Читать книгу Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book) - Ueli Kraft - Страница 28
2.4 Ausbildung von kindlichen Bindungsmustern und inneren Arbeitsmodellen
ОглавлениеEmpirische Befunde zeigen, dass Bezugspersonen von sicher gebundenen Kleinkindern (Typ B) hohe Feinfühligkeit aufweisen, Bezugspersonen von Kindern des unsicher-vermeidenden Bindungsmusters (Typ A) weniger einfühlsam auf das Kind reagieren oder ihm weniger Sicherheit vermitteln und Bezugspersonen von Kindern mit unsicher-ambivalenter Bindung (Typ C) in ihrer Feinfühligkeit von der Passung her inkonsistent und vigilant für Probleme des Kindes sind. Tabelle 1 veranschaulicht die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Bindungsmuster im Kleinkindesalter sowie das zugehörige typische Fürsorgeverhalten der primären Bezugsperson.
Individuen entwickeln auf der Grundlage von wiederholt erfahrenen, typischen Interaktionsmustern mit ihren primären Bezugspersonen in der frühen Kindheit später innere Arbeitsmodelle. Darin werden frühe Bindungserfahrungen gespeichert, verinnerlicht und in ein Gesamtbild integriert (Bowlby, 2006). Es handelt sich um die interne Repräsentation von Bindung, die Menschen in Abhängigkeit ihrer Lern- und Beziehungsgeschichte und auf der Basis gleichförmiger Bindungserfahrungen entwickeln. Innere Arbeitsmodelle bilden gleichsam das Entwicklungsfundament für Urteile und Erwartungen bezüglich der eigenen Wichtigkeit für andere (Selbstwert), der eigenen Kontrollierbarkeit der Umwelt (Selbstwirksamkeit) sowie bezüglich der Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit von künftigen sozialen Interaktionspartnern. Die inneren Arbeitsmodelle enthalten sowohl kognitive Komponenten (Erfahrung der eigenen Einflussnahme auf die Umwelt) als auch emotionale Aspekte (Erfahrung von Geborgenheit, Sicherheit und Geliebtsein) und steuern das menschliche Verhalten auf der Basis dieser internen Konzepte.
Typisches Fürsorgeverhalten der primären Bezugsperson | Typisches Bindungsverhalten des Kleinkindes in Stresssituationen | Innere Arbeitsmodelle | |
Sicheres Bindungsmuster (Typ B) | Die Bezugsperson nimmt die kindlichen Bindungsbedürfnisse einfühlsam wahr, interpretiert sie adäquat und reagiert angemessen und prompt. | Das Kind zeigt durch die Belastung kurzfristige Irritation, kann jedoch seine Bindungsbedürfnisse gezielt an die soziale Umwelt richten und ist leicht zu beruhigen. | Das Kind besitzt die Zuversicht, dass seine Bezugsperson in stressreichen oder bedrohlichen Situationen verfügbar und verlässlich ist. Es lernt, dass auf seine Bedürfnisse konsistent reagiert wird. |
Unsicher-vermeidendes Bindungsmuster (Typ A) | Die Bezugsperson zeigt konstant unzureichende emotionale Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit gegenüber dem emotional belasteten Kind. | Das Kind lernt, in Stresssituationen nicht die Nähe der Bezugsperson aufzusuchen, ist abweisend und distanziert. | Das Kind erwartet Zurückweisung; Vertrauen auf Unterstützung in Stresssituationen fehlt. |
Unsicher-ambivalentes Bindungsmuster (Typ C) | Die Bezugsperson zeigt konstant unzureichende Konsistenz im Fürsorgeverhalten und hohe Aufmerksamkeit für negative Äusserungen des Kindes. | Weil das Kind verinnerlicht, dass Bezugspersonen manchmal verfügbar sind und manchmal nicht, zeigt es anklammerndes und gleichzeitig abweisendes (ambivalentes) Verhalten gegenüber der Bezugsperson. Das Bindungsverhalten ist maximiert. | Das Kind ist unsicher, ob die Bezugsperson in Stresssituationen verfügbar ist. |
Desorganisiert-desorientiertes Bindungsmuster (Typ D) | Kinder mit diesem Bindungsmuster stammen oft aus Risikofamilien, etwa von Hochkonflikteltern oder mit Erfahrung von frühkindlicher Misshandlung oder Missbrauch durch relevante Bezugspersonen. | Das aktivierte Bindungssystem des Kindes zeigt sich häufig in bizarren und unerwarteten Verhaltensweisen (z.B. Verhaltensstereotypien, widersprüchliche Bewegungsmuster, dissoziationsähnliches Erstarren, Zusammenbruch der normalen Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien). | Das Kind wird von der Bezugsperson stark verunsichert und ist nicht in der Lage, eine klare (organisierte) Bindungsstrategie zu entwickeln. |
Tabelle 1: Klassifikation der kindlichen Bindungsmuster und inneren Arbeitsmodelle (in Anlehnung an Zemp & Bodenmann, 2017)
Die unsicheren Bindungsmuster A und C zählen mit dem sicheren Bindungsmuster (Typ B) zu den organisierten Bindungsmustern, gehören demzufolge ins adaptive Spektrum von Bindungsqualitäten und sind keine Störungen. Klinisch betrachtet sind die unsicheren Bindungsmuster aber prognostisch relevant, weil sie über die Lebensspanne (bei ähnlichen Milieubedingungen) mittelfristig relativ stabil sind und daher auch das Risiko für eine spätere Störungsentwicklung erhöhen können. Die Bindungsdesorganisation (Typ D) gehört ebenfalls nicht zu den Bindungsstörungen im engeren Sinne, wird aber entwicklungspsychopathologisch als sehr prädiktiv für die Entwicklung von psychischen Störungen angesehen. Jedoch zeigt der aktuelle Kenntnisstand, dass der Bindungstyp respektive die inneren Arbeitsmodelle nicht unveränderbar sind über die Lebensspanne. Es gibt zunehmend wissenschaftliche Befunde, dass sich Bindungsmuster durch die Internalisierung gesunder, «korrektiver» Beziehungserfahrungen mit alternativen Bezugspersonen (z.B. Partnerinnen und Partnern in Liebesbeziehungen, Therapeutinnen und Therapeuten, Lehrpersonen) über eine längere Zeit neu gestalten können.