Читать книгу Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book) - Ueli Kraft - Страница 22
1.5 Bilanz
ОглавлениеDie Lerntherapie ist an deutschen Hochschulen entstanden. Das Team Rollett und Bartram bewegte sich während der 70er-Jahre im Dreieck Kassel, Osnabrück und Bochum. Die früheste belegbare Erwähnung des Begriffs Lerntherapie von Rollett und Bartram datiert aus dem Jahr 1972. Das zweite Team von Betz und Breuninger scheint zwischen Essen und München unterwegs gewesen zu sein. Ihre erste Publikation mit der Nennung des Begriffs Lerntherapie stammt von 1987, inhaltliche Vorprojekte datieren aber bereits Mitte der 70er-Jahre. Beide Langzeitprojekte verfolgen letztlich sehr Ähnliches, kommen ansatzweise zu vergleichbaren Vorgehensweisen und beide haben aufwendige Begleitforschung betrieben. Es besteht aber Grund zur Annahme, dass die beiden Teams einander wissenschaftlich schlicht nicht zur Kenntnis genommen haben – jedenfalls finden sich in den Literaturverzeichnissen beider Teams keine Hinweise auf das jeweils andere. Falls sich dieser Eindruck bestätigen sollte, wäre dies zumindest ‹eigenthümlich›.
Dies gilt natürlich auch für Armin Metzger. Wie er – um 1990 herum – zum Begriff Lerntherapie fand, lässt sich aus der Quellenlage nicht erschliessen. Man könnte seinen psychotherapeutischen Zugang in Sukzession der frühen psychoanalytischen Pioniere der Erziehungsberatung sehen – von ihm selbst wahrscheinlich unbewusst und sicher unbeabsichtigt, auch wenn er 1990 einige Autoren zwar anführt, in späteren Publikationen aber keine Bezüge mehr herstellt. Betz und Breuninger (1987) erwähnt er 2008 und 2014 – in je einem kurzen Hinweis, ohne inhaltlich auf ihre Konzeption einzugehen.
Wie auch immer – möglicherweise wurde dieses spezielle Rad von verschiedenen Pionieren individuell und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten erfunden. Dies ändert nichts daran, dass die Lerntherapie auf circa 50 Jahre gemeinsame Geschichte zurückblicken könnte – zusammen mit den informellen Vorläufern ‹avant la lettre› auf ziemlich genau 100 –, wenn denn die Unterschiede nicht zur Abschottung, sondern zu Austausch und Anregung verwendet worden wären. Die Begründungen dieser Unterschiede dürften auf die historisch, gesellschaftlich und schulpolitisch verschiedenen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung ebenso bezogen sein wie auf die individuell verschiedenen Curricula der Forschenden selbst. Verschiedene Zugänge zu gesellschaftlich relevanten Forschungsfragen haben vieles für sich und bereichern den wissenschaftlichen Diskurs – solange dieser nicht Fragestellungen schlicht liegen lässt, die nach wie vor einer Lösung harren. Das Beispiel eines Zugangs zur Lerntherapie auch für diejenigen, die eine solche zwar am nötigsten hätten, deren Eltern sich dies ökonomisch aber schlicht nicht leisten können, soll genügen. Es verknüpft sich allerdings nicht nur mit Überlegungen zur Ausgestaltung der Bildungsinstitutionen – sondern auch mit der Frage, ob die früheren Experimente mit Formen der Lerntherapie, die streckenweise in Kleingruppen gearbeitet haben, es aus ebendiesen ökonomischen Zwängen nicht verdienen würden, gemeinsam wieder aufgegriffen und weiterentwickelt zu werden.
Lerntherapeutinnen und -therapeuten leben ja nicht auf verschiedenen Inseln[16], sondern im deutschsprachigen Raum Europas, welcher eigentlich sehr gut vernetzt ist. Bei den Recherchen zu einigen historischen Fragmenten zur Geschichte der Lerntherapie habe ich die verschiedenen Denktraditionen, welche sich in die DNA des Fachs eingeschrieben haben, als äusserst anregend erlebt. Die Unterschiede im Fokus des theoretischen und methodischen Zugangs, in der Anbindung an die Schule und in der Ausbildung der lerntherapeutisch Tätigen sind erheblich – ebenso aber auch die Gemeinsamkeiten, welche überall mächtig durchscheinen. Dazu gehören primär eine mehr oder weniger grosse Distanz zu den Gegebenheiten der real-existierenden Pädagogik im Klassenzimmer und ein kompromissloses Eintreten für die Kinder: Schülerinnen und Schüler, welche am absurden Leistungswettbewerb verzweifeln, welche darunter leiden, dass ihnen Lehrende (und Eltern) das versagen, was sie dringendst nötig hätten: emotionale Sicherheit und Zuwendung, kompetente Hilfe und Unterstützung statt Leistungsdruck und Vorwürfe. Kinder brauchen Beziehung und so wunderbar Altmodisches wie in einem Spruch des Mundart-Schriftstellers Albert Bächtold aus dem Schaffhauser Klettgau, in dem ich aufgewachsen bin, beschrieben: «Di Guete gern haa, isch liicht – aber di andere hend’s nötiger.»[17]