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3.6 Menschenbilder aus heilpädagogischer und lerntherapeutischer Sicht

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Im Mittelpunkt der Geschichte der Heilpädagogik stehen Scheitern und Neuanfang in der Erziehung. Heilpädagogik begibt sich auf die Suche nach neuen Wegen in der Erziehung, wenn Erziehungs- und Lernprozesse nicht in Gang kommen, ins Stocken geraten oder vorzeitig abbrechen (vgl. Bundschuh, 2010, S. 19–32).

Es geht primär um eine – neue – heilpädagogische Sinnorientierung (Palfi-Springer, 2019) von Kindern und Jugendlichen, die in vor-, ausser- und nachschulischen Handlungsfeldern aufgrund von Erziehungsfehlern sowie institutionellem Zwang und Druck in Not geraten sind.

Unter Berücksichtigung der Bedeutung und der Geschichte des Begriffs Heilpädagogik geht es um ein behutsames erzieherisches Beeinflussen des Kindes in seiner somatopsychischen Ganzheit mit all seinen Schwierigkeiten auf der Basis guter zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Anbahnen, Entwickeln und Vertiefen des erzieherischen Verhältnisses und seine Realisierung in der dialogisch-helfenden Beziehungsgestaltung wird bedeutsam (vgl. Kobi, 2010). Im Kontext Lerntherapie handelt es sich um eine Erziehung, die auf der Basis von Fachkompetenz etwas Zusätzliches in quantitativer und qualitativer Hinsicht bedeutet. Darüber hinaus zeichnet lerntherapeutisch Tätige eine innere Haltung aus, die ihr Tun und Denken trägt, gerade dann, wenn sich nicht gleich Lösungen finden oder Erfolge einstellen. Der Begriff «Heilpädagogik» wird hier verwendet im Sinne von «kinderorientierter Pädagogik». Dazu gehört ein Menschenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Einzigartigkeit akzeptiert, achtet und ernst nimmt, eine pädagogisch-philosophische Orientierung, die ausgehend von den jeweils individuellen Möglichkeiten sowie konkreten Lebensbedingungen des Kindes auch die ureigenen Möglichkeiten wie Emotionen, Ressourcen und Kompetenzen unterstützt sowie fördert – und nicht primär das Anpassungsverhalten (vgl. Bundschuh, 2008, S. 49–55; Bundschuh, 2019a, S. 81–86). Es geht dabei keinesfalls um die Erziehung nach einem Menschenbild, wie es zum Beispiel Religionen, staatliche Systeme, vielleicht auch manche Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien vermitteln. Es gibt für die Einzigartigkeit eines Kindes kein Vorbild oder gar Muster. Eine Erzieherin oder ein Erzieher, die oder der ein Kind nach einem bestimmten Menschenbild erzieht, missbraucht an sich ihre oder seine «Vollmacht» zu erziehen (vgl. Möckel, 2019, S. 101). Urs Haeberlin hebt die «Gefahren von nicht-bewussten Menschenbildern» (1994, S. 18ff.) hervor und skizziert diese anhand von Beispielen im Kontext «Alltagstheorien».

Kein Zweifel, wir machen uns ein Bild von Menschen und von Menschengruppen, aber wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, welches allgemeine Menschenbild wir haben, und welches Bild von diesem oder jenem Kind mit Lern- und Verhaltensproblemen. Ein Menschenbild bildet auch die Grundlage unseres Tuns und Erkennens, aber wir müssen sehen, dass im Alltag ein Bild von einem Kind mit einer Behinderung, einer Lernproblematik, einem Kind, das vielleicht unter behindernden sozialen und materiellen Bedingungen aufgewachsen ist und von seinen Lehrerinnen und Lehrern als «lerngestört» oder «verhaltensgestört» bezeichnet wird, viele Aspekte von Vorurteilen aufweisen kann. Ein Menschenbild kann auch relativ leicht zur «Schuldigsprechung» führen in dem Sinne: «Wenn ein Kind eben nicht richtig – lernen – will, dann ist es selbst schuld.» Auch der oder die im Arbeitsfeld Lerntherapie Arbeitende unterliegt der Gefahr, dass er oder sie durch Theorien oder durch Meinungen anderer Personen, etwa eine rein traditionell medizinische Sichtweise (vgl. Bundschuh, 2019a, S. 47–51) auch durch Geschriebenes wie zum Beispiel Schülerakte und Gutachten zu Meinungen kommt, die anthropologisch betrachtet nicht haltbar sind. Ein kritisches und gut reflektiertes, gleichzeitig für zukünftige Entwicklungen offenes Menschenbild ist notwendig.

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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