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SOLIDARGEMEINSCHAFT

Oktober 1991

Eine nach Österreich geplante Jagdreise auf Vermittlung eines Bundeswehr Jagdbekannten muss kurzfristig wegen Gamsblindheit in der dortigen Region abgesagt werden. Die vier Jagdfreunde Rudi, Klaus, Karl Heinz und ich sind tief betrübt, hatte sich die Vorfreude auf dieses Unternehmen doch schon über Monate aufgebaut. Umso größer die Enttäuschung über diese Nachricht und die Sorge, kurzfristig eine Ersatzlösung zu finden, denn es war ja alles vorbereitet, der Urlaub eingereicht, die Ehefrauen hatten ihr Einverständnis gegeben und die behördlichen Formalitäten waren erledigt. Was nun?

Eine vielversprechende und rustikale Kleinanzeige in WILD und HUND machte uns aufmerksam und ließ uns nach kurzer Beratung zu dem Entschluss kommen, einen Anruf zu wagen. Die freundliche Stimme und die sofortige Zusage freier Plätze in einer urigen Jagdhütte überzeugte uns zu einer sofortigen Buchung…

An einem Dienstag gebucht, am Mittwoch gefahren und am gleichen Abend am Ziel: Der „JAGDHOF SCHNOPFENDUDEL“ in der niederösterreichischen Bergwelt des idyllischen Ybbs Tal. Das war in der Tat eine schnelle und mutige Entscheidung, deren Tragweite und Folgen wir in keiner Weise abschätzen konnten…wir vier unerfahrenen kleinen Provinzjäger, deren Jagdmaßstäbe eher an regionalem Niederwild und vertrauten Sauenwechseln gemessen werden, als an devisenträchtiger Trophäenjagd. Der einzige und gemeinsame Wunsch und Hintergrund war die Neugier auf eine Berggams und der Ehrgeiz, ein solches Wild einmal zu erleben oder vielleicht auch zu erlegen. Da hatte jeder auch so seine ganz persönlichen Preisgrenzen.

Nun, weder die noch überraschend freien Jagdplätze, noch der überaus herzliche Empfang und Begrüßungsenzian ließen Zweifel an der richtigen Entscheidung aufkommen, dieses Wagnis eingegangen zu sein.

Auch die übersichtliche Gästeschar, deren gelangweilter Habitus unsere Ankunft mit eher beiläufigen Blicken quittierte, ließ keinerlei Argwohn aufkommen. Vielleicht hätte das Geschlechterverhältnis der korrekt in Lodengrün gewandeten Damen und Herren und die muntere Kindermeute eher auf einen Familienurlaub hingedeutet, als auf den harten Jagdeinsatz in Berg und Fels? Wie dem auch sei, die komfortable Eleganz des Foyers und der Gasträume waren ohnehin nicht unsere Welt, wir hatten ja eine rustikale Jagdhütte mit Eigenversorgung gebucht. Und auch die vorsichtige Nachfrage am Empfangstresen, ob es denn dabei bliebe, bejahten wir mit energischem Kopfnicken.

So wurden wir vom Hotelchef Friedrich v. Schnopfendudel, der mich mit seinem auffällig hängenden rechten Augenlied stark an Karl Dall erinnerte, weitergeleitet an seine Bediensteten, die uns zur Jagdhütte führen sollten. Aber nicht bevor wir uns an dem Tresen mit einer Maß Bier den Reisedurst aus der Kehle gespült hatten.

Die Jagdhütte entpuppte sich dann aber überraschend als ein komfortables Jagdhaus, dessen Größe und Einrichtung uns spontan sprachlos machten. Mit vier bis fünf Schlafräumen und insgesamt zwölf Betten, einem noblen Kaminzimmer, perfekter Küche, zwei Bädern und einer jagdlich trophäenbetonten Dekoration glich das Ganze einer rustikal, gediegenen Nobelsuite. Die einsame Abseitslage auf einer offenen Talaue mit ansteigenden Fichtenwäldern am Rand und einer imposanten Bergkulisse im Hintergrund gaben dem Anwesen allerdings ein romantisches Panorama.

Da die Unterkunft in der Jagdpauschale inbegriffen war, sollten uns Luxus und Bequemlichkeit nur Recht sein…damit hatten wir schon mal nichts falsch gemacht. Dermaßen beflügelt und vom Hunger getrieben gab`s erst einmal eine deftige Brotzeit und ein zünftiges Begrüßungsbier. Während Klaus und Karl Heinz sich um den Kamin kümmerten und von dem reichlich vorhandenen Brennholz Gebrauch machten, sorgten Rudi und ich für Schinken, Wurst und Käse, Bauernbrot und Gurken, Leberkäse und Radis und den Nachschub an flüssiger Nahrung. Da machte uns keiner was vor, denn ein sauberer Begrüßungsabend ist die beste Grundlage für eine erfolgreiche Jagd und eine harmonische Zeit zu viert.

Die Folgen bekam ich am nächsten Morgen als einziger zu spüren, denn nur ich wurde um halb sechs zur ersten Pirschfahrt abgeholt. Pünktlich stand Toni mit seinem grünen Suzuki vor der Hütte. Die anderen wollten später erst ihre Gewehre einschießen, während ich mir der Treffsicherheit meines Drillings sicher war.

Mir war eine solch professionelle Jagdführung und – begleitung fremd und sie ließ meine volle Konzentration auf die weiteren Abläufe richten. Nach einer kurzen, einsilbigen Begrüßung ging`s auf einem Wirtschaftsweg stetig hinauf in den Bergwald, Serpentine um Serpentine. Nur der feine Schotter knirschte leise unter den Rädern. Aufmerksam beobachtete Toni die Hänge links und rechts des Weges. Ab und zu hielt er an und leuchtete die baumfreien Steilhänge ab – nichts zu sehen.

Nach zwanzig Minuten sind wir am Ziel, geschlagene Bäume versperren den Weg. Leise steigen wir aus, nehmen Rucksäcke, Spektiv und Gläser, ich meine Waffe und steigen eine Leiter hinauf, die schräg an eine steile Waldböschung gelegt ist und den Einstieg in einen Pirschweg erschließt, der sich im Zick-Zack den Hang hinaufwindet. Nach knapp 10 Minuten sind wir an einem Unterstand, der am Fuße einer offenen Lichtung steht. die sich etwa 150 m. den Berg hinaufzieht.

Wir machen es uns auf der Holzbank bequem, bisher sind keine drei Worte gewechselt worden. Toni hängt sich die Lodenkotze um die schmalen Schultern, ich mache mich mit der Umgebung vertraut. Während mein Begleiter aus der rechten Luke schaut, sehe ich, wie keine 60 Schritt voraus zwei Gamsen den Hang von links nach rechts überfallen und mittendrauf verhoffen. Vorsichtig stoße ich Toni an: eine Gais mit ihrem Kitz. Die Gais pfeift und sichert zu uns rüber und ist im nächsten Augenblick mit ihrem Nachwuchs in den Fichten verschwunden.

Das war`s. Nach zwei Stunden vergeblichen Wartens machen wir uns etwas steifbeinig auf den Rückweg und erleben von oben wunderschöne Ausblicke in das Tal, das an einem sonnigen Herbstmorgen langsam zum Leben erwacht.

Die Freunde sind gerade zurück und der Tag steht zu unserer freien Verfügung, die wir neugierig und intensiv ausnutzen. Der erste Weg führt uns zunächst auf das weitläufig angelegte Gelände des Jagdhofes, das wir am Vorabend ja nur per Auto durchfahren haben. Parkähnliche Anlagen und geharkte Kieswege verbinden noble Unterkünfte mit dem zentralen Hotelkomplex und führen zu den etwas abseits gelegenen Wirtschaftsgebäuden, die für den Jagdgast frei zugänglich und hoch interessant sind. Vor allem die Wildkammer und die Edelstahl blinkenden Zerwirktische, die aufgeräumte Scheune mit allen für eine erfolgreiche Hochgebirgsjagd erforderlichen Utensilien und Hilfsmittel und notwendigen Ausrüstungen, die Vorräte für die winterlichen Futterraufen, alles wirkt hochprofessionell und macht auf uns einen gewaltigen Eindruck.

Sprachlos allerdings machte uns der Blick in den Präparationsraum, in dem die Trophäen von Muffelwidder, Steinbock, Gams und Rothirschen nur so um die Wette prahlten. Eine derart beindruckende Konzentration von medaillenträchtigen Geweihen, Krucken und Gehörnen hatten wir noch nicht einmal in Jagdzeitschriften gesehen. Uns wurde ganz schwindelig.

Derart beeindruckt und auch ziemlich verunsichert mussten wir uns im Städtchen bei einem Frühschoppen erst einmal besinnen. Doch kaum hatten wir das halbwegs geschafft und unsere Erkundungsrundfahrt durch die reizvolle nähere und weitere Umgebung fortgesetzt, da wurden wir von einer weiteren Entdeckung fasziniert: auf einem abseits gelegenen bäuerlichen Anwesen, inmitten weitläufiger Wiesen und Weiden mit Busch – und Bauminseln durchsetzten Flächen, zwischen Talgrund und Bergwald, ästen friedlich und völlig vertraut knapp zwei Dutzend Rothirsche, deren Kronen eine die andere zu übertreffen versuchte. Wir waren platt! Das riesige Gelände war sauber und diskret eingegattert und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es sich hier nicht nur um einen Zoo handelte. Wortlos blickten wir uns an.

Ein Mittagsnickerchen in der warmen Oktobersonne brachte uns wieder ins Gleichgewicht und stärkte uns für den Abendansitz, den wir mit gemischten Gefühlen antraten. Meine drei Freunde wurden auf dem Hof vom Oberjäger eingeteilt, während Toni mich an der „Hütte“ abholte.

Er machte ein bedenkliches Gesicht wegen des aufziehenden Nebels, schnürte noch kurz seine Bergschuhe, die er mit den schwarzen Lackschuhen tauschte, die er kurz zuvor noch bei einem Begräbnis getragen hatte…

Nach einer kurzen Anfahrt stiegen wir dann eine halbe Stunde steil bergan. Mit kleinen Schritten geht`s etwa 300 Höhenmeter den Wald hinauf. Ich bin zu dick angezogen und nach kurzer Zeit pitschnass. Endlich sind wir oben und erreichen einen urigen Platz auf einer kleinen Kuppe, geschützt hinter dicken, umgestürzten Wetterfichten. Auf zwei Baumstümpfen findet jeder seinen Sitz. Vor uns ein offener Gegenhang, die eine Hälfte mit vereinzelten Jungfichten, die andere ein steiniger Windbruch.

Nichts steht draußen, und auch bei aufmerksamster Beobachtung können wir beide nichts entdecken. Nebelschwaden wabern über das Gelände und hüllen es von Zeit zu Zeit ganz ein, geben es dann wieder überraschend frei. Von der weiteren Umgebung ist nichts zu sehen. Wir brechen enttäuscht ab und machen uns auf den Rückweg, um in der Hütte noch ein Bierchen zu trinken, wenigstens ein kleiner Trost.

Von meinen drei Freunden hatte nur Karl Heinz erfreulichen Anblick, wie er uns beim Abendbrot auf seine trockene, ehrliche Art berichtete. Von einer bequemen Kanzel aus hatte er schon nach kurzer Zeit den Hang voller Gamsen. Unerfahren und voller Zweifel musste er sich auf die Hinweise seines Führers verlassen. Der wiederum zeigte ihm ein passendes Stück nach dem anderen , sodass unser armer „Kalli- Heinzi“ – wie wir ihn auch liebevoll nannten – ganz verwirrt wurde und den Lauf seiner Büchse hin und her schwenkte. Doch jedesmal wenn der Loisl ihm eine weitere Gams zeigte und einen Preis dazu, schüttelte unser Freund mit dem Kopf und verweigerte am Ende gar den Schuss. Ihm sei es gewesen, als hätten die Tiere Preisschilder um den Träger gehabt und er als Käufer würde gezwungen, sich entscheiden zu müssen. Das passte ihm nicht. Wir gaben ihm Recht.

Während eines weiteren beutelosen Morgenansitzes hatten wir aber einen Schuss gehört und voller Erwartung gehofft, es sei einer von uns gewesen. Nur Klaus hätte es sein können, denn auch er hatte endlich guten Anblick gehabt. Gleichwohl lag alles was zwischen den Latschenkiefern und dem Kahlgestein äste eine Nummer größer als die vorher vereinbarte Kategorie, auch hier wurde das Bild der Preisschilder wieder bemüht. So ließ auch er den Finger grade…Abmachung ist Abmachung.

Nach einem kurzen Frühstück wurden wir dafür Zeugen einer perfekten Inszenierung. Die Aufklärung des Schusses lockte uns auf den Jagdhof. Dort hatte sich schon eine ansehnliche Menge neugieriger Zuschauer und beteiligter Akteure versammelt. Im Mittelpunkt ein strahlender verschwitzter Grünrock, auf seine schwere Büchse gestützt, hinter einem starken Steinbock, umringt von den Kameras der Familie und den flinken Händen der organisierten Jagdhelfer. Alles wurde Publicity wirksam in Szene gesetzt und unter den neidischen Blicken der bisher leer ausgegangenen Jagdgäste zelebriert. Solch ein Waidmannsheil möchte man auch haben. Wann bin ich dran und mit welchem Führer, waren die geheimen Gedanken der Wartenden…

Schnell noch ein Foto, dann wandert das Stück in die Wildkammer und geht anschließend in die Präparation. Die Fragen der gelangweilten Ehefrauen und aufgeregten Kinder unüberhörbar: „Papa, schießt du auch so einen?“ und die unmissverständliche Antwort: „Wenn mir so einer kommt, drück ich ab, egal was er kostet!“

Die Verse „reim dich oder ich schlag dich“ in dem öffentlich ausgelegten Gästebuch geben Auskunft über die Gemütsverfassung der hartgesottenen Nimrode, treffen aber auch mal ganz einfach den Kern: „Schön war`s, aber auch teuer!“

Wir waren bei alledem nur die stillen Beobachter im Hintergrund und hielten uns mit Kommentaren jeder Art wohlweislich zurück. Dennoch übersahen wir nicht die vorwurfsvollen Blicke und geheimnisvollen Gesten unserer Jagdführer im Austausch mit seiner Eminenz F.v.Schnopfendudel und konnten uns ihren Inhalt leicht zusammenreimen.

Zweifellos lagen unsere Ziele und Absichten auf einer anderen Ebene und hatten ihre Schwerpunkte eher auf dem Erleben einer beeindruckenden Naturlandschaft, der gemeinsamen Freude an allem Neuen, vor allem aber an der kameradschaftlichen Harmonie eines Jagdquartetts, dessen Glück es war, sich in einer Solidargemeinschaft dem aufgebauten Jagddruck des Veranstalters erfolgreich zu widersetzen.

Auch ohne Beute aber mit eiserner Disziplin feierten wir nach dem letzten schusslosen Fehlversuch und Ansitz einen Abschiedsabend in unserer Hütte, der ganz unserem speziellen Naturell entsprach.

Rudi und ich wollten im Büro des Jagdhofes die Abrechnungsformalitäten erledigen, während Klaus und Karl Heinz den Kamin vorheizten und das Abendbrot vorbereiteten. Natürlich kam in dem Gespräch auch unser vierfacher jagdlicher Misserfolg zur Sprache und der diskrete Vorwurf von der oberen Jagdleitung, dass das zaghafte Zögern und Verweigern des Schusses ein Grund für den beutelosen Ausgang gewesen sein könnte. Und damit sei auch ein Loch in die Jagdkasse des Veranstalters gerissen worden. Schuldzuweisungen dieser Art wiesen wir energisch zurück, zumal Rudi mit seiner kaufmännischen Erfahrung und ich mit diplomatischem Geschick die besseren Argumente hatten.

So schieden wir nicht unbedingt als Freunde und schon gar nicht als potenzielle Wiederholungstäter. Diese Art der Jagd war nicht unsere!

Zurück in unserer gemütlich eingeheizten Hütte erlaubten Rudi und ich uns noch einen kleinen Scherz mit unserem vertrauensseligen “Koarli-Heinzi“: leider hätte die Verweigerung des Schusses auf das passende Stück Gamswild für den Schützen eine Art „Strafgebühr“ zur Folge gehabt, deren Höhe die Hälfte der vereinbarten Stärkeklasse ausmachte und in diesem Fall der niedrigste Satz von 400.-DM fällig würde.

Unser schlechtes Gewissen über diesen dummen Streich ereilte uns im gleichen Augenblick, in dem wir in die erschrockenen Augen unseres Freundes sahen und sein ehrliches Entsetzen uns sofort leid tat. Die Aufklärung kam unmittelbar und sein fröhliches und erleichtertes Lachen leitete für alle einen Abschiedsabend einer Jagdreise ein, die noch viel Anlass für manche Nachlese gab.

Nur wenige Wochen später erschien in einem renommierten deutschen Pressemagazin ein Bericht über genau diesen Jagdhof, dessen Praktiken auch wir fast auf den Leim gegangen wären. Dort war die Rede von betäubtem Wild, das zahlungskräftigen Jagdgästen der oberen gesellschaftlichen Prominenz wackelig vor die Büchse getrieben wird, um damit eine hundertprozentige Abschussgarantie gewährleisten zu können.

Dass in diesen niederösterreichischen Waldrevieren weder solch starke Rothirsche vorkommen, geschweige denn in den niederen Bergregionen Steinböcke der Goldmedaillenklasse erlegt werden, ist wohl eher der gezielten Gatterhaltung und dem reichlichen Kraftfutter zuzuschreiben.

Wie dem auch sei, unsere provinzielle Blauäugigkeit wäre uns fast teuer zu stehen gekommen, doch als stille Zeugen haben wir den Braten rechtzeitig gerochen und als Solidargemeinschaft klug gehandelt.


ALLES WIEDER GUT

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