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3.8 Lerntherapie im Dienste von Kindern und Eltern – Systeme und zukünftige Handlungsmöglichkeiten

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Gerade Heilpädagogik und Lerntherapie müssen Unwohlsein, insbesondere Ängste und Probleme von Kindern und Jugendlichen in der heutigen Zeit wahrnehmen und sehr ernst nehmen. Die entscheidenden Erkenntnisse der Pädagogik, der Heilpädagogik und Lerntherapie sind aus Krisen der Systeme, speziell des Schulsystems im Hinblick auf Nichtbeachtung und Vernachlässigung der Probleme betroffener Kinder und ihrer Eltern hervorgegangen. Krisen können zu entscheidenden Neuorientierungen führen. Frühe Hilfen, das heisst Erkennen und Diagnose von – häufig system- und umfeldbedingten – Problemen und die prophylaktische Aufarbeitung durch Gespräche und Lerntherapie im eigentlichen Sinne erweisen sich, gerade in der Gegenwart, als dringend notwendig.

Die einst so gepriesene pluralistische Gesellschaft mit den Erscheinungen Hedonismus, Werteverfall und Bindungslosigkeit birgt für die soziale und emotionale sowie für die geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen leider auch Bedrohungen und Verletzungen unbekannten Ausmasses. Insofern müssen pädagogische Grundfragen im Hinblick auf diese Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft neu aufgegriffen, reflektiert und beantwortet werden. Das geschieht auch durch Umorientierung von der traditionellen Diagnostik hin zu einer verstehenden mehrdimensionalen Förderdiagnostik (Bundschuh, 2019a, S. 75–135). Heilpädagogik und Lerntherapie bemühen sich prinzipiell um eine solide verstehende pädagogische Basis, die vor allem auch erfüllte Lebensbewältigung ermöglichen soll. Die pädagogische Aufgabe der Zukunft liegt auch darin, die Komplexität und Vielfalt der Möglichkeiten unserer Zeit auf ein für Kinder verträgliches und erträgliches Mass zu reduzieren. Die Ergebnisse der PISA-Studien lehren uns, dass manchmal weniger mehr sein kann, indem sie für eine Reduktion von starren, abstrakten Lehrplänen im Sinne konkreter Handlungsorientierung und damit auch Orientierung am Schüler und an der Schülerin sprechen. Diese Implikationen gelten prinzipiell für alle Schultypen. Das Kernproblem im allgemeinpädagogischen, speziell im lerntherapeutischen Arbeitsfeld liegt in der Frage der weiteren Erziehung angesichts ins Stocken geratener Prozesse in den Bereichen Lernen, Kommunikation im weiten Sinne und Sozialverhalten beziehungsweise emotionales Erleben. Frustrationen, zusammenbrechende und zusammengebrochene Erziehungsfelder, schlichtweg Notsituationen begleitet von Zweifeln, Konflikten, Demütigungen der Eltern und Kinder und der ständigen Suche nach Hilfe, Unterstützung und neuen Möglichkeiten, sind Ausdrucksformen solcher Probleme. Prozesse, die Familien bedrücken, angesichts übermächtiger Institutionen, die zwar das Angebot der Schulen bereitstellen, es bisher jedoch nicht erreicht haben, die mit dem Besuch dieser Schulen immer noch bedrückende, Ängste sowie Minderwertigkeitsgefühle erzeugenden und auch diskriminierenden Begleiterscheinungen in Institutionen, Gesellschaft, Nachbarschaft und Freundeskreis zu neutralisieren (vgl. Bundschuh, 2008, S. 43–49). Meist bedeutet es für die Betroffenen Leid, zusätzliche Erschwernis menschlicher Alltagsbewältigung und Problemhaftigkeit, mit den Phänomenen und Begleiterscheinungen einer Behinderung und behindernden Bedingungen unmittelbar, hautnah im wahrsten Sinne des Wortes, konfrontiert zu werden.

Ähnlich, wenn auch etwas distanzierter betroffen, sind Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, Erzieher und Therapeutinnen und Therapeuten, die sich ständig bemühen, trotz auftretender Widerstände und häufigen Scheiterns bei Grenzproblemen, pädagogisierbare Möglichkeiten zu erkennen. Mit Diagnostik traditioneller Art kann hier nicht weitergeholfen werden. Es setzt im lerntherapeutischen Bereich die differenzierte Suche nach neuen Möglichkeiten für Erziehung und Förderung und damit nach erweiterter Handlungsfähigkeit des betroffenen Kindes, der Eltern, der Lehrerinnen und Lehrer ein. Förderdiagnostik (Bundschuh, 2019a) übernimmt hier die wichtige Aufgabe der Problemanalyse sowie Vermittlung zwischen Kindern und Jugendlichen mit ihren Nöten sowie Problemen und der Lerntherapie. Was heisst Förderung und Therapie angesichts solcher Not- und Problemsituationen? Was bedeutet das für die Frage der Erziehung? Welche Rolle spielen Förderung und Therapie im Rahmen der Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen? Können Förderung und Therapie auch mit Problemen und Gefahren verbunden sein? Inwiefern bedeuten Förderung und Therapie Entdeckung und Wahrnehmung neuer Möglichkeiten? Solche Fragen müssen gestellt werden, können jedoch im Rahmen dieses kurzen Beitrages nicht systematisch beantwortet werden.

Grundlegende Überlegungen zu Fragen des Verstehens, der Erziehung und der Förderung sind notwendig, Fragen nach der Orientierung am Kind und nach dem Kindgemässen (Bundschuh, 2019a, S. 249f.). Lerntherapie bedeutet Neuanfang, Neuorientierung, Aufbruch, und den Gedanken der Erziehung und des Verstehens in die Frage nach der Diagnose und Förderung beziehungsweise in den lerntherapeutischen Prozess unmittelbar zu integrieren, das heisst:

 Individuell gesehen Weiterführung, Dynamisierung ins Stocken geratener Lernprozesse, Nöte von Kindern und Jugendlichen angesichts übermächtiger institutioneller Mächte wahr- und ernst nehmen, die Entwicklung hemmender – negativer – Kreisprozesse aufbrechen, behindernde Bedingungen in der Umwelt mit aller Entschiedenheit diagnostizieren, in Wort und Schrift benennen und nach Möglichkeit durch Handeln beseitigen. Das betroffene Kind selbst durch Aufzeigen und Bewusstmachung eigener Handlungsfähigkeit sowie positiver Erweiterung des Selbstbildes und der Selbstkompetenz ermutigen, eigene Kompetenzen und Ressourcen zu erkennen und zu nutzen;

 Belebung sozialer Prozesse – Interaktionen und Begegnungen – durch Förderdiagnostik und Analyse separierender sowie behindernder Bedingungen sowie Anschluss an neue soziale Gemeinschaften im Sinne von Integration und Inklusion (Bundschuh, 2010, S. 93–99);

 im Bereich der Eltern durch Vermittlung von Hoffnung, Mut und Stärkung des Willens zu Erziehung und Förderung, Öffnung von besseren Perspektiven für die Zukunft angesichts deprimierender Erfahrungen – «Unser Kind leistet zu wenig oder nichts, passt sich nicht dem Unterricht an», «stört ständig im Unterricht», «erreicht die nächste Klasse nicht» – im Kontext Schule und Lernen sowie Verhalten.

Insgesamt gesehen meint «Aufbruch» das Aufbrechen und Zerbrechen hemmender Erfahrungen und Strukturen im Bereich Familie, Alleinerziehender, im System Schule, insbesondere aber auch im Bereich des Kindes selbst, das geprägt ist von einer Fülle negativer, hemmender und behindernder Erfahrungen, die auch als «Teufelskreis Lern- und Verhaltensstörungen» bezeichnet werden können.

Therapie und Unterricht gehen von zwei unterschiedlichen Konzepten aus. Unterricht vermittelt aktiv Inhalte und Techniken. Bei der Therapie stehen Prozesse wie Selbstbestimmung und Entwicklung sowie die Beziehung zwischen Lernendem oder Lernender und Therapeut oder Therapeutin im Zentrum des Interesses. Auch wenn die Lerntherapiestufe I der «Vermittlung» sehr nahekommt, versteht sich diese wie die «Lerntherapie» als Ganzes sowohl von der «Verknüpfung» von Persönlichkeit und Lernen als auch von ihrem therapeutischen Handlungsansatz her als Therapie. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr die Persönlichkeit der Lernenden letztlich immer wichtiger ist als ihr Lernen: «Das Wichtigste ist immer der Lernende» (Metzger, 2008, S. 235). Man kann in Erweiterung auch sagen, dass Lerntherapie quasi ein «Learning-System» in sich darstellt. Es spricht vieles dafür, dass Lerntherapeuten mit jedem Klienten neue Erfahrungen machen und auch dabei lernen, dass sich die Lerntherapie entsprechend den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft verändern, neu orientieren und sich auch weiterentwickeln muss, ohne dabei die Grundprinzipien aus dem Auge zu verlieren. Da Persönlichkeitsentwicklung und Lernen miteinander einhergehen, ist das eine nicht ohne das andere zu betrachten. Lernen geschieht durch die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ihrerseits entwickelt sich in und durch Beziehung. Um diese Prozesse zu fördern, verhalten sich die Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten nicht als «Lehrmeisterin» oder «Trainer», sondern begeben sich in eine sensible therapeutische Haltung und Beziehung. Diese fördern und erleichtern Veränderungen und damit Entwicklungs- und Lernprozesse.

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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