Читать книгу Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book) - Ueli Kraft - Страница 29
2.5 Hinreichend gute Eltern
ОглавлениеDie Feinfühligkeit von Betreuungspersonen gegenüber ihren Kindern ist zwar relativ stabil, kann aber durch zahlreiche Faktoren im Familienalltag beeinträchtigt werden. Hierzu zählen insbesondere Schlafmangel und Müdigkeit, geringe Zeitressourcen, hohes Stressempfinden oder die Notwendigkeit, auf mehrere Kinder gleichzeitig einzugehen (Zemp, Bodenmann & Zimmermann, 2019). Ebenfalls hängt die elterliche Feinfühligkeit von längerfristigen sozialen Gegebenheiten ab (allgemeine Lebenszufriedenheit und psychische Gesundheit der Eltern, Zufriedenheit in der Partnerschaft, Alleinerziehung, soziale Unterstützung, sozioökonomischer Status etc.). Vor diesem Hintergrund können Eltern nicht permanent alle Bedürfnisse des Kindes stillen. Folglich gilt es zu bedenken, dass es die perfekte Feinfühligkeit dauerhaft nicht gibt (Ahnert, 2010). Der Psychoanalytiker Donald Winnicott (1953) hat mit dem Begriff der «good enough mother» (hinreichend gute Mutter) das idealisierte Bild des perfekten Elternteils verworfen. Die Bezeichnung reflektiert, dass Vollkommenheit und Perfektionismus in der Fürsorge und Erziehung weder realistisch noch erstrebenswert sind und Abweichungen vom Ideal im Alltag respektiert werden müssen. Es ist wichtiger das Kind auch effektiv regulieren zu können (beruhigen, trösten, Schutz gewährleisten) als gehetzt, aber prompt auf alle Äusserungen des Kindes zu reagieren. Darüber hinaus sollen Eltern auch auf ihre eigenen Bedürfnisse achten, sich Zeit für sich und die Partnerschaft nehmen und ausreichend Gelegenheiten zum Auftanken schaffen. Es ist nicht zugunsten des Kindes, wenn Eltern erschöpft und ausgebrannt sind (Ahnert, 2010). Sie können nur so gut auf das Kind und seine Bedürfnisse eingehen, wie sie selbst in einer ausgewogenen Verfassung und Befindlichkeit sind.
Das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit sollte zudem entwicklungsabhängig verstanden werden. Während im Säuglingsalter auf das Bindungsverhalten so gut wie möglich (möglichst zuverlässig und prompt) reagiert werden sollte, ist mit zunehmendem Alter des Kindes Erziehungsverhalten günstig, das nur noch so gut wie nötig (hinreichend zuverlässig und prompt) ist, um den wachsenden Autonomiebestrebungen und Kompetenzen des Kindes gerecht zu werden (Zemp et al., 2019). Eine sichere Bindung des Kindes zu den Eltern stellt bis in die Adoleszenz und darüber hinaus einen der wichtigsten Schutzfaktoren gegen psychische Störungen dar (Spangler & Zimmermann, 2019). Durch zunehmende Stressbewältigungskompetenzen und Autonomie kommen Jugendliche seltener in Überforderungssituationen als Kleinkinder (Zimmermann & Iwanski, 2018). Zudem verbringen Jugendliche mehr Zeit ausserhalb der Kernfamilie mit Gleichaltrigen und suchen dort soziale Unterstützung. Die emotionale Verfügbarkeit der Eltern bleibt jedoch weiterhin hoch relevant. Feinfühligkeit bedeutet also sensitiv im Hintergrund die Entwicklung des Kindes zu verfolgen und dort altersgerechte flankierende Unterstützung zu bieten, wo dies erforderlich erscheint, weil das Kind sich nicht selbst beruhigen kann oder Zuwendung und emotionale Unterstützung braucht.