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DAS NORDKOREA NORDDEUTSCHLANDS
ОглавлениеNorddeutschland teilt sich vornehmlich in zwei Regionen auf, die ungefähr so unterschiedlich sind wie Nord- und Südkorea. Der Unterschied zwischen den beiden Koreas und den beiden Norddeutschlands liegt vor allem darin, dass sich durch letztere keine schwer bewachte Grenzanlage zieht. Na gut, das Klima ist noch ein wenig anders, die Landschaft unterscheidet sich auch komplett, Norddeutsche essen nicht mit Stäbchen, drohen nicht mit dem Atomkrieg … und noch ein paar andere Nebensächlichkeiten. Trotzdem können Marsch und Geest nicht unterschiedlicher sein als Nord- und Südkorea.
Die Marsch ist das flache Land, das nur knapp über dem Meeresspiegel an den westlichen Küsten und in den Ebenen der großen Flüsse, die in die Nordsee münden, liegt. Plattes Land eben, das einen sehr fruchtbaren Boden aufweist. Den mögen Pflanzen deshalb so gern, weil er gerade erst – wir reden hier erdgeschichtlich, meinen also »nur« ein paar Tausend Jahre – aus Meeresboden entstanden ist und noch voller Muschelkalk, organischen Resten und anderem Düngerkram steckt. »Man braucht da nur den Daumen reinzustecken und schon wächst was!«, sagen die Marschbauern stolz. Gefahren durch Winterfröste gibt es kaum, da die Gegend dauerhaft durch das nahe, vom Golfstrom aufgeheizte Meer warm gehalten wird. Dafür kommt im Sommer von der See immer ein kühlender Wind und genügend Regen. Der einzige Wermutstropfen – neben zu viel Regen – ist, dass das Land durch Deiche vor Sturmfluten geschützt werden muss, was ziemlich hohe Kosten verursacht. Aber gut, die Sache lohnt sich, weil hier enorm hohe Ernteerträge sicher sind. Entsprechend sind Marschbewohner immer schon recht begütert gewesen und konnten sich daher einen eigenen Kopf leisten. So hatten die Dithmarscher bis ins 16. Jahrhundert eine Art Bauernrepublik ohne fremde Herrscher. Die Vierländer fügten im 19. Jahrhundert ihrer traditionellen Kniebundhosentracht als Kopfbedeckung standesstolz einen eleganten Zylinder hinzu, wie er sonst nur den feinen Städtern vorbehalten war. Ungefähr zur gleichen Zeit kam auch die Mode auf, vor die Eingänge der alten Reetdachhäuser in der Marsch pompöse griechische Säulen zu stellen, um zu zeigen, dass man durchaus weltoffen, an neuster Mode interessiert, kein simpler Bauer und vor allem: solvent war. Aus heutiger Sicht mag das etwas neureich wirken; aber nur wer in diesem Augenblick gerade nicht neidisch auf den Porsche des Nachbarn schielt, werfe den ersten Stein! Trotzdem muss man konstatieren, dass die Landwirte der Marsch ziemlich borniert waren; bis ins 20. Jahrhundert hinein galt es als unschicklich, beim Liebesspiel »Bauer sucht Frau« bzw. »Landwirtstochter sucht Gatten« einen zukünftigen Lebenspartner aus der Geest zu suchen. Geest geht für einen Marschländer nämlich gar nicht. Allein schon der Name! Der kommt vom plattdeutschen Wort »gest«, was »trocken« und »unfruchtbar« bedeutet – und aus Tiefländersicht ist die Geest tatsächlich so. Hier ist der Boden sandiger, nicht besonders nährstoffreich. Zudem fließt das Regenwasser durch den Sand schnell ab und das Grün verdurstet bereits nach kurzen Trockenperioden. Erfolgreicher Ackerbau ist nur begrenzt möglich – weshalb die Geestbauern immer als die armen Verwandten betrachtet wurden, die man bloß nicht heiraten sollte. Wie eben auch niemanden aus Nordkorea – denn das ist ja auch bitterarm. Damit schlossen die Märschler freilich einen großen Teil der Norddeutschen als potenzielle Geschlechtsgenossen aus. Weite Teile Niedersachsens und Mecklenburg-Vorpommerns sowie große Regionen Schleswig-Holsteins gehören nämlich zur Geest.
Dabei hat diese Landschaft, die durch die Gletscher der Eiszeit ausgeformt wurde, durchaus auch ihre Vorteile, liegt sie doch im Schnitt ein paar Meter höher als die Marsch und ist damit vor etwaigen Fluten geschützt. Aus diesem Grund siedelten sich die ersten Norddeutschen auch hier an, nicht in den Feuchtgebieten der Marsch. Bereits vor rund 5000 Jahren – die ersten Marscheroberer waren gerade einmal ein paar Meter vom Geestrand weggekommen und steckten damit schon im matschigen Boden fest – wurden hier Großsteingräber aus gigantischen Findlingen errichtet; rund 900 dieser Zeugen einer ersten Nordkultur kann man noch heute besuchen. Die Bauwerke, die in den Jahrtausenden danach entstanden, beweisen, dass man auch in der Geest durchaus dauerhaft überleben kann.
Heute ist es eh relativ egal, ob man nun in der Marsch oder Geest seinen Hof hat: Dank der modernen Landwirtschaft ist der norddeutsche Ackerboden überall fast gleich fruchtbar. Und in den Dörfern und Städten herrschen überall die gleichen Moden der Globalisierung. Wie überall auf der Welt – bis auf Nordkorea.
Der Vollständigkeit halber seien hier noch die zwei anderen norddeutschen Landschaftsformen, die wir bisher ausgelassen haben, wenigstens erwähnt: In Schleswig-Holstein gibt es noch die wunderbare Kombination aus Marsch und Geest, die Endmoränenlandschaft. Aufgetürmt von den eiszeitlichen Gletscherfüßen findet sich hier hügeliges Ackerland mit gutem Boden, das hoch genug liegt, um von Meeresfluten nicht gefährdet zu sein. Und dann sind da noch die Mittelgebirge im südlichen Niedersachsen – aber das ist nun wieder eine ganz andere Geschichte, die schon nicht mehr so ganz norddeutsch ist …