Читать книгу Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book) - Ueli Kraft - Страница 23
1.6 Epilog: Eine letzte biografische Reminiszenz
ОглавлениеZu meiner Zeit an der Erziehungsberatungsstelle des Kantons Schaffhausen (1976–80) stammten Kinder mit Migrationshintergrund noch meist aus Italien. Die Kleinen sassen von einer Woche auf die nächste in einer Regelklasse der Unterstufe – meist ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Sie wurden von eher ängstlichen Lehrerinnen beinahe zuverlässig für eine «Hilfsschul-Abklärung» angemeldet – oft mit der implizit schlichten Annahme, schlechte Leistungen in Deutsch würden auf eine möglicherweise eingeschränkte Intelligenz verweisen. Ja, natürlich wollte ich mir ihre Geschichten erzählen lassen – und wenn es mit der Mama und dem Kind sprachlich zu schwierig war, holte ich den liebenswürdigen Pater der Missione Cattolica dazu, welcher zwischen den beiden Kulturen behutsam und respektvoll vermitteln konnte. Die Kinder liess ich beim beobachteten Spielen erzählen, liess ihnen überhaupt Zeit, aufzutauen. Klar machte ich mit ihnen (es waren wahrscheinlich insgesamt etwa sieben oder acht, die bei mir landeten) etwas Diagnostik: einen sprachfreien IQ-Test, ich liess sie einiges zeichnen, um Entwicklungsverzögerungen ausschliessen zu können, und weniges mehr. Zusätzlich führte ich aber unaufgefordert eine Legasthenie-Abklärung durch. Wunderbarerweise gab der damals eingesetzte Test bei Deutsch-Anfängern zuverlässig an. Ich diagnostizierte meist eine schwerere oder mittelschwere Legasthenie, schrieb zuhanden der Kostenstelle ein kleines Gutachten und schlug zu Beginn zwei Stunden Therapie pro Woche vor. Dies wurde ohne Weiteres bewilligt und konnte bis zu zwei Jahre verlängert werden, ebenfalls ohne Probleme. Und die Lehrerinnen hatten eine Diagnose, nahmen Druck weg und freuten sich über Fortschritte.
Die Kleinen erhielten in der Folge also eine Legasthenietherapie – die Therapeutinnen waren meist Lehrerinnen, welche ihre Stellen zugunsten einer Familienphase aufgegeben hatten und nach einer Zusatzausbildung Klienten bei sich zu Hause empfingen. Diesen hat die Therapie gewiss nicht geschadet: akustische Wahrnehmungsdifferenzierung ist bei Kindern anderer Muttersprachen eine gute Sache. Aber sie erhielten auch viel informellen Deutschunterricht und Hilfe bei der Integration in das noch fremde Land, in dem so vieles so anders war. Jemand kümmerte sich um die Hausaufgaben, sprach ab und an mit den Eltern. Und die Kinder? Die erfuhren vor allem geduldige Aufmerksamkeit und Zuwendung: jemand, die zu ihnen schaute und die sie gerne bekamen –, sie erhielten das, was Kinder überhaupt und in solchen Situationen besonders brauchen. Und wenn sie Durst hatten, gab’s einen Sirup in der Küche …
Keines der Kinder kam in die Hilfsschule. Ich sah sie jeweils wieder, wenn eine der Nachkontrollen anstand. Im Gutachten strich ich die – realen – Fortschritte heraus, reduzierte den Schweregrad der Legasthenie ein wenig und verlängerte die Therapie um ein weiteres halbes Jahr. – Habe ich informelle Lerntherapien initiiert? … Wahrscheinlich. – Waren diese erfolgreich? … Soweit ich weiss, ja. – War das korrekt? … Nein. – Ist die Sache verjährt? … Ja. – Hatte ich je ein schlechtes Gewissen? … Nein, überhaupt nicht.
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