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ОглавлениеGALLOWAY
Dezember 1989
Es gibt Menschen in einem kleinen Dorf, deren Charisma so vielschichtig ist, dass man um eine Freundschaft mit ihnen gar nicht herum kommt. Besonders dann, wenn die persönlichen Schwerpunkte gemeinsame Berührungspunkte haben. So erging es mir mit Dieter, einem dörflichen Original, dessen Vita man durchaus als speziell beschreiben darf, schillernd, exzentrisch, bodenständig und für jede Überraschung gut.
Er wurde allgemein „Lappi“ genannt, war der Dachdecker im Dorf, hätte aber auch genauso gut Landwirt sein können und hatte mit seiner Vorliebe für Pferde die Neigung zum „Lonesome Rider“.
Unsere Gemeinsamkeiten bestanden nicht nur in jagdlichen Interessen, auch alles was mit Natur und rustikalen Einsätzen zu tun hatte, vereinte uns machte uns neugierig. Dazu gehörte auch die folgende Geschichte.
Natürlich lagen die Vorläufer im jagdlichen Bereich. Von Zeit zu Zeit versorgten wir uns gegenseitig mit Nahrungsmitteln. Dabei tauschten wir Wildbret gegen landwirtschaftliche Fleischprodukte, die im Verhältnis 1: 1 ihren Erleger bzw. Erzeuger wechselten. Die Produktpalette bei Dieter lag bei Schafen, Rindern und Hühnern, ich konnte mit Schwarz – und Rehwild am Stück seinen Bedarf decken.
So sollte diesmal der Tausch Lamm gegen Frischling unsere Speisekarte erweitern. Nun lässt sich aber ein Frischling nicht mal so schnell und nebenbei auf die Schwarte legen wie ein Schaf aus der Herde auf Abruf geschlachtet werden kann, zumal wenn die Gewichtseinheiten einigermaßen passen sollten. Diese Geduld brachte mein Freund nicht unbedingt auf, und das Verständnis für die jagdlichen Rahmenbedingungen schon mal gar nicht. Seine Ungeduld mündete schließlich in versteckten Sticheleien und der provokanten Frage, ob ich keine Munition hätte? Er nervte! Was zugegebenermaßen meinen Ehrgeiz noch anheizte.
Als er dann ein weiteres Mal süffisant nachhakte, passte die Gelegenheit punktgenau. Am gleichen Abend lag der Frischling und ich hatte mir schon eine angemessene Präsentation der Beute ausgedacht. Auf seinem Bauhof stand ein Materialaufzug für Dachziegel und schweres Gerät. Da hängte ich den Kujel dran und den Beutel mit den Innereien dekorativ daneben, so dass am nächsten Morgen für ihn die Überraschung perfekt war. Den Zettel, „Wo bleibt das Lamm“, konnte ich mir nicht verkneifen.
Die Aufarbeitung dieses Scherzes kostete uns mehrere Abende und war der Anfang einer neuen Geschichte, die wir dabei ausheckten.
Dieter hatte sich neben seinem ohnehin schon bunten Viehbestand noch drei schottische Hochlandrinder angeschafft, deren rotes, zotteliges Fell und ihr gedrungenes Gebäude mit den imposanten Hörnern so gar nicht in das bäuerliche Refugium einer südniedersächsischen Landschaft passten. Sie fielen auf und waren sein ganzer Stolz.
Dass er sich kein Kopfzerbrechen über die möglichen Schwierigkeiten im Umgang und mit der Haltung der Galloways machte passte ebenso zu Dieter wie sein Anliegen, dass er mir an einem dieser Abende unterbreitete.
Die Rinder hatten ihm in der Tat schon mächtiges Kopfzerbrechen gemacht. Sie waren aus ihren Gattern immer wieder ausgebüchst und tobten unkontrolliert in der Gemarkung herum. Die Bauern und benachbarten Waldbesitzer beklagten sich und schimpften Zeter und Mordio über die streuenden Urviecher, deren Erscheinungsbild nicht zum braven schwarzbunten norddeutschen Rind passte. Außerdem war ja auch eine gewisse Gefahr damit verbunden, abgesehen von dem Aufwand, die Viecher immer wieder einzufangen.
Der arme Kerl war ziemlich genervt und dünnhäutig geworden. Nur deswegen verkniff ich mir den Streich, ihn mit verstellter plattdeutscher Stimme anzurufen und zu fragen, was denn mit dem roten Ochsen passieren soll, der meine Gemüsegarten auf den Kopf stellt? Nein, das konnte ich ihm beim besten Willen nicht antun.
Er hatte beschlossen, nun auch das letzte Stück abzuschaffen und wieder Ruhe in den Bestand zu bringen. Leider gab es da ein Problem: es war nicht nur sein letzter Bulle, es war auch mit Abstand der widerspenstigste und scheuste seiner Viecher. Der ließ keinen außer Dieter an sich ran.
Bei der letzten Einfangaktion, die das ganze Dorf in Aufruhr versetzt hatte, stand es kurz vor der Entscheidung, das Tier mit einem Betäubungsgewehr zur Ruhe zu bringen. Nur Glück und Geschick konnten diese Alternative verhindern. Jetzt stand der Bulle wieder in seinem „sicheren“ Gatter auf einer Weide des Nachbardorfes.
Der Handlungsbedarf war groß und Dieters Not auch. Darum unser vertrautes Gespräch und das noch überraschendere Ergebnis: ich sollte den Bullen zur Strecke bringen! Na, das ist doch mal ein Ding!
Ich willigte ein, denn ich spürte den Druck meines Freundes, ich musste ihm helfen. Doch so einfach wie wir uns das vorstellten, konnte es nicht laufen, es waren eine Menge Formalitäten, Genehmigungen und Vorbereitungen zu treffen, ehe das Ganze umgesetzt werden konnte. Die Weide lag in einem fremden Revier, die Zustimmung für diesen „Jagdakt“ musste vorliegen, usw. Der nachbarliche Jagdpächter war sehr kooperativ und erledigte alles.
Zwischen den Jahren, an einem kalten, frostigen Dezembertag hatte Dieter alles organisiert und vorbereitet: der Jagdpächter und der Jagdgenossenschaftsvorsitzende waren informiert und als Zuschauer eingeladen. Hermann, der „hessische“ Schlachter und mein vertrauter Wildzerwirker und Revierhelfer hatte sein Messer geschärft und stand mir angriffslustig zur Seite. Wilhelm, Freund, Landwirt und Nachbar hatte seinen Schlepper vorgefahren, um das erlegte Stück auf den bereitgestellten Anhänger von Dieter zu heben. Der selbst und ein Kumpel hatten für „Hansi“ in einem Futtereimer den „letzten Bissen“ vorbereitet. Es sollte seine Henkersmahlzeit sein.
Die große Zahl der Zuschauer und Beteiligten erhöhte den Erwartungsdruck auf mich enorm. Natürlich hatte ich mich lange gedanklich mit dem möglichen Ablauf und den speziellen Bedingungen vertraut gemacht, dies war aber eine absolute Ausnahmesituation.
Allein die Sicherheitsfragen bereiteten mir Sorgen, es durfte kein Fehler geschehen! Der Drilling war mit Kugel und Brennecke geladen, eine Ersatzpatrone hatte ich in der Tasche. Dieter wollte einen „Küchenschuß“, Hermann empfahl als Ziel die Stirnplatte, seine bewährte Praxis vom Schlachten mit dem Bolzenschussgerät. Aber Dieter legte Wert auf die „Trophäe“ mit dem geschwungenen Gehörn, also musste diese Fläche heil bleiben. Eine komplizierte Aufgabe.
Hauptsache der Bulle ließ sich von den vielen Leuten nicht nervös machen. Dieter hatte ohnehin Mühe, ihn von der unteren Weide an den oberen Zaun zu locken, um die Schussentfernung auf eine sichere Distanz zu reduzieren. Ich hatte meinem Freund eingebläut, die Futterraufe auf einen ganz bestimmten Platz zu stellen, um den „Roten“ damit in einer optimalen Position zu haben. Als Auflage hatte ich mir einen passenden Weidepfosten ausgesucht, wenigsten noch eine Andeutung jagdlicher Bedingungen.
Ansonsten hatte die Situation etwas von einer Exekution an sich und mir war irgendwie gar nicht wohl dabei. Doch jetzt gab`s kein Zurück mehr, und ich wollte das Ganze schnell hinter mich bringen; jedes Zögern hätte die Sache nur verschlimmert.
Im Anschlag wurde ich dann ganz ruhig und die vertrauten Abläufe halfen mir in den letzten Sekunden. Der schwarze Punkt im Fadenkreuz ruhte auf dem 5 Markstück großen Ziel, da war der Schuss raus.
Wie vom Donner getroffen sackte das mächtige Tier in sich zusammen, versuchte aber sofort wieder auf die Läufe zu kommen. Der wuchtige Körper überschlug sich dabei mehrmals und über Kopf rollte der Bulle den abschüssigen Wiesenhang hinunter, hart auf den Gatterzaun zu. Mir stockte der Atem, längst hatte ich nachgeladen, da blieb der Koloss endlich liegen, keine fünf Meter vor dem Zaun, hinter dem die versteinerten Zuschauer das Ganze verfolgten.
In einer für mich unfassbaren Schnelligkeit war Hermann bei dem Galloway, der nicht mehr zuckte und erledigte den professionellen Schnitt der Halsschlagader. Das ist Schlachterpraxis und erfolgt ebenso selbstverständlich wie das ehrliche Waidmannsheil des beeindruckten Reviernachbarn.
Als sich die allgemeine Aufregung gelegt hatte und die Pulle Schluck zum ersten Mal gekreist war, nahm mich Hermann zur Seite und fragte mich in seinem typisch hessisch- niedersächsischen Plattdeutsch: „Wo hetteste ehn denn hinneschuuten?“ Dabei suchte er mit seinen flinken Fingern unter den roten Zotteln des Hauptes nach dem Einschuss. Ich hatte ihn längst entdeckt, verriet es ihm aber nicht, er saß präzise dort, wo er hinsollte. „Du wirst ihn schon noch finden“. Damit begnügte er sich schmunzelnd.
Kein Wunder dass das schottische Hochlandrind auf seinen letzten Metern im niedersächsischen Leinetal halbblind die Orientierung verlor.
Das abendliche Schlachtevesper der Hauptbeteiligten war eine Mischung aus jagdlichem Horrido, ländlicher Rustikalität, bäuerlichen Traditionen und der grenzenlosen Dankbarkeit des Initiators, die er mit seiner herzlichen Gastfreundschaft bis in die frühen Morgenstunde unter Beweis stellte. Bei mir war die Erleichterung über den guten Ausgang sicherlich nicht zu übersehen.
GATTERWILD