Читать книгу Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book) - Ueli Kraft - Страница 16
1.3.4 Zwischenbilanz: Zur Bedeutung der ‹Frühgeschichte› für die heutige Lerntherapie
ОглавлениеDie Beschäftigung mit der Frühgeschichte der Lerntherapie – ‹avant la lettre› – eröffnet einen Zugang zu eindrücklichen Texten, welchen auch aus heutiger Perspektive hohe Relevanz zukommt und deren Lektüre immer noch lohnt. Entstanden aus der Auseinandersetzung mit dem mächtigen Theoriegebäude der Psychoanalyse nehmen die Arbeiten dabei meist eine dezidiert psychologisch-therapeutische Perspektive ein. Die frühen Pioniere dürfen in zwei Hinsichten als Vorläufer lerntherapeutischer Arbeit bezeichnet werden:
Die Erziehungsberatung, auch als offizielle Bezeichnung früher Institutionalisierungen, lässt sich als grosszügig bemessenes Sammelbecken verschiedenster Bemühungen verstehen, Kindern und Jugendlichen, deren Eltern und mitunter auch Lehrpersonen unter die Arme zu greifen. Sich auf die – wie immer geartete – Persönlichkeit der Klienten einzulassen steht im Vordergrund, Schulschwierigkeiten werden als Begleitsymptome zunächst allgemeiner Schwierigkeiten verstanden und nicht als das eigentliche Problem. Lösungen dieser Schwierigkeiten können ohne eine gute Beziehung der Klienten zur Person der Beratenden kaum gefunden werden. Methodisch stehen Beobachtungen und Gespräche im Vordergrund. Testdiagnostische Verfahren und strukturierte Anamnese-Instrumente werden – wenn überhaupt – erst eingesetzt, wenn die Beziehung der Klienten zur beratenden Person belastbar geworden ist und erzieherische Interventionen überhaupt greifen können. Dies bedeutet, dass sich diese Hilfestellungen – oft bei Klienten und deren Eltern – über längere Zeiträume erstrecken müssen, um die Probleme nachhaltig und in Kooperation lösen zu können.
Bei allen Unterschieden des psychologisch-therapeutischen Vorgehens – vor allem in der Tiefe des Zugangs – arbeiten die Berater durchaus auch lerntherapeutisch im heutigen Sinn: «On fait c’qu’on peut avec c’qu’on a»[5], je nach dem therapeutischen Rucksack, welchen die beratende Person dabei hat. In verschiedensten Arbeiten wird allerdings explizit betont, dass sich eine psychoanalytisch-pädagogische Beratung von einer Kinderanalyse unterscheidet, und dass noch so engagierte Lektüre psychoanalytischer Texte ohne eigene Analyse dazu nicht befähigen. Immerhin auffällig: die Psychoanalyse scheint in diesen frühen Jahren für viele pädagogisch Tätige so attraktiv gewesen zu sein, dass sie sich einer vollen psychoanalytischen Ausbildung unterzogen haben. Wo wir heutige Lerntherapien sozusagen aus einer Hand anbieten und Überweisungen primär bei sehr schwierigen Fällen oder dem Verdacht auf psychische Erkrankungen vornehmen, sind diese Abgrenzungsprobleme nach wie vor dieselben. So schwer dies sprachlich zu fassen ist – so kreativ die gefundenen Wortschöpfungen (vgl. 2.2.3): Kleinanalysen (Zulliger); analytisch orientierte Pädagogik (Pfister und Zulliger); Arbeit nach analytischen Gesichtspunkten; Erziehung, welche sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze macht (Kuendig); Arbeit ohne Anwendung psychologischer Kunststücke (Aichorn). Freud selbst, als Befürworter der Laienanalyse[6] (nach voller analytischer Ausbildung) spielt mit den Begriffen «pädagogische Analytiker» oder «analytische Pädagogen» (1926, S. 122), betont aber, dass pädagogische Arbeit «nicht mit psychoanalytischer Beeinflussung verwechselt und nicht durch sie ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes kann von der Erziehung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten» (1925, S. 4–5).
Zusammenfassend können wir diese therapeutische Grundhaltung als einen Weg sehen, welcher pädagogisch Tätigen erstens das Verständnis für Kinder und Jugendliche vertieft und zweitens das Repertoire ihres erzieherisch-pädagogischen Handelns erweitert. Sie ist keinesfalls mit Psychotherapie oder Kinderanalyse gleichzusetzen. Die beigezogenen Arbeiten dokumentieren ein hohes Bewusstsein für die Gratwanderungen zwischen Pädagogik und Psychologie. Diese für die Erziehungsberatung damals offenbar zentrale Frage ist auch in der heutigen Lerntherapie von hoher Relevanz.