Читать книгу Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen - Ulrich Chaussy - Страница 10
WIESNBUMMEL München verdrängt, Opfer erinnern
ОглавлениеDer im Frühsommer frei Haus gelieferte Aktenstoß lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Terroranschlag im Jahr 1980 und nebenbei auf das kommende Oktoberfest. Nicht einmal drei Jahre danach fieberte die Stadt darauf zu wie eh und je, und wichtig und aufwühlend waren dabei die gleichen Freuden und Sorgen wie immer. Ab Ende Juli wuchsen die stählernen Gerüste der Bierburgen wieder auf der riesigen, ovalen, baumumstandenen Theresienwiese. Die Zeitungen kündigten den neuesten Nervenkitzel der Saison an, eine künstliche Wildwasserbahn mit Schiffen aus ausgehöhlten Bäumen, die freilich, um das Abenteuer zu begrenzen und den Technischen Überwachungsverein zufriedenzustellen, auf sicheren, unter Wasser montierten Schienen dahingleiten sollten.
Als die Bierzelte, mit Planen bedeckt, allmählich ihre endgültige Form annahmen, sammelten sich am 10. September die entschlossenen Streiter des »Vereins gegen betrügerisches Einschenken« zu einem Stiftungsfest in der Schwabinger Max-Emanuel-Brauerei. Ihr silberbärtiger Vorsitzender Rudi Scheibengraber, ein pensionierter Statistiker, wetterte gegen den Verfall der Schankmoral. »Nur jeder zehnte Krug war auf der Wiesn im vergangenen Jahr bis zum amtlichen Eichstrich gefüllt«, verkündete er. Bei seinen Zuhörern an den Biertischen machte sich grollendes Rechtsbewusstsein breit. »Was auf der Wiesn passiert ist – das ist fortgesetzter Betrug.« Das Maß der Erregung war nach diesen Worten Scheibengrabers so übervoll, dass die Mitglieder des Vereins nun sogleich ernsthafte Anstalten unternahmen, dem auf der kommenden Wiesn erneut drohenden Unrecht entschieden entgegenzutreten. »Wir werden heuer so viele Maßkrüge kontrollieren wie noch nie«, rief er aus, und noch am selben Abend schritten er und seine Vereinsmitglieder zur Tat. Pro Tag und Bierzelt bestimmten sie aus ihrer Mitte je zwei Aufpasser, die den Auftrag hatten, jeden Schankbetrug statistisch und wenn möglich auch noch fotografisch an Ort und Stelle zu notieren.
Drei Tage später, die meisten der 700 Schausteller- und Wirtsbetriebe waren schon aufgebaut und allenfalls noch letzte Vorbereitungsarbeiten im Gang, da traf sich eine weitere, dem Oktoberfest wohlgesinnte Vereinigung. In dieser Runde dachte man weit über die vier Tage hinaus, die München und die Welt noch von der Eröffnung des diesjährigen Oktoberfestes trennten. »Weil«, so stand es in der Süddeutschen Zeitung, »›im atomaren Zeitalter keine Stadt der Welt hundertprozentig gefeit ist‹, hat sich ein ›Freundeskreis Oktoberfest 2000‹ soeben zur Aufgabe gemacht, ›das endgültige Aus für das Oktoberfest‹ zu verhindern. Dies soll unter anderem dadurch erreicht werden, dass die Wiesn als ›schützenswertes Kulturgut nach der Haager Konvention anerkannt wird und die einzelnen Aufbauten mit dem entsprechenden internationalen Symbol gekennzeichnet werden dürfen‹. Daneben wolle man, wie verlautete, eine ›luftschutzsichere Lagerstätte nach dem neuesten technischen Stand erstellen lassen, die ein Mindestkontingent an Ausstattungs- und Aufbaumaterial aufnehmen könne‹, wenn möglich direkt unter der Bavaria. Schließlich macht sich der Kreis in Zusammenarbeit mit den Münchner Brauereien noch für ein ›ständiges, vor Radioaktivität geschütztes Bierdepot‹ stark.«
Tags darauf, am Mittwoch, drei Tage vor dem Fest, starb der einflussreiche und angesehene Münchner Bürger Max Schottenhamel senior. 70 Jahre alt war er und krank; die Geschäfte im gleichnamigen Wiesnbierzelt waren längst an den Sohn übergeben, der Wirt geworden war wie er selbst, der doch auch schon als Sohn eines Wiesnwirtes geboren worden war. Den großen Toten dieser so traditionsreichen Münchner Wiesnwirte-Dynastie zu ehren war seinen Kollegen und Freunden im »Münchner Verkehrsverein-Festring« ein spontanes Bedürfnis, und binnen eines Tages fanden sie eine angemessene Lösung, die sicherstellte, dass eine gewisse Aufmerksamkeit, wenn nicht gar Anteilnahme großer Teile der Bevölkerung für diesen Toten erzielt werden konnte. Man beschloss, den Einzug der etwa 1000 Wiesnwirte, Brauereileute und Bedienungen durch die Straßen der Stadt mit ihren prächtigen Wagen und den geschmückten Rössern für eine stille Gedenkminute aufzuhalten. So geschah es Schlag 11.15 Uhr am Samstag, dem 17. September 1983, eine Dreiviertelstunde bevor der Oberbürgermeister wieder einmal zur Mittagsstunde den Wechsel in das Spundloch des ersten 200-Liter-Banzens trieb und mit den zum Ritual gehörenden Worten der allgemeinen Gaudi ihren Lauf ließ. Ozapft is.
Tag für Tag schwappte von da an mit dem Wind der Geruch gebrannter Mandeln, gebratener Steckerlfische, drangen Blasmusik, Discosound und die spitzen Schreie der Achterbahnfahrer zu meiner Wohnung herüber. Vom Balkon aus konnte ich abends die bunt erleuchteten Buden und Karussells sehen. Unten auf beiden Gehwegen der Pettenkoferstraße strömten die Besucher zielstrebig in Richtung Wiesn. Gegen alle Vorbehalte, die die nüchterne, papierne und traurige Beschäftigung mit den Ermittlungsakten des Attentats noch bekräftigte, verspürte ich einen schamhaft unterdrückten Sog, mich diesen Menschen dort unten anzuschließen und mich mit ihnen in den Trubel zu stürzen.
Am zweiten Wiesnwochenende rief mich mein Bruder an. Unmengen an Bier- und Hendlmarken seien zu verbrauchen, ein hervorragender Platz in der Hausbox eines ihm bekannten Wiesnwirtes sei uns sicher. Ob ich nicht Lust hätte, am Sonntag mitzukommen? – Ein wenig später am Abend gern, sagte ich, vorher ist noch beruflich etwas zu tun. Die Verletzten des Attentats hatten für diesen Sonntag zu einer öffentlichen Versammlung im Künstlerhaus aufgerufen.
Ich kam in eine düstere Versammlung in dem tonnenförmigen, langgestreckten Saal im ersten Stock des Hauses. Vorn auf der erhöhten Bühne saßen die Veranstalter und Berichterstatter des Abends. Eingeladen hatten zwei der Opfer, Renate Martinez, eine korpulente junge Frau, und ein schmächtiger Mann mittleren Alters mit einem faltig zerfurchten Gesicht und grauem Haar. Ignatz Platzer hatte zwei seiner Kinder durch die Bombe verloren, seine Frau und die beiden anderen Kinder wurden schwer, er selbst leicht verletzt. Sie beklagten voll ohnmächtiger Wut die Einstellung der Ermittlungen, die Unfähigkeit, ja den Unwillen der Behörden, die Hintermänner der Tat ausfindig zu machen, die Behinderung ihres Anwaltes, dem die Einsicht in die Ermittlungsakten zunächst monatelang verweigert und endlich nun für teures Geld – eine Mark pro kopierter Aktenseite – genehmigt worden sei. Dann ergriff der Anwalt das Wort. Man müsse Geduld haben, sagte er. Widersprüche zeichneten sich ab in den amtlichen Ermittlungsakten, und die Angaben neuer Zeugen, die sich bei ihm gemeldet hätten, müssten erst noch geprüft werden. Rechtsanwalt Werner Dietrich beschränkte sich auf Andeutungen. Seine Arbeit hatte erst begonnen. Im Parkett war Stille und dann und wann ein wenig zustimmender Beifall. Die politische Gruppe, die diese Veranstaltung der Opfer unterstützte, der »Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD«, hatte an den Seitenwänden des Saales Transparente entrollt: »Die Toten mahnen / Faschisten hinter Gitter / für Hoffmann lebenslänglich«.
Hier rührt sich nichts, hier ist alles klar und zugleich nichts, dachte ich, stand auf und ging, ging an meiner Wohnung vorbei, über den Bavariaring hinüber, zur Einladung ins Festzelt mitten in das lärmende Gedränge des Oktoberfests hinein.
Langsam schob ich mich in Richtung der Hausbox des Wiesnwirtes. Die Frauen in ihren Dirndlkleidern trugen statt Haardutt und Zöpfen die damals aktuellen Lady-Di-Frisuren; an den Handgelenken mancher Männer in der Hirschledernen und mit Ray-Ban-Sonnenbrillen baumelten jetzt ihre Kreditkarten-Handtäschchen, wenn sie auf das Kommando der Kapelle auf die Bänke sprangen und mit engangelegten Oberarmen im Rhythmus der Musik ihre Unterarme wie gestutzte Flügel auf- und abschlugen. Ein wenig Disneyland mischte sich in das archaische Geschunkel und Gestampfe, wenn die Musiker den Ententanz intonierten, und das war auch angebracht, denn der Dollar stand günstig für die amerikanischen Gäste, denen man den Aufenthalt in einer Bierburg, dem Hofbräuzelt, sogar mit stündlichen, von der Kapelle angefeuerten »Bier-Robic-Übungen« schmackhaft machte.
Endlich war ich an der direkt neben der Zeltküche gelegenen Hausbox des Wirtes angelangt. Sie befand sich nahe der Außenwand des Bierzeltes, vom riesigen Areal mit der Kapelle in der Mitte durch einen breiten Fußgängerkorridor und eine schulterhohe Holzbrüstung getrennt. Den Eingang versperrte ein livrierter Ordner, der meinen Namen wissen wollte, mürrisch auf einer an die Wand gepinnten Liste nachsuchte und mich, als er den Namen gefunden hatte, mit einem wortlosen Wink passieren ließ. Drinnen zwängte ich mich an den engbesetzten Tisch, auf dem mein Bruder, seine Frau und ihre Bekannten schon eine stattliche Zahl halb leerer Teller und Maßkrüge versammelt hatten. Eine Kellnerin brachte gerade eine Ladung frisch gefüllter Maßkrüge, die sie krachend auf dem Holztisch vor mir ablud und verteilte. Wir stießen an und gossen das kalte Bier in uns hinein. Ich war noch nicht ganz fertig mit dem gleich darauf servierten halben Hähnchen, das ich in mich hineinschlang, als sich eine Frau im Dirndl zu uns an den Tisch setzte.
»Schmeckt’s euch? – Ist alles recht so?«, fragte sie freundlich lächelnd.
»Das ist die Wirtin«, raunte mir meine Schwägerin zu. Ich wischte mir die fettigen Finger an der Serviette ab, gab der Wirtin die Hand, stellte mich vor und erwähnte, dass es später geworden sei, weil ich zuvor noch zu arbeiten hatte.
»Ja, was hams denn arbeiten müssen heut, am Sonntag«, erkundigte sie sich teilnahmsvoll.
Ich erklärte ihr, ich sei Journalist, und da habe es so eine Versammlung gegeben von den Opfern dieses Bombenattentats, hier auf der Wiesn, vor drei Jahren …
Die Wirtin setzte ein kummervolles Gesicht auf. »Mei, war des schrecklich«, sagte sie, »mei, war des schrecklich, des Attentat. Stellens eahna vor, der Vogel, der Sozi, der hat doch glatt die ganze Wiesn zusperrn wolln. Einfach zusperrn! – Da hättn wir glatt eins Komma fünf Millionen in den Sand gesetzt, die hätten wir verloren. Na, des war schlimm, des Attentat.«
Auf dem Heimweg nahm ich die Wirtsbudenstraße Richtung Ausgang. Links hinter dem Willkommensbogen, um das Mahnmal für die Bombenopfer stand eine Menschentraube. Aus der Nähe sah man, dass im Innern dieser Menschentraube etwa 30 junge Männer in dunkler Kleidung Schulter an Schulter zu einem Rechteck Aufstellung genommen hatten. Eine Mahnwache. Sie ließen mich in den Innenraum des Karrees, das sie mit ihren Körpern bildeten. Inmitten dieses freien Platzes am Rand der Wirtsbudenstraße, kaum sichtbar, gut übersehbar das dunkelbronzene Mahnmal für die Bombenopfer, ein vierkantiger, drei Meter hoher Pfeiler, der unvermittelt wie ein auf einer Baustelle vergessener rostiger T-Träger aus dem Boden ragte. Erst unmittelbar davor war die sparsame Inschrift in reliefartigen Bronzelettern zu erkennen. »Zum Gedenken an die Opfer des Bombenanschlages vom 26. 9. 1980«. Am Fuß der Stele zwei große, tönerne Blumentöpfe, ohne Bepflanzung. So hatten sie heute früh das Mahnmal vorgefunden, erzählte mir einer der dunkel Gekleideten: die frisch gepflanzten Blumen herausgerissen, in den Tontöpfen Zigarettenkippen, -schachteln, Abfall. In den Reliefbuchstaben steckten Kaugummireste und Papierschnipsel. »Zum Gedenken an die Opfer des Bombenanschlages vom 26. 9. 1980«.