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3.7 Wahrnehmen, Verstehen und Handeln

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Heilpädagogik und Lerntherapie stehen gleichermassen im Dienste der Kinder und Eltern, die im Rahmen von Erziehung und Unterricht traditioneller Art in eine Problemsituation geraten sind. Es geht der Lerntherapie vor allem um ein Wahrnehmen und Verstehen dieser Problemsituation und um adäquates Handeln. Reichtum einerseits und alarmierende Zahlen über die Zunahme realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendlichen, alleinerziehenden Müttern und ausländischen Familien andererseits – gesellschaftliche Ausgrenzungen, der Kampf um elementare Menschenrechte und Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen – diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen bilden einen wichtigen Ausgangspunkt des Nachdenkens über Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen und Verhaltensproblemen, die häufig unter behindernden Bedingungen leben. Diese komplexen Herausforderungen generieren die Impulse zukünftiger lerntherapeutischer Theorie und Praxisentwicklungen.

Einerseits bedeutet Wahrnehmen, die Aufmerksamkeit auf das Sosein eines Menschen zu richten, ihn zu beachten, sein Leben in seiner speziellen Situation zu betrachten und zu analysieren, seine Lebenssituation mit Blick auf Verstehen und Unterstützen zu reflektieren. Andererseits steht der Begriff «Wahrnehmung» für die Aktivitäten des Gehirns. Wahrnehmen ist ein Prozess, durch den sich der Mensch in Form von Informationsaufnahme über die Sinnesorgane und Reizverarbeitung im Gehirn Welt konstruiert und aneignet, wobei die eigene Aktivität der wahrnehmenden Person im Vordergrund dieses Vorganges steht (Bundschuh, 2019b, S. 308–313). Das Informationsmaterial wird dabei so verarbeitet, dass für das Individuum auf der Basis emotionaler Prozesse immer wieder neu Bedeutung entsteht (ebd. 2003, S. 111ff., S. 147–152). Wahrnehmung bildet somit die Grundlage für die Begegnung mit der Person- und Sachumwelt sowie dem eigenen Selbst auf der Basis ständiger Bewertungen. Neuwahrnehmung heisst hier Möglichkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung eines Klienten oder einer Klientin zu stellen.

Welche Assoziationen sind mit dem Begriff «Verstehen» verbunden? Die moderne, rational orientierte Wissenschaft lehnt häufig mit scheinbar einsichtigem Begründen unsichere Begriffe wie beispielsweise «pädagogischer Bezug», «heilpädagogische Beziehung» und auch «Verstehen» ab. Mit Wahrnehmen und dem Versuch, zu verstehen, entwickelt sich allmählich ein Bild vom Gegenüber, vom Du (Buber, 2006). Einen Menschen verstehen heisst, seinen bisherigen Weg gedanklich und empathisch nachvollziehen und ihn in seinem Sosein annehmen – ihn also in seinem Werden und in den Bedingungen des Werdens verstehen (vgl. Bundschuh 2008, S. 71ff.; 2010, S. 126–130). Es geht dabei auch um eine Einstellung, die das Verhalten des Anderen und sein Sosein achtet und akzeptiert, die unter Beachtung seiner Subjektivität versucht, ihn immer besser und vertiefter zu verstehen. Die sich dabei aufbauende Intersubjektivität impliziert, dass die lerntherapeutische Fachperson die Welt des Anderen in seiner individuellen Lebenssituation begreift oder zumindest bereit ist, in einen Prozess des Verstehenwollens und -lernens einzutreten. Vom Anderen her gesehen erweist sich jede Handlung, jede Art von Verhalten, als sinnvoll. Insofern heisst Verstehen auch Achtung vor der Unerschliessbarkeit und Unverfügbarkeit des Anderen (vgl. Bundschuh, 2019a, S. 91–96). Lerntherapeutisches und heilpädagogisches Denken erfordert Flexibilität, Offenheit und Offensein für alle Möglichkeiten einer Lebensgeschichte, bereit sein, den von uns persönlich bevorzugten Standpunkt in Frage zu stellen. Für Lerntherapeutinnen und -Therapeuten ist dieses «Auf-dem-Wege-Sein» (Moor, 1974, S. 260f.) wichtiger als das Wissen um das Ziel. Es lässt sich fast ein triviales, allgemeines Ziel ableiten: Die besondere Situation einer Klientin oder eines Klienten in einer Problemsituation fordert immer wieder aufs Neue zum Handeln auf.

Eine Handlung ist eine Einheit, bestehend aus einer äusseren manifesten Aktivität und einem inneren kognitiv-emotionalen Anteil. Handeln ist oft soziales Handeln, insofern spielt der soziokulturelle Kontext eine wichtige Rolle. Der Lerntherapie geht es um Handeln und um die Handlungsfähigkeit in den emotionalen, sozialen und geistigen Entwicklungen und ganzheitlichen Prozessen des Kindes und Jugendlichen, vor allem um Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Autonomie. Der Mensch entwickelt und gestaltet seine Persönlichkeit in der erlebenden und handelnden Begegnung mit der konkreten, in bestimmter Weise strukturierten und sich dynamisch verändernden Welt, die wir als Alltagswirklichkeit bezeichnen. In diesem prozesshaften Geschehen liegt die Herausforderung der Lerntherapie. Sie trägt eine grosse Verantwortung und spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Bildung, Ausbildung sowie Sinnfindung von Kindern und Jugendlichen. Die sozialen und anregenden, aber auch die objektiven und physikalischen Gegebenheiten besitzen vor allem in ihrer subjektiven Bedeutung für die handelnde Person hohe Relevanz. Es ist eine grosse Herausforderung für die Lerntherapie, die häufig bestehende Kluft zwischen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln im Sinne der Klienten zu schliessen oder zumindest zu verringern.

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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