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DIE HOCHGEBIRGE DER FLACHLÄNDER
ОглавлениеLieblich liegt das Vorland da: In saftigem Grün erstrahlen die Wiesen und Weiden, glückliche Kühe weiden fleißig das üppige Gras in der Morgendämmerung, um uns alsbald ihre köstliche Milch zu schenken. Ein Idyll des Friedens. Der Wandersmann möchte verweilen – doch es drängt ihn weiter, zu Höherem, zu den Gipfeln. Dort, unter den Strahlen der gerade aufgehenden Sonne, ragen sie majestätisch empor. Nur wer sie jemals selbst bezwungen hat, weiß, welches Gefühl der Freiheit und Unendlichkeit den mutigen Bergsteiger dort oben erwartet. Doch zuvor gilt es, einige Strapazen zu erdulden. Ein wenig stockt der Mut des Wanderers, wenn er am Fuße der Giganten angelangt ist: Demütig schaut er hinauf zu ihrer Spitze, wissend, dass es nicht ganz ungefährlich ist, sie zu erklimmen. Vorsichtig wird das kleine Türchen im Zaun geöffnet, das Schafe und anderes Berggetier in seinen luftigen Reservaten hält. Vorsichtig werden nun die Schritte auf dem schmalen Pfad gesetzt – bergauf, immer weiter bergauf! Mühsam ist das Erklimmen des steilen Weges, bald schon wird die Luft dünner. Eine Rast ist nötig auf halber Höhe. Doch welch ein Blick über das weite Land wird einem hier bereits geboten, wie klein wirken die Welt und alle ihre Sorgen bereits von hier! Wie mag es erst sein, wenn der Gipfel erklommen ist? Weiter also, hinauf! Das Ziel rückt näher und näher. Endlich – die Kräfte sind fast vollkommen aufgezehrt – die letzten Meter. Der Himmel jenseits der Kuppe ist zum Greifen nahe, drei Schritte noch, zwei, einer … jetzt! Die Titanentat ist vollbracht! Der Held steht glücklich in luftigen Höhen, weit über den profanen Dingen da unten. Vor ihm erstreckt sich das blaue Meer in die Unendlichkeit (je nach Tidenkalender kann es allerdings auch die endlose Schlammwüste des Watts sein …).
Hinter dem Wagemutigen die norddeutsche Tiefebene, Grasland bis zum Horizont. Es mag einen schwindeln bei dieser Perspektive, die sonst nur dem Vogel zuteilwird. Doch der Triumph, hierher, auf den höchsten Erdenpunkt in einem Umkreis von unzähligen Kilometern gekommen zu sein, lässt alles Unwohlsein schnell wieder vergehen: Acht Meter Höhenunterschied sind überwunden.
Das ist hoch, sehr hoch für einen Norddeutschen, der in der Marsch – die sich kaum mehr als einige Zentimeter über den Meeresspiegel erhebt – geboren wurde und zum ersten Mal einen Deich erklimmt. In seiner Wahrnehmung sind selbst die Gipfel des Himalaja nur unwesentlich höher. Doch nicht nur das Wissen um die sportliche Leistung, es so weit nach oben gebracht zu haben, füllt das Herz so eines Deichbesteigers mit Stolz, nein: auch das Wissen darum, dass dieses Nordgebirge allein von Menschenhand erschaffen wurde! Mutige Vorfahren begannen bereits im späten Mittelalter, dem wütenden Meer mit solchen Bollwerken zu trotzen. Denn ohne die Deiche würden die Fluten salzigen Wassers immer wieder den fruchtbaren Boden der Ebene verderben und keines Menschen Leben hier erlauben. De nich will dieken, de mutt wieken – »Wer nicht eindeichen will, der muss weichen« –, so lautet der trutzige Kampfruf der norddeutschen Tiefländer seit Jahrhunderten. Und seit Jahrhunderten werden nach dem System »Versuch und Irrtum« immer festere, breitere und höhere Deiche gebaut. Ein Irrtum war es zum Beispiel, dass die Wälle im 17. Jahrhundert nur drei Meter hoch waren: Einige bösartige Sturmfluten mit so hübschen Namen wie »Mandränke« oder »Weihnachtsflut« schwappten da einfach drüber – und Abertausende mussten ihr Leben lassen. Also wurde aufgestockt. Heute, im Zeitalter des Klimawandels, denkt man sogar schon über zehn Meter hohe Bauwerke nach – obwohl in den letzten 40 Jahren die modernen Achtmeterdämme der Küste allen Fluten standhielten.
Mit einem gewissen Grauen denkt unser Wandersmann auf der Deichkrone daran, welche Mühsal wohl die Besteigung eines Zehnmetergiganten mit sich bringen würde. Aber – ach was! Auch diese Tat wird ihm gelingen! Doch zunächst gilt es, den gefahrvollen Abstieg hin zum wohlverdienten Deichbezwingerbier zu meistern. Nicht auszudenken, wenn man auf einem frischen Schafsköttel ausrutschte und in die Tiefe fiele! Ein munteres Lied hilft da, alle Furcht fahren zu lassen … Also jetzt alle zusammen: Beim Deichesglühen heimwärts wir ziehen / Deichvagabunden sind wir, ja wiiiir …