte und es jederzeit einen Ansprechpartner für Nellie gab. Seit einem Vorfall vor ein paar Jahren, bei dem Nellie nicht nur im Krankenhaus gelandet war, sondern auch ihren Eltern den Schrecken ihres Lebens verpasst hatte, waren sie besonders vorsichtig geworden.
Die Jüngere schien ebenfalls daran zurückerinnert zu werden und zog nervös ihre Ärmel nach vorne. Nancy legte ihr beruhigend eine Hand über die halb verdeckten Finger und lächelte aufmunternd.
„Unser Internat verfügt über eine kompetente Erzieherin, die stets ein offenes Ohr für die Probleme unserer Schüler hat.“
Um Mr. Barnheims Worte zu unterstreichen, nickte Mr. Serra und fügte hinzu: „Auch nachts gibt es fortwährend Ansprechpartner für die Schüler und Schülerinnen. Das Kollegium übernimmt abwechselnd die Nachtaufsicht.“
„Ist es durch den ständigen Wechsel der Betreuungspersonen nicht schwieriger, Vertrauen aufzubauen?“, äußerte Henry seine Bedenken, die der Vertrauenslehrer zu zerstreuen wusste: „Bei der Nachtaufsicht geht es hauptsächlich darum, ein Ansprechpartner zu sein und um unsere Erzieherin zu entlasten. Wir pflegen engen Kontakt zu unseren Schülern und wir sind sehr darum bemüht, nicht nur Lehrer, sondern auch eine Vertrauensperson für sie darzustellen. Vor allem außerhalb des Unterrichts.“
„Deshalb haben wir uns dagegen entschieden, mehrere Erzieher einzustellen. Die Lehrkräfte sind den Schülern bereits bekannt und wir achten darauf, sie in den zwischenmenschlichen und pädagogischen Bereichen regelmäßig fortzubilden“, pflichtete der Direktor seinem Mitarbeiter bei.
Nancy warf einen Blick zu ihrem Vater, der zufrieden mit der Antwort schien und gebannt den weiteren Informationen lauschte. Auch Nellie war um Sicherheit bemüht, was ihr kläglich misslang. Dass die Unsicherheit wie eine Klette an ihr hing und sie partout nicht loslassen wollte, zeigte sich auch durch die unkontrollierten Bewegungen ihrer Finger, die Nancy nicht verborgen blieben.
„Bei uns steht der Mensch mit seiner Persönlichkeit im Vordergrund. Wir lernen unsere Schüler kennen und passen die Betreuung den individuellen Bedürfnissen eines jeden an“, brachte Mr. Serra das Konzept des Internats auf den Punkt und lehnte sich aufgeschlossen nach vorne, die Arme dabei auf dem Schreibtisch ablegend. „Ebenso wenig müssen Sie sich um die medizinische Betreuung Gedanken machen. Die Schulärztin Doktor Peck besitzt einen eigenen Wohnraum im Internat und kann dadurch selbst in der Nacht schnell bei den Kindern sein. Sie verfügt über einen reichen Erfahrungsschatz. Sie können unbesorgt sein.“
„Das ist wirklich sehr beruhigend zu wissen“, erwiderte der Familienvater und wurde von Mr. Barnheim danach gefragt, ob er es richtig in Erinnerung hatte, dass seine Frau und er selbst Mediziner waren. In diesem Zuge entschuldigte Henry die Abwesenheit seiner Frau aus eben diesem Grund.
„Habt ihr zwei denn noch konkrete Fragen?“, wandte sich Mr. Serra an die Zwillinge.
Ermutigend sah Nancy zu ihrer Schwester, die sich mit einer brüchig klingenden Verneinung dagegen entschied, das Wort zu ergreifen.
„Das Meiste ergibt sich auch während der ersten Tage“, versicherte der Vertrauenslehrer überzeugt und griff nach den beiden Schnellheftern, die vor Mr. Barnheim auf dem Schreibtisch lagen. „In diesen Unterlagen findet ihr alles, was fürs Erste wichtig ist. Stundenpläne, einen Gebäudeplan mit der Raumbelegung für den Unterricht, die ausführliche Schul- und Hausordnung und ganz wichtig: Die Zahlencodes für den Mädchentrakt und den für euer Zimmer.“
„Ganz moderne Technik.“ Henry schmunzelte und schaute in Nellies Schnellhefter, den sie neugierig aufgeschlagen hat. Nancy suchte zunächst die Information zu ihrem Zimmer und den entsprechenden Zahlencode, um im Anschluss nicht im gesamten Mädchentrakt herumirren zu müssen.
„Wir versuchen eine ausgewogene Mischung zwischen Alt und Neu zu schaffen“, entgegnete der Direktor amüsiert und erhob sich in einer gemächlichen Bewegung von seinem Bürostuhl. Sein Ziel war ein dicker Ordner im Regal, den er konzentriert nach einer bestimmten Registerkarte abzusuchen schien. „Alle nötigen Unterlagen für die Aufnahme sind vorhanden, wir benötigen also keine weiteren Dokumente.“ Der Verkündung folgte das Zuschnappen des Ordners, nachdem er ihn auf dem Schreibtisch abgelegt hatte.
„Gerne würde ich Sie noch durch unsere Räumlichkeiten führen, aber heute erwarten mich noch einige Neuankömmlinge. Sie sind natürlich trotzdem herzlich eingeladen, sich im Internat noch genauer umzusehen, Mister Taylor. Auch unsere Mensa steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung“, bot der Direktor freigiebig an. „Sie werden sicher den restlichen Tag bei Ihren Töchtern verbringen wollen.“
„Würde ich gern“, antwortete Henry bedauernd, „aber der einzige freie Flug nach Kalifornien startet heute Abend.“
Damit betonte er, dass der Abschied unmittelbar näher rückte und sorgte für einen bedrückten Blick der Zwillinge. Auch wenn Nancy es nicht offen zeigte, würde sie ihre Eltern sehr vermissen und sich ein wenig im fremden Land verloren fühlen. Es war das erste Mal, dass sie ohne ihre Eltern für eine lange Zeit im Ausland lebten, weswegen sich der Internatsaufenthalt keinesfalls mit den Urlauben in anderen Ländern vergleichen ließ. Das Wissen, für Nellie stark sein zu müssen, gab der Impater jedoch den nötigen Antrieb, sich nicht anmerken zu lassen, dass auch sie Gefühle wie Heimweh und Sehnsucht nach den Eltern verspürte.