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Nellie Taylor

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03.09.2018 – Mittag

Morrison Memorial, Mädchentrakt


„Hast du das gerade eben gespürt?“

Aufgeregt griff Nellie nach dem Arm ihrer Schwester und rüttelte sachte daran. Nancy betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick, da sie ihren Zwilling nur selten so außer sich erlebte. Sie wusste auch sogleich, worauf Nellie hinaus wollte und antwortete: „Ich habe nichts gespürt.“

„Ist das nicht großartig?“ Befreit atmete Nellie aus und sah lächelnd in den Himmel empor, während die beiden neuen Schülerinnen der Morrison Memorial School auf dem Weg zu ihrem Zimmer waren.

Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass die leise Stimme in ihrem Kopf Ruhe gegeben hatte und die Hintergrundgeräusche samt Gemurmel in der Aula deutlich gedämpft waren. Nellie vermutete, dass es die Lautstärke war, die gewöhnliche Menschen vernahmen. Erst dadurch fiel ihr auf, wie gravierend der Unterschied nicht nur im Bezug auf ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten war. Die Umstellung zum gewöhnlichen Hören war ungewohnt gewesen, doch müsste Nellie lügen, wenn sie behauptete, die Normalität vermisst zu haben, die zurückgekehrt war, als sie die Aula verlassen hatten. Dennoch gaben die erneut säuselnde Stimme und die bekannte Lautstärkewahrnehmung ihr auch eine gewisse Art von Sicherheit.

„Was meinst du, wie das möglich ist?“, sinnierte die Jüngere und sah fragend zu ihrer Schwester. Diese hob ahnungslos die Schultern. „Ich weiß es nicht. Mir war nicht einmal klar, dass so etwas überhaupt möglich ist.“

Nellie nickte knapp. Die Zwillinge gehörten zwar bereits seit einigen Jahren in diese magische Welt, aber ihr Wissen beschränkte sich auf das Nötigste, das ihnen ihre Stimmen mitteilten. Das, was sie waren und was sie konnten. Mehr vermochte auch die unsichtbare Entität ihnen nicht zu übermitteln. Umso mehr war Nellie davon überzeugt, dass es die einzig richtige Entscheidung gewesen war, diese Schule aufzusuchen und womöglich mehr über die Andersartigen zu erfahren.

Erneut warf sie Nancy einen Blick zu. „Wie empfandest du es?“

Während sie nebeneinander liefen, fiel Nellie die vertraute Kälte auf, die die Ältere ausstrahlte. Als sie sich im Laufe der Rede kurz hilfesuchend an Nancy klammerte, hatte Nellie sofort bemerkt, dass sie wesentlich wärmer war, als sie es gewohnt waren. So wie die Stimme und das Gehör von Nellie beeinträchtigt wurden, schien es ebenso mit Nancys körperlichen Veränderungen geschehen zu sein. Da diese ihre Eiskräfte jedoch mochte, fragte Nellie sich unweigerlich, ob ihre Schwester dem, was sie als angenehm empfunden hatte, eher missfallend gegenüberstand.

„Es war… befremdlich“, antwortete Nancy bloß, was jedoch Antwort genug war und Nellie nicht weiter nachhakte.

Inzwischen waren sie am Gebäude der Mädchenschlafzimmer angekommen. Nancy gab schnell den Zahlencode des Sicherheitsschlosses ein, womit sie eintreten konnten. Auch die Treppen hatten sie schnell hinter sich gebracht, damit sie zum Ende des Ganges der ersten Etage gelangen konnten. Da sie aufgeschnappt hatten, dass für den Rest des Tages keine Uniformpflicht mehr bestand, entschieden sich die Mädchen in ihre eigene Kleidung zu schlüpfen. Damit wurden die weißen Blusen und die königsblauen Wickelröcke fein säuberlich in die Schränke gehängt, wo bereits farblich passende Blazer, Pullover und Westen auf sie warteten. Im Gegenzug griffen sie nach ihrer mitgebrachten Kleidung, die sich jeweils auf eigene Weise von der Uniform unterschied. Während Nancy Jeans und elegante, figurbetonte Oberteile bevorzugte, zeigte sich Nellies Auswahl farbiger und verspielter. Sie schlüpfte in einen luftigen Rock und eine hellblaue Tunika, die zum angenehmen Wetter passten. Prüfend zupfte sie an ihrem linken Ärmel und rückte das breite Armband zurecht, das dort einen festen Platz besaß.

„Ich bin gespannt, wie sich der Unterricht hier von unserer alten Schule unterscheiden wird“, plauderte Nellie, während sie sich mit der Bürste durch die voluminösen Locken fuhr.

Ihre Eltern hatten dafür gesorgt, dass die Zwillinge auf die beste Schule ihrer Stadt gehen konnten und dort gefördert wurden. Daher stieß der Grund der besseren Ausbildung an der Morrison Memorial School bei Henry und Emily zuerst auf taube Ohren. Vermutlich war Nellie nicht überzeugend genug gewesen, da es ihr in Wirklichkeit nicht um die Zukunftsförderung gegangen war. Aber wie hätte sie ihren Eltern auch sagen können, dass ihr Bauchgefühl sie hierherzog, um Antworten auf ihre Andersartigkeit zu bekommen? Zu ihrem Glück wusste Nancy weitaus besser zu argumentieren und die unzähligen Diskussionen zu ihren Gunsten zu drehen.

„Die Lehrer scheinen zumindest ganz nett zu sein“, meinte sie weiter und dachte erneut an die vorgestellten Lehrkräfte.

Einige von ihnen wirkten strenger als andere, was jedoch nichts bedeuten musste. In ihrer alten Schule hatte sie durch Zufall erfahren, dass sich ausgerechnet der Lehrer, der von vielen Schülern wegen seiner steifen und wortkargen Art abgelehnt wurde, am meisten für die Fälle engagierte, die Probleme hatten dem Unterrichtsstoff zu folgen. Manche besaßen diese ruppige Art und versteckten dahinter ein großes Herz. Ob sich dies auch auf das Personal der Morrison Memorial School übertragen ließ, würde sich erst herausstellen müssen.

„Ich weiß auch genau, welchen Lehrer du besonders nett findest.“ Mit einem kleinen Schmunzeln trat Nancy zu ihrer Schwester an den Spiegel, nachdem sie den letzten Knopf ihrer dunkelblauen Bluse geschlossen hat.

Nellie zuckte kaum merklich zusammen und sah empört neben sich. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Vielleicht hast du es nicht bemerkt, aber mir ist nicht entgangen, dass du Mister Coleman besonders aufmerksam angestarrt hast.“ Nancys Mundwinkel waren leicht erhoben, während sie ihre Frisur und ihr Make-up begutachtete.

Auf Nellies Wangen zeichnete sich eine zarte Röte ab. Verlegen drehte sie sich dem Waschbecken zu und drückte den Griff der Bürste fest mit beiden Händen.

„I-ich habe ihn nicht angestarrt“, versuchte sie sich zu erklären, dachte dabei an den Referendar, „Ich finde seine Ausstrahlung bloß so einnehmend.“

Jason Coleman hatte bereits vor seiner Vorstellung Selbstvertrauen ausgestrahlt, was Nellie bewunderte. Ihr Auftreten stellte das genaue Gegenteil dar und sie wünschte sich, bloß ein wenig von dieser Eigenschaft zu besitzen.

Mit einem unauffälligen Seitenblick bedachte sie Nancy sehnsüchtig. Auch sie schritt mit durchgestrecktem Rücken und erhobenen Hauptes durch die Welt und strömte dabei eine solche Eleganz und Standhaftigkeit aus, die für Nellie in unerreichbarer Ferne lagen.

Durch ein Seufzen wurde Nancy auf ihre Schwester aufmerksam und wandte sich ihr zu. Eine Hand strich liebevoll eine schulterlange Strähne hinter Nellies Ohr und schenkte ihr ein kurzes Lächeln. „Vergiss nur nicht, dass er ein Lehrer ist.“

Nellie nickte und versuchte das Lächeln schwach zu erwidern. Als sie sah, dass Nancy aufbruchbereit war, legte sie ihre Bürste weg und folgte ihrem Zwilling zum Schlafraum zurück. „Aber es ist wirklich nicht so, wie du denkst! Mister Serra und Miss Kane wirken schließlich auch nett!“

Erneut traf ihr Rechtfertigungsversuch bloß auf ein wissendes Lächeln, was das Gefühl, sich erklären zu müssen, allmählich löste. Nancy würde es sowieso als Erstes merken, wenn sie sich wirklich in den jungen Lehrer verguckt hätte. Daher beließ Nellie es lieber dabei, nichts mehr dazu zu sagen. Stattdessen folgte sie der stummen Aufforderung der Hand an ihrem Rücken, dass sie gehen sollten.

In Between Two Worlds

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