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1.3.1 Zur Entstehungsgeschichte der bernischen Erziehungsberatung – ein Lehrstück

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Die Geschichte – ich folge ab hier Suzanne Hegg (1977, S. 40ff.) – beginnt 1917 mit dem fortschrittlichen Schularzt Paul Lauener, welcher in Bern während der schwierigen Jahre während und nach dem Ersten Weltkrieg versuchte, seine Aufgabe nicht nur medizinisch zu fassen. Er kümmerte sich um Kinder, Jugendliche, Lehrlinge und deren Familien in Nöten.

Endlich kamen hinzu die vielen Klagen über Schule, Lehrer und Schulschwierigkeiten … Kurz, alles, was schief ging in der Schule [,] kam schliesslich vor unsere Ohren […] und da ich mich allein mit einer Schulschwester dieser Lawine gegenüber fand, bestand die Gefahr, von ihr erdrückt zu werden. Zudem war ich in keiner Weise dazu ausgebildet, mich nur einigermassen allen diesen Fragen gegenüber gewachsen zu fühlen. Da halfen auch die besten Schriften von Pestalozzi bis Häberlin nur eben so viel, uns die Schwierigkeiten nur noch deutlicher vor Augen zu führen.» (Lauerner, 1957; zitiert nach Hegg, S., 1977, S. 41f.).

Lauener fand in der Folge 1920 in der Person des mittlerweile promovierten Hans Hegg den gesuchten Fachmann – die beiden dürften damals bereits befreundet gewesen sein (vgl. Hegg, S., 1977, S. 42). Die Historikerin Hoffmann beschreibt in ihrer Lizentiatsarbeit zum Wirken Laueners diesen Einstieg so:

Hegg wünscht die Tätigkeit des Schularztes auf psychologischem Gebiet zu unterstützen und stellt sich der Schuldirektion hierfür vorerst ohne Honorar zur Verfügung – wogegen der Gemeinderat nichts einzuwenden hat. Zuvor hat sich Lauener selbst als Berater in Erziehungsfragen betätigt und seit 1918 eine ‹stark frequentierte› Elternsprechstunde angeboten. Der Schularzt ist es also, der die Erziehungsberatung in Bern begründet. 1920 überträgt der Gemeinderat diese Aufgabe mit Hegg einem Psychologen und Pädagogen und erweitert gleichzeitig das Schularztamt offiziell um eine Beratungsstelle für Erziehungsfragen (2008, S. 18).

Hegg – ich folge hier wieder dem Bericht seiner Tochter – begann also in einem Hinterzimmer des Schularztamtes (das für alle Zwecke gebraucht wurde) in Teilzeit zu arbeiten – ein Pionier ersten Ranges. Er versuchte parallel dazu zwar eine eigene Praxis aufzubauen, was aber daran scheiterte, dass er sich auf dem Schularztamt (wo die Beratung kostenlos war) selber konkurrierte. Im zweiten Jahr erhielt er für die psychologischen Untersuchungen, die er im Auftrag des Jugendamtes oder des Armeninspektorates vornahm, eine bescheidene Vergütung von 3 bis 5 Franken, ab 1922 zwar ein Salär von 4800 Franken pro Jahr, aber noch lange keine Anstellung. Er konnte sich, mittlerweile verheiratet, finanziell über Wasser halten, indem er ab 1925 jeweils circa 5–6 Pensionäre mit Schul- und Erziehungsschwierigkeiten in seinem Haus aufnahm und betreute. Eine feste Anstellung als Erziehungsberater der Stadt Bern (im Nebenamt) erhielt er erst 1943.

Die Idee einer Stelle für Erziehungsberatung war 1920 für Bern und für die ganze Schweiz etwas völlig Neues. «Ihre Entwicklung verlief mühsam und harzig und blieb während Jahrzehnten an ihren Begründer, Hans Hegg, gebunden, der sich das Unternehmen zur Lebensaufgabe gemacht hatte» (Hegg, S., 1977, S. 37f.). Er wurde auch angefeindet:

Die Lehrerschaft machte während Jahren Front gegen die neue Institution, da sie sich selbst als zuständig für alle Erziehungsfragen erachtete. Dazu sei sie kraft ihrer Ausbildung kompetent, war noch in den 40er Jahren in der ‹Schweizerischen Lehrerzeitung› zu lesen, obwohl damals die Lehrerschaft schon lange zu einer ‹Hauptkundin› der Erziehungsberatung geworden war. […] Ein Vertreter der medizinischen Fakultät, seines Zeichens Pädiater, bezeichnete die Erziehungsberatung kurz nach ihrer Gründung als eine ‹Bierkateridee›, die von allem Anfang an zum Scheitern verurteilt sei. Zuständig für Erziehungsfragen erklärte er den Kinderarzt, der die familiären Verhältnisse am besten kenne und zu beurteilen vermöge (a.a.O., 1977, S. 45f.).

Suzanne Hegg (1977, S. 74ff.) setzt an den Beginn des theoretisch-methodischen Teils ihres Berichts über ihren Vater ein Zitat von Pestalozzi, welcher 1801 in einem Brief an Christoph Wieland schreibt: «Mein erster Grundsatz ist: Wir können das Kind nur insoweit gut führen, als wir wissen, was es fühlt, wozu es Kraft hat, was es weiss und was es will.» Hegg hat seine Arbeit als «pädagogische Erziehungsberatung» verstanden und darin womöglich mit der Schule, den Ärzten und Psychiaterinnen kooperiert. Die «Schulpsychologie» sah er als nichts anderes als Beratung im Bereich der Schule, als ein – allerdings sehr wichtiges – «Spezialgebiet der Erziehungsberatung», in der Einfluss auf die elterliche Erziehung genommen wird (a.a.O., S. 95). Tests nutzte er lediglich als sekundäre Hilfsmittel im Rahmen des Ganzen einer Untersuchung, da Leistungsversager diese als Prüfung empfänden und mit prüfungstypischen Reaktionen die Ergebnisse verfälschten. Methodisch standen das Gespräch und die Beobachtung im Zentrum. Er nahm das Kind als Person so ernst wie die Erwachsenen. So schuf er nicht nur eine gute Beziehung, sondern auch die Grundlage, dieses «bewusster und wissender» um seine Schwierigkeiten zu machen – und damit unter Umständen schon ein Motiv zur Verhaltensänderung zu schaffen. In einer Verquickung von Abklärung und Behandlung sah er das Kind (im Allgemeinen mit der Mutter) in regelmässigen Abständen in der Sprechstunde (zuerst einmal pro Woche, später alle 14 Tage, dann 4 Wochen), um über das aktuelle Geschehen zu berichten. Wieweit die Mütter bei diesen Gesprächen immer dabei waren, geht aus dem Text nicht hervor (a.a.O., S. 95).

Suzanne Hegg bemerkt, dass sich diese pädagogische Erziehungsberatung im Vorgehen ihres Vaters «von einer lege artis durchgeführten Therapie unterscheidet, obwohl sie sich auch psychologisch-therapeutischer Methoden bedient» (a.a.O., S. 91). Bezogen auf die dahinter liegenden psychologischen Grundlagen fasst sie sich kurz:

Er war keiner Doktrin ergeben, sondern war ein ausgesprochener Eklektiker. Studiert hat er in der Ära der Psychoanalyse und der Auseinandersetzung mit ihr. Verhaltensmodifikation nach der Lehre der Verhaltenstherapie könnte bei ihm nachgewiesen werden, bevor die Lehrbücher über Verhaltenstherapie entstanden. […] Ebenso kann man bei Hegg gesprächstherapeutische Ansätze finden, seit den Anfängen seines Wirkens. […] Jahrelange Erfahrung und seine Grundüberzeugung hatten Hegg gelehrt, dass die Methode in der Erziehungsberatung nicht Selbstzweck sein darf, sondern dass sich die Art des Vorgehens nach der jeweiligen Situation zu richten hat. (A.a.O., S. 98)

Hegg hat selbst kaum publiziert. Was er gelesen hat, wissen wir nicht. Sosehr er sich als Pionier seine Erziehungsberatung selber erfinden musste: Es ist kaum vorstellbar, dass er die einschlägigen Publikationen der Ära der Psychoanalyse, etwa von August Aichhorn, Fritz Redl oder von Hans Zulliger (siehe weiter unten) und insbesondere die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (ZfpP) in den 20er- und 30er-Jahren nicht gekannt haben soll. Letztere hat immer wieder Aufsätze auch zur Behandlung von Lernstörungen und zur Erziehungsberatung aufgenommen. Sie soll in den folgenden Abschnitten im Zentrum stehen.

Vorher allerdings wollen wir danach fragen, was der Pionier Hans Hegg aus Bern für unsere Frage nach Vorläufern lerntherapeutischen Arbeitens bedeutet: Hegg war kein Lerntherapeut, der Begriff war eine spätere Wortschöpfung. In seiner praktischen Arbeit könnte man ihn aber durchaus als einen der frühen Vorläufer dieser Disziplin anerkennen: Ausgehend vom Kind oder vom Jugendlichen, stellt er aus einer bewusst therapeutischen Haltung eine Beziehung her, welche die Basis gemeinsamer Arbeit – Stichworte: Gespräch und Beobachtung – bildet. Aufhänger der Zuweisungen waren häufig genug schulische Schwierigkeiten, welche aber nicht als isoliertes Symptom angegangen wurden. Das Hauptaugenmerk lag einerseits auf den Schwierigkeiten, welche seine Klienten hatten, da hat er durchaus auch therapeutisch gearbeitet. Anderseits sah er sich als pädagogischen Fachmann, welcher auf die Erziehung Einfluss nehmen wollte und damit auch auf das Verhalten der Eltern und – wo möglich – von Lehrpersonen.

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