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2.2 Herodot – „Gründer einer objektiven Religionsbetrachtung“

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Die griechische Einstellung zu fremden Völkern, Kulturen und Religionen mag weniger ethnozentrisch und klischeehaft gewesen sein als die anderer Kulturen (Nippel 1996). Die griechische Zivilisation wusste sich stark von anderen Hochkulturen, insbesondere der ägyptischen, beeinflusst. Alle nicht-griechisch Sprechenden hießen Barbaren, doch drückte dieser Begriff nicht zwangsläufig ein Überlegenheitsgefühl aus. Entdeckungsreisen und Kolonisierungsunternehmungen erweiterten das praktische Wissen um fremde Gegenden, Religionen und Kulturen. Die Werke der im 6./5. Jh. v. Chr. entstandenen ionischen Ethnographie sind in Fragmenten erhalten. Neben nüchternen empirischen Fakten transportierten sie fiktionale Inhalte, sahen in fremden Völkern fantastisch-monströse Kreaturen. Der griechisch-persische Konflikt (Achämenidenreich) führte zu vertieften Kenntnissen über verschiedene asiatische Kulturen.

Cicero sah den Historiker, Geographen und Völkerkundler Herodot (485–429/420 v. Chr.) als „Vater der Geschichte“. Für Jean Réville (1854–1908) war Herodot „le père de l’histoire des religions“ (Réville 1909: 48). Auch Jakob Burckhardt sah in ihm den „Gründer einer objektiven Religionsbetrachtung“ (Burckhardt 1931/32: 411). Die Volkskunde reklamierte Herodot als „Vater“ und Tacitus als „Ahnherrn der wissenschaftlichen Volkskunde“ (Riehl bei Bagus: 13).

Herodot gewann seine ethnographisch-religionskundlichen Informationen auf Reisen. In den ersten vier „Historien“ gliederte er sein Wissen über etwa 50 Kulturen in drei Teile: 1. In „Land“ informiert Herodot über die Natur des Landes, Flüsse, Klima, Tiere, Bäume usw.; 2. in „Volk – Geschichte und Bräuche“ thematisiert er Bevölkerungszahl, Geschichte, Sitten und Bräuche, Götter, Opfer, Kriegsbräuche, Orakelwesen, Eide, Begräbnispraktiken. Daran schließen sich Informationen über 3. Wunder und Mirakel an. Insbesondere stellt Herodot jene Völker dar, mit denen die Perser in Kontakt kamen: Ägypter, das Reiternomadenvolk der Skythen und Inder. Wenn Herodot religiöse und kulturelle Gewohnheiten beschreibt, legt er den Schwerpunkt auf Sexualmoral, Todesriten und Kulte. Er versteht sich als Augenzeuge, der die mitgeteilten Fakten selbst erlebt hat. Da er keine Fremdsprachen beherrschte, führte er seine Interviews mit Hilfe von Dolmetschern. Dass sich aus dieser Übersetzungsproblematik Verstehensschwierigkeiten ergaben, die zu Verständnisverschiebungen führten, war unvermeidlich. Um seine empirischen Eindrücke und Erfahrungen abzusichern, bedient sich Herodot zusätzlich der lokalen Traditionen. Er bemüht sich, die Wahrheit beziehungsweise Wahrscheinlichkeit seiner Informationen zu prüfen, sie also ggf. zu bestreiten. „Um sich Gewissheit zu verschaffen, ob Herakles ein genuin griechischer oder ein ägyptischer Gott war, reiste Herodot erst von Ägypten zu einem Herakles-Heiligtum im phönikischen Tyros, dann von Phönikien zu einem Herakles-Tempel auf der nordägäischen Insel Thasos (II 43f.). Knapp 2.000 Kilometer Seereise für die Lösung eines ‚religionswissenschaftlichen‘ Detailproblems!“ (Kamp 2010: 11). Herodots Wille zur Zuverlässigkeit und Korrektheit kann wohl nicht bestritten werden; denn er teilte real Erlebtes, Gesehenes und Gehörtes mit („Was ich bisher erzählt habe, beruht auf eigener Anschauung oder eigenem Urteil oder eigenen Erkundigungen“, Historien 2, 35–99, hier 99). Hauptsächlich arbeitete Herodot deskriptiv, doch stellte er auch Hypothesen über den Ursprung und die Beziehungen exotischer und barbarischer Religionen zu den griechischen Kulten und Mythologien auf. Fremde Phänomene verglich er mit heimisch-vertrauten. In Griechenland war schon früh die Auffassung verbreitet, fremde Völker, ihre Sitten und Religionen nicht zu verachten, sondern sie zu idealisieren. Die Barbaren erschienen als Repräsentanten eines ungetrübten, „reinen“ Urzustandes. Hiermit konnte sich die Vorstellung verbinden, dass die Menschheit von ihrer ursprünglichen Höhe der Tugend und Glückseligkeit stufenweise zu immer schlimmerem Elend und Frevel herabgesunken ist.

Interpretatio Graeca

An anderer Stelle wendet Herodot das schon vor ihm praktizierte hermeneutische Verfahren der „Interpretatio Graeca“ an. Die den Griechen unbekannten Götter wurden mit eigenen identifiziert. Auch wenn Herodots religionswissenschaftliche Urteile manchmal voreingenommen, sogar objektiv falsch sind, tritt er uns als Vertreter einer nach Objektivität strebenden vergleichenden Religionswissenschaft entgegen. Es ging ihm um die möglichst wertneutrale Beschreibung religiöser Inszenierungen (Zeremonien, Rituale). Dies geschah mit Interpretationsmustern aus der eigenen Kultur.

Der Eroberungszug (334–324 v. Chr.) des makedonischen Königs Alexander des Großen („Alexanderzug“) brachte neue Kenntnisse und erweiterte das religionsgeschichtliche Weltbild. Die Inder werden als Idealvolk verklärt, deren Ideal der Bedürfnislosigkeit an das der Kyniker erinnerte. Zur Zeit der ersten beiden Seleukidenkönige entstand eine umfangreiche Reiseliteratur. Seleukos I. entsandte den Historiker, Geographen und Diplomaten Megasthenes 302 v. Chr. an den Königshof von Pataliputra (das heutige Patna im indischen Bundesstaat Bihar). Megasthenes‘ Bericht über Indien („Indiká“) ist nur noch in Fragmenten erhalten und gilt bis heute als wichtige historische Indienquelle. Megasthenes beschrieb die zeitgenössischen sozialen und politischen Verhältnisse, ausgewählte Tiere, die Geographie Indiens, unterschied 118 Bevölkerungsgruppen (damit meint er vielleicht die Jatis: „Geburtsgemeinschaften“), kennt vier Varnas („Stände“) und sieben Berufsgruppen. Im Kontext des Themas Eheverbindungen stellte sich ihm das Problem, in welche Gruppe die außerhalb des Ständesystems stehenden griechischen bárbaroi gehörten. Megasthenes deutete die indische Götterwelt von seinen griechischen Vorstellungen her. Im Kontext der indischen Weisheitslehren nannte er den in den Bergen verehrten Dionysos (Shiva) und den Flachlandgott Herakles (Krishna).

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