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2.6 Sichere Bindungserfahrungen und kindliches Explorieren und Lernen

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Sichere Bindungserfahrungen mit den Eltern und anderen primären Bezugspersonen gehören zu den bedeutendsten Determinanten der psychischen Gesundheit und zu den wichtigsten Schutzfaktoren gegen verschiedene psychische Störungen bis ins Erwachsenenalter. Dahingegen hängen unsichere Bindungsmuster im Kindes- und Jugendalter mit einem erhöhten Risiko für externalisierende Verhaltensprobleme (z.B. aggressives Verhalten, Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch) oder internalisierende Störungen (z.B. depressive Störungen, Angst- und Essstörungen) zusammen (Bodenmann, 2016a). Ausserdem belegen zahlreiche Studien, dass Bindungserfahrungen auch Auswirkungen auf das kindliche Leistungs- und Lernverhalten haben. Beispielsweise weisen sicher gebundene Kinder eine höhere Leistungsmotivation und bessere Schulleistungen auf als Kinder mit unsicherem Bindungsmuster (vgl. Moss & St-Laurent, 2001). Studien mit rumänischen Adoptivkindern zeigten, dass das Aufwachsen in Heimen zu starken Entwicklungsdefiziten führte, wenn sie einer globalen Deprivation (geringe emotionale Wärme, unzureichende Anregung und Stimulierung aus der Umwelt) ausgesetzt waren (Rutter, 1998). Eine förderliche familiäre Umgebung nach dem Heimaufenthalt (Adoption in eine feinfühlige Adoptivfamilie) konnte die negativen Effekte in den meisten Fällen puffern. Dabei stellte sich heraus, dass eine frühe Adoption (< 6 Monate) günstigere Entwicklungsverläufe vorhersagte. Die Folgen für die psychische und kognitive Entwicklung waren demnach umso stärker, je länger die Kinder den Deprivationserfahrungen ausgesetzt waren.

Neurowissenschaftlich relevant ist, dass die kindliche Hirnentwicklung in den ersten Lebensjahren besonders rasant fortschreitet: In den ersten 3 Lebensjahren verdreifacht sich das Gewicht des Gehirns (Jäncke, 2017). Das bedeutet, dass die Hirnentwicklung in dieser Zeit Einflüssen aus der Umwelt besonders ausgesetzt ist – sich also vorrangig erfahrungsabhängig vollzieht – und deshalb Früherfahrung einen Einfluss darauf haben muss, wie das Gehirn später funktioniert. Aus diesem Grund stellen frühe Bindungserfahrungen wichtige Weichen für die kognitive Entwicklung des Kindes. Durch die feinfühlige Interaktion mit den primären Bezugspersonen werden wichtige Hirnareale (primäre und sekundäre Sinnes- und Bewegungszentren, limbisches System und Regionen im präfrontalen Cortex) trainiert und das Gehirn wird stärker vernetzt (Braun & Helmke, 2008). Damit schafft hohe elterliche Feinfühligkeit gerade in dieser frühen Phase das Grundgerüst für spätere (schulische) Leistungen, das Lernverhalten und soziale Interaktionsfähigkeiten des Kindes. Die normgerechte kindliche Entwicklung braucht hinreichend Anregung, emotionale Zuwendung und angemessenen «Input» für die biologische Programmierung der neuronalen Strukturen.

Bindungstheoretisch können diese Befunde damit erklärt werden, dass die frühkindliche Bindung zur Bezugsperson als sichere Basis fungiert, von der aus das Kind seine Umwelt erkundet. In der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres beginnt das Kleinkind, sich vermehrt allein fortzubewegen und seine Umwelt in grösserem Umfang zu explorieren. Das Kind kann durch Entwicklungsfortschritte in seiner Mobilität aktiver und selbstständiger die Distanz zur Bezugsperson regulieren und macht kleine Exkurse innerhalb sicherer Entfernung. Dabei sucht es insbesondere in neuen, unbekannten Situationen die Nähe zur Bezugsperson auf, um nach Hinweisen für Ermutigung respektive Rückzug zu suchen. Das Kind vergewissert sich stets, wo die Bezugsperson ist, und mit der Zeit genügt ein Blickkontakt zur Beruhigung des Kindes (sog. soziales Referenzieren). Die Bezugsperson ist die Sicherheitsbasis für die Erkundung der Umgebung und der «sichere Hafen», in den es nach Momenten des Explorierens zurückkommen kann, um sich emotional wieder zu stärken.

Das Kleinkind entwickelt das Explorationsverhalten als eine dem Bindungsverhalten gegenläufige Grundkomponente der menschlichen Natur (siehe Abb. 1). Das heisst, dass Bindung und Exploration manchmal in unvereinbarem Konflikt stehen (Sicherheitsbedürfnis versus Neigung, die Umwelt zu erkunden; Nähe versus Distanz zur Bezugsperson). Gleichzeitig sind sie voneinander abhängig, weil gesunde Autonomieerfahrungen nur möglich sind, wenn es für das Kind einen sicheren Rückzugsort gibt, von dem aus es sich in der Welt orientieren kann. Wenn die kindlichen Bindungsbedürfnisse von den primären Bezugspersonen feinfühlig befriedigt werden, kann das Kleinkind seiner angeborenen Tendenz zur Exploration der Umwelt in gesundem Masse nachgehen (Grossmann & Grossmann, 2003).

Abbildung 1:

Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten

Die gesunde Entwicklung erfordert ein Gleichgewicht in beiden Bereichen, einen ständigen Balanceakt zwischen dem Bindungs- und dem Explorationsbedürfnis. Bei aktiviertem Bindungssystem gerät die Waage aus dem Gleichgewicht, da das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit mehr Priorität erhält als das Erkundungsbedürfnis. Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster aktivieren in Stresssituationen typischerweise das Explorationsverhalten auf Kosten des Bindungsverhaltens (Minimierung des Bindungssystems: abweisend-distanziertes Verhalten, eingeschränkter Blickkontakt, sachliche Beschäftigung). Bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern erhält das Bindungsverhalten in Stresssituationen typischerweise gegenüber dem Explorationsverhalten mehr Gewicht (Maximierung des Bindungssystems: übermässig anhängliches und anklammerndes Verhalten und gleichzeitig wegdrückendes, ängstliches und kontrollierendes Verhalten) (vgl. Tab. 1).

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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