Читать книгу Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen - Ulrich Chaussy - Страница 7

NACHTSCHICHT 22.19 UHR Die Bombe, die Opfer, die Helfer und die Politiker

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Freitag, der 26. September 1980, war der Tag, an dem der Zivildienstleistende Michael Angerer zum ersten Mal seit seiner Sanitäterausbildung Nachtschicht im Rettungsdienst hatte.

»Der Nachtdienst ging bei uns um 22 Uhr los. Wir hatten gleich einen Verkehrsunfall ins Schwabinger Krankenhaus zu bringen und kamen dort kurz nach zehn an. Ich habe den Patienten zur Nothilfe gebracht; mein Kollege blieb im Fahrzeug. Als ich zurückging, hörte ich, dass er das Martinshorn kurz laufen ließ. Das ist vollkommen ungewöhnlich und ein Zeichen, dass etwas Schweres im Anrollen ist. Ich lief zurück zum Fahrzeug. Mein Kollege, eigentlich ein älterer, ruhiger Typ, war einigermaßen aufgeregt. Er sagte nur: ›Explosion beim Brausebad.‹ So hieß die Einsatzmeldung. Das ist die Stelle an der Theresienwiese, wo der Haupteingang zum Oktoberfest ist.

Auf unserer Funkfrequenz ging es sehr hektisch zu. Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge hatten sich auf unseren Rettungsdienstkanal zugeschaltet. Ein Feuerwehrmann sagte: Er hätte sieben Tote gesehen und jede Menge Verletzte. Um kurz vor halb elf waren wir da. Wir kamen in einen richtigen Konvoi von Feuerwehrautos und Notarztwagen. Es war Polizei da, aber niemand, der sagte: Geht dorthin, fangt da an. Also bin ich ausgestiegen. Und ich kam auf das Areal am Haupteingang – vielleicht 100 Meter lang und 30 Meter breit. Das war abgesperrt. Dort stand ein Haufen Polizisten, die hatten ein Seil in den Händen. Mit dem Seil haben sie provisorisch die Menge, die von der Wiesn zum Ausgang drängte, zurückgedrängt. Sie konnten die Leute nur mit Mühe zurückhalten. Die standen dort zu zehnt mit ihrem Seil und hinter ihnen eine Wand von Menschen, die gafften und guckten. Im Vordergrund lag eine große Menge Leute auf dem Boden. Und um jeden, der da lag, standen ungefähr drei, vier, fünf Leute – Passanten, die irgendwie versuchten zu helfen, andere, die hilflos herumstanden, die man aber auch nicht mehr hinter die Absperrung bringen konnte. Ich vergesse das Bild nicht, ich habe es oft später geträumt. Im Vordergrund die Toten, die Schwerverletzten am Boden, im Hintergrund die Menschenwand mit den Polizisten, und ganz im Hintergrund ging der Betrieb auf dem Oktoberfest weiter. Das Riesenrad drehte sich, die übliche Oktoberfest-Musik war zu hören, und das Jauchzen und Kreischen der Leute in der Achterbahn, die ihren Spaß hatten. Im Vordergrund die Leute am Boden, die haben gestöhnt, sie waren verletzt und hatten Schmerzen. Und wenn hundert Leute stöhnen, dann gibt das einen eigenartigen Klangteppich. Das mischte sich mit der Musik und der Volksfeststimmung. Ich dachte: Hier ist ein Schlachtfeld; so sieht Krieg aus.«

Fast alle, die in der Geschichte des Attentats eine Rolle spielen sollten, drängten in den ersten Minuten und Stunden nach der Explosion zum Tatort. Ein Polizeiposten an der Zulieferstraße, 50 Meter westlich des Wiesneingangs, hörte um 22.20 Uhr eine gewaltige Detonation und verständigte über sein Handfunkgerät die Wiesnwache der Polizei. Von dort ging die Meldung weiter an die Rettungsleitstelle. »Vermutliche Bombenexplosion am Haupteingang Oktoberfest. Fahren Sie mit Notarzt und zwei/drei Rettungswagen hin.«

In dem zunächst stationierten Wagen bei der Chirurgischen Poliklinik Pettenkoferstraße, kaum mehr als einen Kilometer von der Theresienwiese entfernt, saß Oberarzt Dr. Wischhöfer. Er war als erster Notarzt zur Stelle. »Zuerst fielen die vielen taumelnden und über graue Gegenstände stolpernden Menschen auf, von denen man nicht wusste, ob sie nun verletzt, schockiert oder einfach betrunken waren«, so berichtete er ein Jahr später bei einem Kongress über Katastrophenmedizin: »Als sich das Auge an dieses Chaos gewöhnt hatte, entpuppten sich die zuerst grauen Gegenstände als amputierte Gliedmaßen und Körper von Toten. Über dem ganzen Geschehen lag in den ersten Minuten eine unheimliche Stille des Entsetzens, die nur vom schrillen Sirenengeheul der Schaubuden unterbrochen wurde. Es galt für die kurze Zeit, bis genügend Kräfte zur Verfügung standen, die Individualmedizin hinter der Massenmedizin anzustellen. Dies geschah durch eine sofort angestrebte Sichtung. Wie schon erwähnt, stand ein Großteil der erwachsenen Verletzten unter Alkoholeinfluss. Nicht zuletzt hierdurch wurde die Feststellung der Dringlichkeit der Behandlung im Sinne der Triage erschwert.«

Mittlerweile jedoch waren im Laufschritt die etwa 30 Polizeibeamten von der Wiesnwache mit ihren Absperrseilen angekommen, und auf dem provisorisch abgeriegelten Platz trafen Minute für Minute neue Rettungswagen ein. In kurzer Zeit kümmerten sich etwa 220 Sanitäter und 30 Ärzte um die Verletzten. Die Helfer schafften es, die 213 registrierten Verletzten binnen einer Stunde notdürftig zu versorgen und in die Krankenhäuser in und um München zu transportieren. Für 13 Menschen kam jede Hilfe zu spät. Fünf Männer und zwei Kinder lagen tot am Tatort; drei Männer, zwei Frauen und ein Kind sind auf dem Transport oder in den Krankenhäusern in den nächsten Tagen gestorben.

Während sich die Sanitäter und Notärzte noch um die letzten nicht versorgten Verletzten bemühten, trafen immer mehr Polizisten ein. Die Uniformierten stellten Sperrgitter auf, leiteten den Verkehr um und schickten die schaulustigen Wiesnbesucher heim, die jetzt zur Sperrstunde um 23 Uhr aus den Bierzelten strömten. Sie waren einfach nur guter Laune oder angeheitert oder betrunken. Ohne Ahnung, was geschehen war, führte sie ihr Heimweg über die Wirtsbudenstraße ganz zwangsläufig direkt auf den Tatort am Wiesneingang zu. Das innere, immer hermetischer abgeriegelte Gebiet war jetzt von Scheinwerfern grell erleuchtet. An einem Bus, einer fahrbaren Einsatzzentrale für Katastrophenfälle, trafen sich die leitenden Polizei- und Justizbeamten. Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber war aus einem Bierzelt herbeigeeilt. Mit dem Staatsanwalt Hanreich und dem LKA-Kriminaldirektor Wöbking wurde eine Arbeitsteilung vereinbart. Das Landeskriminalamt, zuständig für Sprengstoffdelikte, übernahm den Fall, und das hieß: die Spurensuche am Tatort, die Vernehmung von Zeugen des Geschehens. Die Münchner Polizei sollte sich um die Identifizierung der Leichen und die Personenfeststellung der Verletzten kümmern. Um 23.15 Uhr wurde bei dieser Besprechung die Sonderkommission Theresienwiese gegründet, für die zunächst 50 Beamte des Landeskriminalamtes eingeteilt wurden. Sprengstoffexperten kämmten das Gelände durch. Polizeifotografen dokumentierten das Gebiet, fotografierten die Lage der Toten und ihre zerschundenen Körper. Andere Beamte sammelten den Sprengschutt im Umkreis von einhundert Metern ein. Die Kleiderfetzen, Splitter, Handtaschen, Schießbudenblumen, die Geldbörsen und alles andere, was lose herumlag, wurden in Tüten gesteckt und auf Listen verzeichnet. Die Beamten arbeiteten bis in die Morgenstunden des Samstags.

Während die Ärzte und Operationsschwestern in den Krankenhäusern Münchens und Umgebung um das Leben der Verletzten kämpften, aus ihren Wunden die Splitter der Bombe schnitten und aussichtslos zertrümmerte Gliedmaßen amputierten, versammelten sich wichtige Persönlichkeiten am Ort der Bombenexplosion. Sie trafen sich in der fahrbaren Einsatzzentrale. Während ein paar Meter weiter draußen die Ermittlungsbeamten Spur um Spur aufnahmen, Detail an Detail zu setzen versuchten, gab man hier Einschätzungen ab. Minister der christsozialen bayerischen Staatsregierung waren gekommen, der sozialdemokratische Bundesminister der Justiz, schließlich der bayerische Ministerpräsident persönlich und später auch der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München.

Es war Wahlkampfzeit in der Republik, und wenn auch noch keineswegs klar war, woher dieser Ausbruch von Gewalt kam und auf was oder wen dieser Anschlag zielte, so erfasste doch einige Teilnehmer der nächtlichen Runde die Versuchung, das Geschehene in die großen Linien der Tagespolitik einzuordnen. Ein Bekannter des bayerischen Ministerpräsidenten Strauß, der Rechtsanwalt Dr. Franz Dannecker, begann dieses Spiel, als er einen Münchner Stadtrat eben jener liberalen Partei erblickte, die in Bonn den für die Sicherheitslage der Republik zuständigen Innenminister Gerhart Baum stellte. »Das habt ihr von eurer linken Politik«, schnauzte Dannecker den FDP-Mann Manfred Brunner an, der sich als Verwaltungsbeirat der Feuerwehr mit um den laufenden Katastropheneinsatz kümmerte. Der bayerische Finanzminister, aus einem Bierzelt herbeigeeilt, setzte nach. »Die FDP ist doch mitverantwortlich für das, was hier passiert ist.«

Der Kandidat selbst, der in diesen Wochen mit der Parole »Freiheit oder Sozialismus« das Amt des Bundeskanzlers anstrebte, witterte eine Chance gegen seinen amtierenden Rivalen, der, obgleich Sozialdemokrat, im öffentlichen Ansehen als die personifizierte Staatsautorität galt. Die Berater des Kanzlers Helmut Schmidt hatten dieses Image in die Wahlkampfparole »Sicherheit für Deutschland« gegossen. Noch nicht in der kleinen nächtlichen Runde am Tatort, erst am Vormittag des kommenden Samstags, für das Millionenpublikum Deutschlands größter Sonntagszeitung Bild am Sonntag packte Franz Josef Strauß aus:

»Es gibt keine Sinngebung des Sinnlosen. Das sind perverse Gehirne, morallose Menschen. Sie sind aber auch ein Zeichen dafür, wohin es kommt, wenn politische Verbrechen entmoralisiert werden« – ein noch dunkler Satz, den zu klären erst eine einfühlsame Zwischenfrage des Reporters half.

Bild am Sonntag: »Sprechen Sie damit Bundesinnenminister Baum (FDP) an, dem die Union das schon seit einigen Wochen vorwirft?«

Strauß: »Ja. Herr Baum hat schwere Schuld in zweierlei Hinsicht auf sich geladen. Erstens durch die ständige Verunsicherung und Demoralisierung der Sicherheitsdienste, die sich ja heute nicht mehr trauen, im Vorfeld aufzuklären und den potenziellen Täterkreis festzustellen. Zweitens durch die Verharmlosung des Terrorismus. Für mich ist Herr Baum als Innenminister eine Skandalfigur. Er hat zwar keine unmittelbare Verantwortung für dieses Attentat. Er ist aber als Innenminister fehl am Platz.«

Als der Kandidat diese Worte sprach, hatten die Arbeiter der Münchner Stadtreinigung bereits das eingetrocknete Blut der Bombenopfer von der Straße geschrubbt, hatte der Oberbürgermeister der Stadt beschlossen, dem Terror mit dem Weiterfeiern der Wiesngaudi zu trotzen – und das feierfreudige Volk strömte in Bierzelte und Buden und verschaffte den Wirten und Schaustellern einen neuen Einnahmerekord.

Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen

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