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Nellie Taylor

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05.09.2018 – später Nachmittag

Morrison Memorial, Waldstück


„Ich brauche eine Pause.“

Mit einem leisen Seufzen löste Nellie sich von der Hand ihrer Schwester. Einen Moment lang sah sie Nancy dabei zu, wie sie über das Eis glitt, als würde sie schweben. Nellie hingegen wandte sich um und schaffte es nur auf wackeligen Kufen das sichere Ufer zu erreichen. Eislaufen war eines von vielen Dingen, die sie trotz Nancys beständiger Hilfe nicht gut konnte. Dennoch, so fand sie, war es kennzeichnend für ihr ganzes Leben: Es bewies, dass, egal auf welchem Untergrund sie sich bewegte, sie keinen festen Halt fand und immer auf Unterstützung angewiesen war. Sei es die vertraute Hand, die sie gekonnt über das Eis führte, oder jemand, der an ihrer Stelle sprach, weil sie vor anderen kein Wort herausbrachte.

Diese aufdringlichen negativen Gedanken schafften es jedoch nicht, ihr die gute Laune zu verderben. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie sich auf den Waldboden plumpsen ließ und zum bewölkten Himmel hinaufsah. Nicht nur das neue Leben im Internat war eine Umstellung für die Zwillingsmädchen, auch das Wetter war anders, als sie es gewohnt waren. Nellie vermisste die Sonne und das wärmere Wetter nicht, dagegen taten die Wolken ihrer Schwester gut, die nicht mehr aufpassen musste, sich den durchdringenden Sonnenstrahlen zu entziehen.

Die Jüngere wunderte sich noch immer, wie unterschiedlich sich ihre Verwandlungen zu Andersartigen zeigten. Während das feinere Gehör der Parcatis die einzige physische Veränderung an ihr war, wurde Nancys kompletter Körper einbezogen. Nicht nur, dass sie ihre eigene Körpertemperatur mithilfe ihrer Eiskräfte senken musste, um sich wohl zu fühlen, ihre Haut reagierte hoch allergisch auf Hitze und UV-Strahlen.

Nellie erinnerte sich noch gut an ihren ersten Spaziergang, nachdem die Verwandlung bei Nancy eingesetzt hatte. Es war Hochsommer gewesen, wolkenlos. Innerhalb weniger Minuten war ihre Haut von Pusteln und Entzündungen übersät gewesen, die ihr starke Schmerzen verursachten.

Trotz der Nachteile, die ihre gewonnene Kraft mit sich brachte, würde Nancy sie nicht mehr missen wollen. Nellie bewunderte die beinahe natürliche Begabung ihrer Schwester mit dem Unbekannten umzugehen. Schon früh schien ihr Körper die magische Kälte als Teil von sich akzeptiert zu haben. Die Eisbeschwörungen waren so elegant wie eindrucksvoll, dass Nellie sich noch immer nicht daran sattsehen konnte. Auch jetzt bewegte Nancy sich so geschmeidig und flink über den von ihr gefrorenen Weiher, dass man meinen könnte, sie hätte nie etwas anderes getan.

„Machst du dich kälter, seit wir hier sind?”, fragte Nellie neugierig nach, bekam jedoch einen verständnislosen Blick zurück. „Nein, ich mache es wie immer.”

„Dann kommt es mir bestimmt nur wegen des Wetters so vor”, tat sie die bemerkte Veränderung als Einbildung ab.

Vielleicht machte der Wetterwechsel ihr doch mehr zu schaffen, als sie erwartet hatte. Nachdem sie die Wärme ihrer Heimat gewohnt war, reagierte ihr Körper womöglich empfindlicher auf die niedrigen Temperaturen ihrer Schwester und der Luft. Aber daran würde sie sich ebenfalls gewöhnen.

„Wir haben wirklich Glück mit diesem Wald.“ Das zarte Lächeln auf den Zügen der Älteren, die eine Pirouette drehte, diente als Zustimmung.

Die Parcatis löste die Schleifen an ihren Schlittschuhen, um sie sich abzustreifen und mit ihren nackten Sohlen den Kontakt zum Boden zu suchen. Ihre Zehen gruben sich leicht in die feuchte Erde und ignorierten die Zweige und Steinchen, die sich ihr zu widersetzen versuchten. Es war wundervoll ruhig hier. Friedlich. Harmonisch. Zwar hörte sie deutlich die raschelnden Blätter, den pfeifenden Wind und die wilden Tiere, doch es waren keine Menschen hier. Keine Überforderung für das unsichere Mädchen. Keine fremden Gefühle, die sich ihr aufdrängen wollten.

„Hättest du je gedacht, so vielen Andersartigen auf einmal zu begegnen?“ Nellie zog nachdenklich die Beine an ihren Körper.

Sie hatte bereits die Vermutung gehabt, dass die Zwillinge nicht die einzigen existierenden Andersartigen sein konnten, aber vorher waren sie nie welchen begegnet. Möglicherweise gab es an ihrer alten Schule welche, die durch die Masse an Schülern untergegangen waren. An der Morrison Memorial School hingegen konnte Nellie deutlich spüren, dass es einige Impater geben musste. Auch Nancy bestätigte, dass sie bereits dem einen oder anderen Gegenstück ihrer Gesinnung auf den Fluren begegnet war. Von der einst isolierten Welt, in der sie gelebt hatten, hatten sie eine neue, offene betreten, die Nellie womöglich die unzähligen Fragen beantworten konnte, die sie seit vielen Jahren begleiteten.

Nancy kam schlitternd zum Stillstand und dachte über die Frage nach, sie schien inmitten der dichten Bäume nach der Antwort zu suchen. „Vielleicht hattest du recht damit, dass dieser Ort Andersartige anzieht“, antwortete sie schließlich und stieß sich mit einem Fuß ab, um ruhige Bahnen zu ziehen.

Noch immer war die Jüngere von dieser Theorie überzeugt, konnte sich jedoch nicht erklären, woher diese Anziehung stammte. Schon als sie einen Artikel über das renommierte Internat gelesen hatte, wusste sie, dass sie eines Tages hierher kommen musste. Dieses Gefühl verstärkte sich, je mehr sie recherchiert hatte. Nancy hingegen verspürte diesen Drang weniger stark. Wie es wohl bei den anderen war? Wenn sie doch nur den Mut hätte, einen ihrer Mitschüler danach zu fragen…

„Ob es noch eine dritte Art von uns gibt?“, überlegte Nellie laut und lenkte ihre grünen Augen wieder in den grauen Himmel.

„Meinst du, weil wir beide bei Mister Barnheim nichts gespürt haben?“, hakte Nancy nach und schüttelte beim Nicken ihrer Schwester den Kopf, „Ich weiß es nicht, Nellie. Wir haben so gut wie keine Informationen zur Andersartigkeit. Vielleicht gibt es einen anderen Grund dafür. In der Aula konnten wir unsere Fähigkeiten auch nicht benutzen.“

Unzufrieden mit dieser Ahnungslosigkeit stieß die Parcatis ein Seufzen aus. Sie wollte so gerne verstehen, was vor neun Jahren mit ihr geschehen war, was ihr Leben komplizierter hatte werden lassen, als es ohnehin schon für das schüchterne Mädchen gewesen war. Stattdessen wurde alles noch viel verwirrender und sie wusste nicht, woher sie Klarheit bekommen sollte.

Bisher hatte es keine Person gegeben, bei der ihre Kopfstimme nicht reagierte. Oft war es subtil geschehen, da sie nur mit einfachen Menschen zu tun hatte, aber es war immer da. Nach diversen Vergleichen wurde deutlich, dass die Empfindungen bei den Zwillingen unterschiedlich ausgeprägt waren. Ebenso wie der Einfluss dieser fremden Macht. Nancy spürte zwar die aufgezwungene Abneigung gegenüber Parcatis und Menschen, ließ sich davon jedoch nicht beeinflussen.

Bei Nellie kam es stark auf ihre Verfassung an, wie sie Nancys Anwesenheit begegnete. Meist konnte sie die Feindseligkeit ignorieren, die mit den Jahren schwächer geworden ist. Doch wenn sie sich nicht gut gefühlt hatte, hatte ihre Stimme wesentlich heftiger reagiert und ihr damit zusätzliche Kopfschmerzen bereitet. Es war zu Anfang schwierig gewesen, diese entstandene Kluft zwischen den Zwillingsschwestern zu überwinden, aber Nancy war der einzige Halt, den sie hatte und somit war es ausgeschlossen, dass sie sich entzweien ließen.

Nellie lehnte sich an ihren Armen zurück und schloss die Augen, um sich an den Anfang zurückzuerinnern und eine Erklärung zu finden, die sie möglicherweise vergessen hatte.

Die Veränderung war so schleichend gekommen, dass beide sich nicht daran erinnern konnten, was sie ausgelöst haben könnte. Das Erste, was Nellie damals auffiel, waren die lauten Geräusche und Stimmen, die sie oftmals geweckt hatten. Da sie aber schon immer sensibler als ihre Mitmenschen auf ihre Umwelt reagierte, war es nichts, was sie verängstigte. Ihre Eltern versicherten ihr auch, dass mit ihren Ohren alles in Ordnung war, weswegen Nellie diesen Umstand schlicht akzeptiert hatte.

Dann begann sie öfter etwas zu spüren, was sie nicht zuordnen konnte. Unerklärliche Wut, Verzweiflung, Trauer, im nächsten Augenblick aber auch unbändige Freude und Hochgefühle, obwohl nichts geschehen war. Es dauerte einige Tage, bis sie verstanden hatte, dass es nicht ihre eigenen Emotionen waren, sondern die anderer Menschen, denen sie auf der Straße begegnet war. Damit begann es, dass sie sich von Tag zu Tag schutzloser fühlte. Sie wusste nicht, wie sie diese fremden Empfindungen von sich fernhalten konnte und wollte sich nur noch zu Hause verstecken.

Die ohnehin schon vorhandenen Ängste wuchsen und mit ihnen stellten sich furchterregende Halluzinationen ein. Erst unregelmäßig, dann täglich fanden ihre Eltern sie schreiend und in einem aufgelösten Zustand vor. Jeder Versuch, sie zu trösten, scheiterte und jeder Erklärungsversuch, was diese Panik verursachte, endete mit Besuchen bei Ärzten und Therapeuten. Je mehr sie mit ihren Qualen konfrontiert wurde, desto stärker wurden sie, bis sie auch für andere spürbar wurden.

Dies ging zwei Jahre lang, in denen sie nicht einmal bemerkt hatte, dass noch etwas anderes hinzugekommen war. Erst als sie eines Tages ein jähes Hassgefühl Nancy gegenüber verspürt hatte, war es ihr aufgefallen. Diesmal war es nicht von außerhalb, von einer anderen Person gekommen, sondern aus ihrem Inneren. Das erste Mal hatte sich die Stimme lautstark gemeldet und ihr die Hoffnung geschenkt, endlich zu verstehen, was mit ihr geschehen war.

Nellie erfuhr von den Andersartigen, die sich als Parcatis und Impater voneinander unterschieden und verfeindet waren. Warum dies so war und woher diese Stimme kam, konnte sie nicht verraten. Dennoch war es eine Erleichterung gewesen, zu wissen, dass sie nicht verrückt geworden war, wenngleich sie diese neue Existenz nicht als angenehmer bezeichnen würde.

Ein zärtliches Schnurren erfüllte Nellies Kopf und ihren Körper, was ihr ein kleines Schmunzeln entlockte. Mittlerweile wusste sie, dass die Stimme ihr nicht schaden, sondern sie beschützen wollte. In manchen schwachen Momenten redete sie ihr sogar gut zu, versuchte sie zu trösten und zum Handeln zu ermutigen. Wobei Zureden nicht der passende Begriff dafür war. Jegliche Unterhaltungen fanden subtil und unterbewusst statt. Die Stimme konnte Gefühle aussenden – und nicht bloß die Abneigung gegenüber der feindlichen Gesinnung – oder Bilder und Worte wie eine Erinnerung zuteilwerden lassen. Die einzigen wirklichen Laute, die im Kopf erklangen, waren nicht mehr als das: Laute. Und dennoch waren sie unmissverständlich klar in ihrer Äußerung.

Bloß in gewissen Momenten konnte die Stimme nicht zu der Parcatis durchkommen, als würde sie unterdrückt werden. Und das waren die Momente, in denen sich die Horrorvisionen oder die Hexe persönlich zeigten. Sie war etwa zur gleichen Zeit in Nellies Leben getreten wie die Andersartigkeit. Doch warum hatte Nancy nicht etwas Vergleichbares? Oder ging sie bloß mit bestimmten Arten von Fähigkeiten einher? War sie überhaupt ein Teil der Andersartigkeit oder etwas anderes? Obwohl eine richtige Konversation mit der Hexe möglich war, hüllte auch sie sich bei diesem Thema in Schweigen.

Nellie hoffte darauf, an diesem Ort zumindest ein paar Antworten zu bekommen und nachdem sie bereits nach kurzer Zeit an der Schule neue Rätsel entdeckt hatten, war sie zuversichtlich, auch die eine oder andere Lösung zu finden, wenn sie danach suchte. Und wenn es nur Erfahrungsberichte von anderen Andersartigen waren.

„Na komm, genug über unerklärliche Mysterien gegrübelt“, riss Nancy sie aus ihren Überlegungen und wechselte die Schlittschuhe gegen ihre Turnschuhe, „Es wird bald Zeit für das Abendessen.“

Schnell befreite Nellie ihre Füße grob vom Dreck und schlüpfte in ihre Ballerinas, um ihrer Schwester zu folgen.

Eines stand für sie fest: An die Morrison Memorial School gekommen zu sein, war die beste Entscheidung ihres Lebens. Seit ihrer Ankunft vor ein paar Tagen hatte sie keine Albträume oder Visionen mehr gehabt. Sie fühlte sich so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr und das lag nicht nur an der Ruhe, die sie hier finden konnte. Die Anziehung dieses Ortes musste einen Grund haben und womöglich war er der Schlüssel für eine bessere Zukunft.

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