Читать книгу Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book) - Ueli Kraft - Страница 14
Auffassungen der Tätigkeit und Rolle der Erziehungsberatung
ОглавлениеFrühformen der – noch nicht so genannten – Lerntherapie entstanden vor allem im Rahmen der Erziehungsberatung (vgl. 2.1). Die gut vertretenen Arbeiten der ZfpP zu dieser Disziplin verdienen deshalb besondere Aufmerksamkeit – ich greife heraus, was auch für die heutige Lerntherapie relevant sein dürfte.
August Aichhorn – einer der Begründer der psychoanalytischen Pädagogik – zeigt sich als beinahe altmeisterlicher Virtuose auf der Klaviatur von Übertragung und Identifizierung – im Text gleichermassen bezogen auf Eltern und Kinder oder Jugendliche (1936). Obwohl er auch Überweisungen in Beobachtungsstationen, Heime und in die Psychiatrie vornimmt, bei gängigen Schulschwierigkeiten klärt er zunächst Lernhemmungen psychischer Art. «Die meisten von ihnen werden von der Schule ganz typisch mit 2 Sätzen charakterisiert: ‹Das Kind kann sich nicht konzentrieren›, ‹Es könnte viel mehr leisten, wenn es wollte›« (1932, S. 470). Die Hintergründe kann er nur verstehen, wenn die Klienten eine positive Übertragung (Eltern) oder Beziehung (Kinder) zu ihm entwickeln, Vertrauen fassen. Er bemerkt: «Bei Schulkindern ist bei einer ersten Begegnung gewöhnlich die Schule ein für unser Gespräch verbotenes Gebiet» (1936, S. 51). Er lässt seine Klienten erzählen, geht aufmerksam mit – ohne, «dass der Konflikt und das anamnestische Material» mit «Fragebogen oder auf Grund einer auszufüllenden Drucksorte in eine von uns bestimmten Reihenfolge» gebracht werden (1932, S. 451). Wichtigstes diagnostisches Mittel ist die Beobachtung im Spiel, im nichtanalytischen Gespräch, auf Spaziergängen mit dem Kind (vgl. 1936, S. 60–61). «Viele Kinder bleiben von der Schule weg, machen ihre Aufgaben nicht, arbeiten in der Schule nicht mit und stören den Unterricht, weil niemand da ist, der sich für ihre Leistungen und das Benehmen in der Schule interessiert, der gute Schulleistungen lobt und schlechte tadelt. […] Wir haben in hunderten von Fällen ohne Anwendung psychologischer Kunststücke [Hervorhebung UK] ausreichende Hilfe dadurch geboten, dass wir das Vertrauen der vorgestellten Minderjährigen gewannen. Wir verstanden ihre Beschwernisse und Kümmernisse und gaben ihnen die Möglichkeit, ihr unbefriedigtes Zärtlichkeitsbedürfnis bei uns unterzubringen». Die entstehende Übertragung führt nicht zuletzt dazu, dass das Kind dem Berater Freude machen will: «Sehr bald werden dann Schulbücher und Hefte mitgebracht, […] die Schulaufgaben gelernt und geschrieben, […] und vom Schulschwänzen ist in kürzester Zeit keine Rede mehr» (1932, S. 457f.).
Fritz Redl – unter anderem Kinderpsychoanalytiker und zusammen mit Aichhorn 1934–36 Leiter der Wiener Erziehungsberatungsstellen – macht sich Gedanken zur Terminologie des Begriffs Erziehungsberatung (1932, S. 523–532). Was dort faktisch gemacht werde, entspreche schon lange nicht mehr dem, was die Leute darunter zunächst verstehen würden – was auch Quelle von Widerständen bei einzelnen Eltern und Erziehern sei (in diesem Zusammenhang interessant der Beitrag von Hans Schikola: «Die narzisstische Kränkung der Eltern durch die Erziehungsberatung» [1932, S. 515–522]). Redl regt an, dass Erziehungsberatung primär als Beratung und Begleitung der Eltern verwendet werden sollte. Die Arbeit mit den Kindern oder Jugendlichen selbst sieht er zunächst im Dienst notwendiger Diagnosen, aber durchaus auch als pädagogische Erziehungshilfe dort, wo die Eltern – sei es aus Desinteresse oder Unvermögen – ihre Aufgabe unzulänglich erfüllen. Er schreibt weiter, dass beides in vielen Fällen nicht genüge, weil tiefer greifende therapeutische Unterstützung notwendig sei (1932, S. 527f.). Redl schlägt dafür nach längerer Diskussion den Begriff der Erziehungsbehandlung vor (a.a.O., S. 530). Er fordert, dass «den maßgebenden Instanzen die Begriffe Erziehungsberatung, Erziehungshilfe, Erziehungsbehandlung klar dargestellt werden» sollten. «Heute stehen wir einem Knäuel von Widerständen gegenüber, ihre Erledigung wird erschwert, wenn die dreischichtige Aufgabe mit dem Wort ‹Erziehungsberatung› bezeichnet wird» (a.a.O., S. 532).