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Felix Hohenfels
Оглавление03.09.2018 – Abend
Morrison Memorial, Gemeinschaftsraum
Die trägen Schritte zogen sich die ganzen Treppenstufen hinab, bis Felix endlich im Erdgeschoss angelangt war. Er hatte einen letzten optimistischen Versuch gestartet und sich über die Zimmerbelegung beschwert – und war gescheitert. Mr. Barnheim und der Vertrauenslehrer hatten ihm geduldig erklärt, dass ein Zimmerwechsel nicht möglich war und er sich damit arrangieren musste. Die beiden waren Felix’ Ansicht nach eine ganz miese Kombination. Selbst wenn er sich aufführte wie ein Rumpelstilzchen und schimpfte, reagierten sie mit ruhiger, beherrschter Strenge, die ihn oft mehr provoziert hatte, als es der eigentliche Beschwerdegrund tat.
Das schwere Seufzen, das sich aus seiner Kehle verabschiedete, verdeutlichte, wie ausgelaugt und enttäuscht er von der zerstörten Hoffnung auf eine Änderung seiner Zimmergenossen war. Zwar hatte er verzweifelt dagegen argumentiert, den eigentlichen Grund, wegen dem er sich nicht damit abfinden konnte, aber verschwiegen. Wie hätte er ihnen verständlich machen sollen, dass er in Gegenwart seines Bruders und der anderen beiden keine Ruhe finden konnte? Dass die Stimme in seinem Kopf penetrant gegen sie rebellierte und er nichts dagegen unternehmen konnte? Sie hätten ihn für verrückt erklärt und ihm einen Psychotherapeuten gesucht. Felix schnappte erbost nach Luft. Auf diese unwillkommene Hilfe konnte der genervte Impater verzichten.
Den Plan verfolgend, auf dem Sportplatz den Kopf freizubekommen, hielt er lauschend inne, als Max’ munteres Lachen ihn überraschte.
Felix wollte es ignorieren und an seinem Vorhaben festhalten, doch als er aufschnappte, dass sich das Gespräch ums Kickern drehte, wurde der 16-Jährige neugierig. Die ausgelassenen Töne drangen aus dem Gemeinschaftsraum zu ihm durch, auf den er sich zubewegte. Seit langem betrat er das Zimmer wieder, in dem regelmäßig für die einzelnen Jahrgänge Spiele- oder Fernsehabende abgehalten wurden. Angeblich sollte es das Gemeinschaftsgefühl und den Zusammenhalt stärken und eine Vertrauensbasis zu den angestellten Pädagogen schaffen. Felix hatte dafür nur abfällige Ignoranz übrig. Für seine Mitschüler schien alles so einfach zu sein, niemand kannte diese Welt, in denen die Uhren anders tickten.
Wie erwartet stand die Tür offen. Alle waren herzlich eingeladen, sich hier aufzuhalten, weshalb es nicht gerne gesehen wurde, wenn der Eingang versperrt wurde.
Felix’ Blick wanderte im Raum umher. Es war auffällig leer, was in seinem Interesse lag und er sich weiter bis hin zu den flauschigen, bunten Teppichen vorwagte.
Max und Zac standen am Kickertisch vor dem großen Nischenfenster. Sein dritter Zimmergenosse zog es vor, es sich auf einem der vielen Sofas rund um den Flachbildschirm bequem zu machen. Max stand mit dem Rücken zu Felix. Er versuchte seinen Mitbewohner zu überzeugen, eine Runde mit ihnen zu spielen und ignorierte übermütig, dass Lewis sich lieber mit seinem Notebook beschäftigte.
„Wir beide gegen Zac“, sagte Max auffordernd zu ihm. Der schüttelte entschieden den Kopf. „Kickern ist nicht mein Ding.“
„Meins auch nicht so sehr, aber zu zweit schaffen wir es, Zac zu schlagen“, gab Max nicht auf.
Durch ein belustigtes Schnauben, das Felix nicht länger zurückhalten konnte, wurde man auf ihn aufmerksam. Mit jemanden zusammen gegen Zac anzutreten, war die einzige Möglichkeit für Max zu gewinnen. Sofort erhellte sich dessen Gesicht und Lewis durfte sich in Ruhe seinen eigenen Interessen widmen.
„Okay, Lewis, du bist erlöst. Felix spielt in meinem Team!“, bestimmte der Blondschopf und richtete eine frotzelnde Kampfansage an den Gegner: „Jetzt kannst du einpacken.“
Zac zeigte sich siegessicher. „Träumt weiter, Jungs.“
Felix überbrückte mit schnellen Schritten die Distanz zum Kickertisch und schnappte sich gezielt die beiden Griffe für die Angriffspositionen, die Max ihm bereitwillig überließ. Zac hatte sie früher immer geschlagen und knüpfte sein Selbstbewusstsein an die zurückliegenden Erfolge. Er schien nicht zu bedenken, dass sie jetzt keine kleinen Kinder mehr waren, die fasziniert zu dem großen, talentierten Bruder aufblickten.
„Lassen wir alte Zeiten aufleben.“
Ein gut gemeinter Appell an die vergangenen Zeiten löste in Felix nicht die Euphorie aus, die sich Max vermutlich erhofft hätte. Stattdessen wurde eine andere Emotion freigesetzt. Eine, die ihm die Veränderung von früher und heute aufzeigte und Unruhe in dem jungen Impater weckte. In nur wenigen Sekunden wurde sie so stark, dass die Stimme in ihm grollte, sich von diesem Gesindel fernzuhalten. Felix sah kurz vom Spielfeld hoch und entdeckte das warme Lächeln auf den Lippen seines Bruders, während der Blick in die wohlvertrauten Augen einen Konkurrenzkampf andeuteten.
Der Impater sträubte sich, diese Abneigung wieder zuzulassen und das bisschen Vertrautheit aufzugeben, die sich wie ein tapferes Gänseblümchen durch die kalte Schneedecke voller Abweisung und Enttäuschung kämpfte. Seine Andersartigkeit durfte nicht länger über sein Leben bestimmen. Er selbst wollte entscheiden, wen er mochte und mit wem er seine Zeit verbrachte.
Hoch motiviert legte Felix seine Hände um die Griffe und behielt das Spielfeld aufmerksam im Blick. Durch die Verkrampfung traten seine Fingerknöchel deutlicher hervor. Er redete sich ein, sie würde sich in der Hitze des Gefechts ganz von selbst lösen. Ob nun aus Stolz, sich erfolgreich gegen seine Instinkte zur Wehr gesetzt zu haben, oder weil er von dem packenden Match abgelenkt und mitgerissen wurde, war ihm einerlei. Wichtig war nur, dass er dieses Spiel so wie früher genießen konnte.
„Kann’s losgehen?“
Nachdem einstimmig beschlossen wurde, dass sie starten konnten, ließ Max die Kugel von oben in die Mitte des Spielfelds fallen. Klackernd schlug sie auf dem Holz auf. In dem Moment, als der Ball das Spielfeld berührte, durchfuhr Felix ein schrecklicher Ruck, der ihn innehalten ließ. Die Figuren unter seiner Führung rührten sich keinen Millimeter. Er sah, wie der Ball sich bewegte, während die animierenden Rufe ihn kaum erreichten. Das vehemente Wehren gegen die Meinung der Stimme führte nur dazu, dass sie jetzt aggressiver versuchte, sich den Gedanken des Andersartigen zu bemächtigen. Die Stimme grollte und je mehr er sich in Erinnerung rief, dass Zac und Max Menschen waren, denen er vertrauen konnte, desto stärker tobte der Kampf in seinem Inneren. Ein Kampf, den er nicht imstande war zu gewinnen und der ihn schon viele Jahre in die Knie zwang. Zu viele Jahre.
„Alles in Ordnung?“, drang Max’ Stimme skeptisch an seine Ohren, nachdem der Ball direkt vor einem seiner Spielfiguren gelandet war und darauf wartete, im Tor des Bruders versenkt zu werden.
Es war nur ein angedeutetes Nicken, doch der leidende Gesichtsausdruck, der sich ohne sein Zutun gebildet hat, würde Zac und Max eröffnen, wie es tatsächlich um sein Wohlbefinden stand.
Die Hand, die sich fürsorglich nach ihm ausstreckte, wies er ab, indem er resignierend einige Schritte zurückstolperte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Flucht aus dem Gemeinschaftsraum, um die quälende Stimme zu befriedigen, die es ihm nicht erlaubte, das Leben zu führen, das ihn früher glücklich gemacht hat.
Aufgewühlt lehnte er sich gegen die Wand neben der Tür. Er kam gar nicht erst dazu durchzuatmen, denn er ahnte, dass sie ihm folgen würden. Der Teil in ihm, der die Sorge zu schätzen wusste, hatte längst verloren. Ein leiser Fluch polterte über seine angespannten Lippen.
Felix sah sich überstürzt nach einem Versteck um, in dem er erstmal zur Ruhe kommen konnte, bis sich die Rebellion in seinen Gedanken wieder beruhigte. Wie sollte er den beiden erklären, was mit ihm los war? Er verstand doch selbst nicht, wie der andersartige Einfluss die komplette Kontrolle über sein Denken und Handeln übernehmen und er die Nähe seiner engsten Vertrauten nicht mehr zulassen konnte.
Der überschaubare Gang bot neben Durchgängen zu verschiedenen Räumen nicht viele Möglichkeiten und eine Flucht hinaus in den Innenhof war ausgeschlossen. Heitere Stimmen strömten auf ihn ein, deuteten auf eine Ansammlung von Menschen, die er jetzt ebenso wenig ertragen konnte wie die Sorge von Zac und Max.
Ein schwankender Schritt voller Unschlüssigkeit führte ihn zum Heizraum, zu dem Schüler keinen Zutritt hatten. Trotz des Wissens, dass er meistens abgeschlossen war, versuchte Felix sein Glück und legte seine Hand hoffnungsvoll auf den Türgriff. Sein Blick richtete sich gehetzt zum Gang und erkannte so nur aus dem Augenwinkel, dass sich ein schwacher blauer Schimmer um seine Hand abzeichnete. Kurz darauf sprang die Tür auf. Diesen glücklichen Umstand annehmend, huschte er in den Raum und zog lautlos die Tür hinter sich zu. Darauf bedacht zu schleichen, bewegten sich Felix’ Füße geräuschlos über den kalten Boden.
Schwarze Kacheln lockerten die trist grauen Fliesen in einheitlichen Abständen auf. Felix trat unachtsam auf eine staubige Platte. Der abgebröckelte Putz von der Decke machte sich knirschend unter seinen Schuhen bemerkbar. Den Kopf in den Nacken gelegt, betrachtete er die Stelle über seinem Kopf kritisch. Eines der vielen Rohre war über ihm durch die Decke gestoßen, die Öffnung rundherum mit Mörtel verkleidet. Von den Eindrücken im Raum kurz abgelenkt, hat er nicht mehr auf mögliche Schritte oder Stimmen geachtet, weswegen es ihn kalt erwischte, als er glaubte, verdächtige Geräusche zu hören.
Hastig drehte Felix den Kopf zur Tür und vergewisserte sich, dass diese geschlossen blieb. Ehe er jedoch erleichtert aufatmen konnte, bemühte er sich um einen Platz, an dem er sich erschöpft niederlassen und abwarten konnte, bis sich die Lage beruhigt hatte. Zwischen mehreren dicken in der Wand verlaufenden Rohren und einem großen Heizkasten kauerte er sich zusammen und lauschte dem surrenden Geräusch, mit dem die Geräte ihre Arbeit demonstrierten. Es bot für Felix ein gutes Versteck vor den Fragen und den Sorgen seiner Liebsten. Vor sich selbst jedoch, konnte der Impater weder fliehen, noch sich verstecken. Die Pein tief in seinem Inneren folgte ihm überallhin.
Dumpf hörte er die Stimme seines Bruders. Er suchte nach ihm. Obwohl der Ruf nichts Greifbares war, drängte er Felix wie ein gefährliches Monster zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand angelangt war und nicht weiter zurück konnte. Ein Zustand, der für Panik sorgte.
Felix schlang seine Arme fester um die Beine. Wo war die Zeit geblieben, als er der Stimme seines Bruders gerne gelauscht hatte? Zac war ein begnadeter Geschichtenerzähler und immer, wenn Felix es gewünscht hatte oder es ihm schlecht gegangen war, hatte der Ältere ihm eine seiner selbsterfundenen Geschichten über die liebgewonnenen Fuchsbrüder erzählt. Der große und der kleine Fuchs streiften durch seine Gedanken. Ein zögerliches Lächeln baute sich auf, das sich nicht von der Feuchte an seinen Wangen unterkriegen ließ. Die Erinnerungen spendeten dem trostlosen Moment etwas Hoffnung.
Der nur durch ein schmales Fenster spärlich beleuchtete Heizungsraum wurde von einem schwachen Leuchten an seinem Oberarm erhellt, das er mit seiner Hand zu verdecken versuchte. Ungehindert trat die Helligkeit nach außen und das Licht, das in Form einer nach rechts geneigten Waage erstrahlte, war so viel greller, als dass es sich verhüllen ließ.
Zacs Stimme erklang erneut, jedoch weiter weg und dadurch leiser.
Wie sein Bruder wohl die Geschichte der Fuchsgeschwister weitererzählen würde? Dass der kleine Fuchs aus dem Bau gejagt wurde und seine Heimat verlassen musste, um fortan in einem fremden Wald mit unbekannten Artgenossen zu leben?
Sein Lächeln schwand. Seine Miene verzog sich bitterlich. Als das Beste für ihn hatten seine Eltern und sein Bruder es bezeichnet. Nichts war besser als das Zuhause, nichts wichtiger als die Familie. Wie konnten sie es also wagen, zu behaupten, dass sie nur das Beste für ihn wollten?
So plötzlich, wie es gekommen war, verblasste das Licht an seinem Oberarm. Seine verkrampften Hände lockerten sich, nur um sich kurz darauf wieder fester in seine Haut zu bohren. Ein leiser Pfeifton mischte sich zu dem Surren und steigerte das Erschrecken, das sich in den blauen Augen auszubreiten begann. Das Geräusch war schnell lokalisiert. Eine gelockerte Schraube an einem der Rohre sorgte für den surrenden Ton und kündigte an, ihre Arbeit einzustellen.
„Aufhören“, jammerte Felix in leiser Verzweiflung.
Wieder kein unglücklicher Zufall, wieder nicht nur bloßes Pech. Erneut befand er sich in einer emotionalen Notlage und es trugen sich sonderbare Ereignisse zu, etwas, das andere als Glück oder Unglück bezeichneten. Er war der leibhaftige Glücks- als auch Pechbringer für sich und für andere, ohne dass er es beeinflussen konnte. Die Andersartigkeit hatte sich wie eine Krankheit in seinem Körper ausgebreitet, deren Verlauf chronisch und unaufhaltsam in sein einst so reiches Leben eingriff.
Mit einem tiefen Atemzug ließ Felix seinen Kopf auf die angezogenen Beine sinken. Er unterdrückte ein Schluchzen, hatte Angst, trotz der störenden Geräusche entdeckt zu werden.
Der anbrechende Abend hüllte den Impater in Unscheinbarkeit und verbarg seine Tränen im Nebel der sich ausbreitenden Dunkelheit.