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TRÄUMEREIEN

September / Oktober 1988

Müde schwanke ich auf meinem Sitzstock hin und her, kaum fähig, die Augen aufzuhalten. Was soll das eigentlich hier, geht es mir matt durch den Kopf? Verzweifelt versuche ich wachzubleiben, dabei schaukelt mein Körper auf dem wackeligen Dreibein unruhig hin und her. Die Füße halten mühsam die Balance.

Neben mir – drei Schritt entfernt – sitzt Jani, ein kleiner wildaussehender Ungar mit blitzenden Augen und einem Rauschebart, der sein Gesicht fast verdeckt.

Wir beide kennen uns erst seit einer halben Stunde. Jetzt sitzen wir wortlos nebeneinander an, unter einem Hochspannungsmast, dessen vielfache Drähte links und rechts wie glatte Girlanden über eine endlose Pläne bis zum nächsten Mast verlaufen und von dort wieder weiter bis zum Horizont. Die leicht gewellte Ebene scheint eine riesige abgeerntete Ackerfläche zu sein, deren Frucht für mich nicht mehr zu identifizieren ist. Das dichte Kusselgestrüpp am Fuße dieses stählernen Riesen gibt uns auf dieser weiten schutzlosen Pläne die einzige und spärliche Deckung.

Während ich müde und teilnahmslos über meinen Drilling streiche, der vertraut auf meinen Knien liegt, gehen mir die letzten 24 Stunden in träger Zeitlupe durch den Kopf. Genau vor vierundzwanzig Stunden sind wir aus unserem kleinen Dorf Richtung Osten gestartet, 1300 km. quer durch Deutschland via Österreich bis ins südliche Ungarn nach Komlo. Ein Non-Stopp-Trail mit meinen Freunden Rudi, Karl Heinz und Fivos, einem ebenso bewährten wie verwegenen Team aus Südniedersachsen.

Es ist unsere zweite Ungarnreise und basiert wieder auf den familiären Kontakten von Karl Heinz. Seine Frau Liesel hat ungarisches Blut in den Adern und ihr entfernter Cousin und dessen Familie wiederum haben jagdliche Kontakte zu den örtlichen Jägern von Batasczek.

Die wichtigste Kontaktperson ist Karol Batschi, der uns vor Ort betreut und weiterhelfen wird. Offiziell ist eine Enten – und Gänsejagd bei der ungarischen Staatsjagdgesellschaft beantragt und vorgesehen, schwarz hofften wir auf Rehwild, Rotwild und Sauen.

Nun sitze ich hier völlig übermüdet auf meinem Sitzstock nach einer Endlosfahrt über Würzburg, Passau, Wien, Heckschaschalom, Györ und Shekesscheherevar, Orte einer Odyssee und Namen wie aus einem Märchenbuch und frage mich:…warum gerade an diesem Mast? Wäre der nächste oder übernächste nicht genauso gut oder schlecht gewesen? Und überhaupt? Die vor uns liegende Waldkante ist keine 90 Schritt von uns entfernt und zieht sich nach rechts und links kilometerlang hin…also warum um Himmelswillen gerade hier?

Dort wo sich Acker und Wald berühren, fällt das Gelände steil hinunter in eine uneinsehbare Senke, die auf der gegenüber liegenden Seite ebenso steil wieder ansteigt und in eine riesige Weide übergeht, deren Radius mindestens 500 m. misst und ringsum von Gebüsch und Wald eingerahmt ist.

Über diese Senke hinweg, deren bürstendichter Bewuchs nur zu ahnen ist, bis auf die andere Seite, sind es Luftlinie mindestens 300 – 350 m.

Jetzt erinnere ich mich wieder an die Frage von Karl – dem Oberjäger – den ich noch vom letzten Jahr kenne, wer den sichersten Schuss auf weite Distanz hat. Ehe irgendjemand antworten konnte, zeigten Rudi und Fivos sofort auf mich und klärten damit Ansitzort und – verteilung ohne weitere Kommentare. Diese Schlaumeier und Strategen ahnten wohl, dass in einer knappen Stunde das Büchsenlicht ohnehin zu schwach wäre, um einen solchen Schuss zu wagen. Sei`s drum…

In meinem Magen machte sich erneut das schläfrige Völlegefühl einer voluminösen Mahlzeit breit. Unmittelbar nach unserer Ankunft in Komlo hatte Erika – die Frau von Rudolf – uns mit den leckersten Speisen aus ihrer ungarischen Küche verwöhnt, die unsere knurrenden Mägen dankbar annahmen. Als am Ende noch Wein, Kaffee und Kuchen dazu kamen, waren wir gestopft wie die Gänse.

Danach beherrschte mich nur ein Gedanke: ab in die Hütte und ein ausgiebiges Nickerchen, einfach nur umfallen und ratzen.

Entsetzt vernehme ich die Pläne von Rudolf, dass Karl und seine Mannen bereits in der Hütte auf uns warten und mit uns sofort auf Ansitz wollen. Heiliger Strohsack… was für eine Härteübung!

Und tatsächlich, zu dritt stehen sie vor der Jagdhütte mitten im Weinberg bereit und strahlen uns erwartungsvoll an: ein Grüppchen bärtiger Wilddiebe, deren Verwegenheit und ungarisches Blut ihnen geradezu aus den Augen blitzt.

Karol Batschi, der Chef der Truppe, Joseph der stellvertretende Direktor der örtlichen Verkehrsbetriebe von Komlo und Jani, der Bärtige, mehrfach ausgezeichneter Funktionär der Arbeit.

Es gab keine langen Vorreden, die deutschen Jäger wurden auf die ungarischen Führer verteilt: Karl Heinz und Fivos zusammen mit Karl, Rudi mit Joseph und der Distanzschütze Udo mit Jani.

Trotz wichtiger Gesten und heimlichen Zeichen scheint mir alles mehr dem Zufall entsprungen als einer fein durchdachten Logistik oder Strategie. Mir war`s am Ende recht, je uriger umso besser. Wenn doch nur meine Müdigkeit nicht wäre…doch irgendwann wird auch dieser Tag einmal zu Ende gehen und in einem tiefen Erschöpfungsschlaf enden.

Langsam kriecht der Zeiger meiner Uhr auf 1/2 6 Uhr, in einer knappen Stunde ist es düster, solange halte ich es noch aus. Noch einmal lasse ich den müden Blick über die weite Landschaft aus Weiden und Wäldern streifen und frage mich zum letzten Mal: „Warum sitzt du hier an diesem Masten, 1300 km. von der Heimat entfernt und mehr als 30 Stunden ohne Schlaf?

„ERWACHEN…oder…DER KUSS DIANAS“

War da nicht ein Knacken? Leise aber unüberhörbar. Nein , das kann gar nicht sein, meine übermüdeten Sinne spielen mir einen Streich und gaukeln mir Wachträume vor. Aber auch Jani sitzt plötzlich angespannter da, hat er auch etwas vernommen? Jetzt wieder, nun aber ganz deutlich, das Knacken eines trockenen Zweiges, irgendwo da vorn in der unergründlich verwucherten Senke.

Jani schaut zu mir rüber, sein Blick und ein leichtes Nicken bestätigen meine Wahrnehmung, da ist was. Langsam nehmen wir unsere Gläser hoch und leuchten die Waldkante ab.

Was könnte das sein, Sauen, Rotwild, Rehwild? Alles war freigegeben, die einzige Einschränkung beim Hirsch, da sollte es nur ein kleiner sein. Für mich eine Vorgabe, die ich aufgrund meiner mangelnden Rotwilderfahrung ohnehin kaum entscheiden konnte. Groß oder klein, meine Kenntnis beschränkte sich ausschließlich auf Fotoserien in Jagdzeitschriften. In freier Wildbahn hatte ich noch nie ein Stück Rotwild gesehen. Und das Ansprechen im abnehmenden Büchsenlicht hätte mich komplett überfordert. Was war ich doch für ein Greenhorn.

Einige Minuten vergingen, genug um die aufkommende Spannung zu stabilisieren, doch nichts tat sich. Die Uhr stand kurz vor sechs, da hörten wir es wieder, jetzt direkt vor uns in dem steil abfallenden Eschen – und Dornengestrüpp. Von Sauen hatte ich derlei Anwechselgeräusche nie gehört, für Rehwild schienen sie mir zu grob. In einer eigenartig langsamen aber gleichmäßigen Abfolge meinte ich das Knacken trockener Äste zu hören, deren Deutlichkeit immer größer wurde. Der Adrenalinspiegel stieg sekündlich.

Jani zeigte mit seiner rechten Hand auf eine Stelle, an der er vermutete, dass da gleich etwas rauskäme. Mich erfasste eine innere Hitze, mein Herz klopfte bis zum Hals und meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Die Gedanken überschlugen sich. Sollten wir tatsächlich an dem richtigen Punkt sitzen, an dem richtigen Mast und der richtigen Stelle dieser zwei Kilometer langen Waldkante, nur knapp 90 Schritt von ihr entfernt?

Und sollte dann noch vor Einbruch der Dunkelheit zum richtigen Zeitpunkt auch noch Wild erscheinen? Ich hatte ja in meinem kurzen Jägerleben schon häufig Dusel gehabt, aber solcher Zufall wäre schon sehr ungewöhnlich, fast so wie die Nadel im Heuhaufen.

Längst hatte ich den Drilling schussbereit in der Hand, egal was da kommen würde, ich wollte bereit sein.

Das Knacken war jetzt zum Greifen nah, und ich bildete mir ein, in dem vorderen Buschwerk schon eine leichte Bewegung gesehen zu haben, da passierte es: ein Alttier zog langsam ins Freie, dicht gefolgt von einem Kalb. Beides war frei und das Kalb bereits im Fadenkreuz. Denn eins hatten uns die Jäger in der Hütte eingebläut: Beute steht an oberster Stelle!

Und da erschien hinter den Beiden der Hirsch, wie von Geisterhand auf die Pläne gezaubert. Mir stockte der Atem. Zum ersten Mal sah ich life ein solches Bild. Sein Geweih blitzte wie eine Krone auf seinem Haupt. Die Enden und ihre Anordnung, sein Alter oder die Güteklasse, all das war mir neu und fremd. Allein der Anblick entschädigte für stundenlange Müdigkeit und Anreise und lähmte jede Bewegung. Ich saß da mit klopfendem Herzen und benebelten Sinnen, unfähig zu einer kontrollierten Reaktion.

Erst der leise Stupser von Jani brachte mich zurück in die Wirklichkeit, und unsere Blickverbindung, verbunden mit einem kurzen Nicken signalisierte: „Ja, der passt!“

All das spielte sich in nur wenigen Sekunden ab, mir kam es wie eine Ewigkeit vor.

Langsam schwenkte die Mündung des Drillings vom Kalb hinüber zum Hirsch, der mit erhobenem Haupt vor der dunklen Waldkante trotz der einsetzenden Dämmerung noch gut zu erkennen war. Alle drei Stücke hatten uns noch nicht mitgekriegt und suchten nach der saftigsten Äsung, der Wind stand günstig.

Doch es war das vorsichtige Alttier, das als erstes zu uns rüber äugte. Jetzt galt höchste Alarmstufe und ja keine falsche Bewegung. Der Hirsch stand breit und die weißen Enden seines Geweihs machten einen gewaltigen Eindruck auf mich und flößten mir eine enorme Ehrfurcht ein.

Das Bild schien mich zu hypnotisieren und machte mich fast unfähig, die zwei Millimeter am Abzug zu vollziehen. Das Absehen des Glases indes Ruhte genau auf dem Punkt als der Schuss brach. Der Knall, der Mündungsblitz, das laute Brechen der flüchtenden Stücke im trockenen Unterholz, der gutturale Erlösungsschrei von Jani, mein Herzschlag im Ohr vermischten sich zu einer jagdlichen Symphonie elementarer Stärke und Ungläubigkeit.

Während ich noch wie versteinert auf meinem Dreibein hockte und versuchte meine Gedanken zu sortieren, war Jani längst aufgesprungen, hinüber zur Waldkante gesprintet und im Unterholz des Steilhanges verschwunden. Das Flackern seiner Taschenlampe wurde immer schwächer und erlosch am Ende ganz.

Endlich hatte ich mein Bewusstsein wieder und folgte Jani bis an den Rand. Und entgegen seiner Praxis suchte ich zunächst erst einmal den Anschuss, um sicher zu sein, überhaupt getroffen zu haben. Doch bei der Entfernung sollte ein Fehlschuss eher unwahrscheinlich sein. Und richtig, der Anschuss war nicht zu übersehen: deutlicher Lungenschweiß auf den grünen Farnwedeln markierten den sicheren Treffer. Die Schweißfährte führte steil nach unten, dorthin wo ich auch Jani verschwinden sah.

Er kam mir bereits wieder entgegen und deutete mit aufgeregten Gesten und Handzeichen an, dass er die anderen um Hilfe holen wolle und verschwand ohne weitere Kommentare und ließ mich allein. Das war mir nur recht. So hatte ich Gelegenheit mich etwas zu sammeln und zu überlegen, was als nächstes zu tun sein.

Schusszeichen und die deutliche Schweißfährte konnten den Hirsch nicht mehr allzu weit kommen lassen. Also fasste ich mir ein Herz und wagte es allein, der Spur zu folgen. Die starke Taschenlampe half mir dabei, den steilen Hang und das dichte Dornengestrüpp mit dem armdicken Trockenholz zu bewältigen. Kurz vor Erreichen der Talsohle sah ich ihn vor mir…meinen ersten Hirsch! Er hatte sich vor seinem letzten Schnaufer mit seinem Geweih an einem Eschenstamm verhakt und war Gott Dank nicht noch weiter abgerutscht. Es war ein gerader Zehnerhirsch, mir kam er vor wie eine Goldmedaillentrophäe, so stolz war mein Empfinden.

Die kurzen Augenblicke der einsamen Besinnung an dem erlegten Stück taten mir gut, sie fokussierten meine Gefühle auf das Wesentliche: die Jagd mit Freunden.

Da hörte ich sie auch schon oben am Hang aufgeregt reden und rufen. Mit der Taschenlampe gab ich ihnen ein Signal wo ich steckte, und dann stolperten sie auch herunter und umringten mich mit herzlichem Waidmannsheil, Schulterklopfen und Glückwünschen für das erfolgreiche Ende eines „langen Tages Reise in die Nacht“.

Die Bergung des Hirsches mit seinen rund 150 kg. gestaltete sich als außerordentlich anstrengend und Schweißtreibend. Auf dem fast senkrechten Hang fanden wir kaum Halt. Mit sechs Mann, Seilen und vereinten Kräften hatten wir Mühe, die drei Zentner schwere Beute die 150 m. bis zur Kante hochzuziehen. Immer wieder rutschte der schwere Wildkörper auf den glatten Wechseln ein gerade geschafftes Stück zurück und verdoppelte die Anstrengungen. Alle waren in Schweiß gebadet und die Hemden klebten nass am Körper.

Endlich hatten wir es gemeinsam geschafft und der Hirsch lag im Subaru und konnte zur Hütte transportiert werden.

Was dort geschah, lässt sich nur mit der eingespielten Praxis verschworener Wilddiebe und ihrem Sinn für elementare Überlebensstrategien erklären…so schnell, geschickt und heimlich habe ich noch nie ein so mächtiges Tier von der Wildbahn in einem Kühlkeller verschwinden sehen! Aufgebrochen, aus der Decke geschlagen und zerwirkt und sauber portioniert verschwand das Stück im schwarzen Untergrund ungarischer Beutegreifer und wurde allenfalls mit einem verschmitzten Lächeln quittiert .So geht Jagd im sozialistischem Osten.

Dafür war das abschließendes Horrido und Zechgelage umso intensiver und ließ uns keine Chance, unsere angeschlagene Kondition zu pflegen. Aber bei so viel ungarischer Fröhlichkeit und ansteckender Gastfreundschaft hatten wir keine andere Wahl als mitzumachen.


EIN UNGARISCHES HUSARENSTÜCK

In dieser Jagdhütte von Karlo Batschi verbrachten wir noch schöne Tage und feierten noch manche Sause. Das selbst zubereitete Goulasch, auch Pörkelt genannt, über offenem Feuer im Kessel am Dreibein zubereitet, die original Fischsuppe vom Meisterangler gewürzt, der selbst gekelterte Wein aus dem begehbaren in Löß gehauenen Keller gleich nebenan waren nur einige Höhepunkte ihrer Herzlichkeit und Freude.

Sie waren immer bemüht, uns jagdlichen Erfolg zu bescheren und uns alle Wünsche von den Augen abzulesen. Auch wenn die weitere Strecke übersichtlich blieb, ihr offenes Haus und unser Wohlfühlambiente, die Urigkeit der Jagd und ihre Ehrlichkeit bleiben die Eindrücke, die die vier Freunde aus Ungarn mitgenommen haben und sie schon ein Jahr später wiederholten… aber das ist eine andere Geschichte.


5 MAGYAREN UND EIN HIRSCH

Jagd mit Freunden

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