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2.3 Die Bedeutung der elterlichen Feinfühligkeit

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Die Feinfühligkeit (resp. Sensitivität[18]) der primären Bezugspersonen ist eine Schlüsselvariable im Verständnis von Bindungserfahrungen und ihren Folgen für die Kindesentwicklung. Das Feinfühligkeitskonzept gründet hauptsächlich auf den frühen Untersuchungen von Mary Ainsworth (1977), die Feinfühligkeit als die Fähigkeit von Betreuungspersonen definierte, die Bedürfnislage des Kindes einfühlsam zu lesen und adäquat zu beantworten. Hierbei sind 4 Merkmale von besonderer Bedeutung:

Wahrnehmung: Die Bezugsperson ist hinreichend zugänglich und aufmerksam gegenüber den kindlichen Signalen und nimmt auch subtile und nonverbale Äusserungen wahr.

Interpretation: Die Bezugsperson erkennt, was der Säugling braucht. Die adäquate Interpretation bedingt eine störungsfreie Wahrnehmung und Einfühlungsvermögen.

Promptheit: Die Bezugsperson reagiert unverzüglich innerhalb eines Zeitfensters, in welchem für das Kind ein Zusammenhang mit seiner Regung wahrnehmbar ist. Gemäss Experimentalstudien mit wenige Monate alten Säuglingen sollte das Reiz-Reaktions-Intervall innerhalb von etwa 5 bis 8 Sekunden liegen, damit es vom Säugling als kontingent wahrgenommen wird. Aber je älter das Kind wird, umso länger kann das Intervall dauern.

Angemessenheit: Die Bezugsperson stillt die kindlichen Bedürfnisse adäquat, je nach Zuwendungsbedürfnis des Kindes (z.B. Schutz und Trost bei Angst und Erschrecken, Anregung bei Langeweile etc.). Die angemessene Reaktion kann das Kind effektiv beruhigen oder regulieren, sie ist strukturiert und vollständig (Bindungsverhalten des Kindes ist wirksam).

Die Qualität der elterlichen Feinfühligkeit gilt wissenschaftlich als stärkster bekannter Vorhersagefaktor für die Entwicklung eines sicheren Bindungsmusters beim Kind (vgl. Tab. 1; Grossmann & Grossmann, 2003). Feinfühlige Bezugspersonen haben Kleinkinder, welche ihre Bedürfnisse häufiger durch ruhiges Wimmern signalisieren als mit lautem Schreien und Weinen. Indem sich diese Kinder leichter beruhigen lassen, sind auch meist die Eltern-Kind-Interaktionen stressfreier. Im Kindergarten und in der Schule sind Kinder von feinfühligen Eltern weniger aggressiv, bei den Gleichaltrigen beliebter, weisen bessere sozial-emotionale Kompetenzen (z.B. Kommunikationsfähigkeiten, Emotionsregulation) sowie einen höheren Selbstwert auf. In der Adoleszenz verfügen sie über ein positiveres Selbstkonzept, bessere Emotionsregulationsstrategien und stabilere Freundschaftsbeziehungen. Im Erwachsenenalter ist ihre eigene Feinfühligkeit gegenüber ihren Kindern ausgeprägter, was sich wiederum positiv auf die Bindungsqualität der nächsten Generation auswirkt (Bodenmann, 2016a).

Neben der elterlichen Feinfühligkeit spielen jedoch auch andere Einflussfaktoren eine Rolle in der Bindungsentwicklung. Seitens des Kindes hat sich das kindliche Temperament im Säuglingsalter als besonders relevant herausgestellt. Mehrere Studien fanden, dass Neugeborene mit ungünstigem Temperament (hohe Irritier- und Reizbarkeit, geringe Anpassungsfähigkeit in neuartigen Situationen) mit höherer Wahrscheinlichkeit später eine unsichere Bindung ausbilden (vgl. Spangler & Zimmermann, 2019). Neuere Erkenntnisse aus Studien, die die elterliche Feinfühligkeit zusammen mit der genetischen Disposition für psychische Störungen bei Kleinkindern untersuchten, deuten darauf hin, dass die feinfühlige Fürsorge das genetische Risiko puffern kann (vgl. Zimmermann, Mohr & Spangler, 2009). Dies bedeutet, dass Kinder mit einer angeborenen Risikokonstellation für kindliche Störungen (z.B. Vorliegen einer genetischen Vulnerabilität für Depressionen oder ADHS) nicht häufiger emotionale oder Verhaltensprobleme entwickeln, wenn sie im frühen Kindesalter konsistent sensitives Fürsorgeverhalten erfahren.

Zusammengefasst werden in einer modernen, integrativen Sichtweise individuelle Eigenschaften der Bezugsperson und des Kindes, deren Passung sowie Sozialisationsfaktoren in einem wechselseitigen Verständnis berücksichtigt. Die Kombination und Interaktion dieser Faktoren bestimmen, wie günstig typische Alltagsinteraktionen zwischen Kind und Bezugsperson ablaufen und wie sich infolge die Eltern-Kind-Bindung über die Zeit formiert.

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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