Читать книгу Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen - Ulrich Chaussy - Страница 8

AUGEN-BLICKE Zeugen gegen die Einzeltäterschaft

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Ich hatte keine Rückblende im Sinn, als ich mich in den Aktenstapel über das Attentat hineinlas – bis mir aufging, dass in meiner persönlichen Erinnerung diese Tage im September 1980 in München fehlten.

Damals hatte ich einen Rucksack gepackt, war in ein Flugzeug gestiegen und genau am Nachmittag dieses 26. September in die Ferien nach Griechenland geflogen. Da sei etwas passiert, eine Bombe sei hochgegangen auf Münchens Oktoberfest, schnappte ich am Abend darauf in Athen aus der Unterhaltung zweier deutscher Gäste auf, die sich neben mir auf dem Dach eines überfüllten Rucksacktouristen-Hotels zum Schlafen hinlegten. Im Reisetagebuch verzeichnete ich diese Unterhaltung nicht, auch nicht die Schlagzeilen der Bild-Zeitung, die in den Tagen darauf an den griechischen Zeitungskiosken prangten. Nur eine Nachricht aus der Ferne, heute vernommen, morgen vergessen.

Ein halbes Jahr nach der Reise rückte ich per Zufall ganz nah an den Ort des Geschehens. Wir fanden eine Wohnung am Rand der Theresienwiese. Die Treppe herunter, aus dem Haus heraus rechts gerade 100 Meter die Pettenkoferstraße entlang, die dort schon in den Bavariaring einmündet, diesen nach rechts 200 Meter entlang – dort ist der Haupteingang zur Oktoberfest-Wiese. Fast jeder Spazier- oder Einkaufsweg seither führte mich dort vorbei. Es gibt Plätze, die dabei ihre Geschichte erzählen, man hat sie oft gehört, von irgendwem. Dieser Platz erzählte seine Geschichte nicht.

Wenigstens gab der Aktenstoß präzise Auskunft darüber, woraus die Polizisten noch in der Nacht auf den 27. September ihre Schlüsse auf den mutmaßlichen Täter zogen. Aus ersten Zeugenaussagen und den Verwüstungen am Ort ging hervor, wo die Bombe explodiert war: auf der rechten, westlichen Hälfte der Wirtsbudenstraße, zwischen dem riesigen, mit Fichtenreisig bezogenen Willkommensbogen und der Einmündung der Wirtsbudenstraße in den Bavariaring. Dort, mit einer Kette an einem Verkehrszeichen befestigt, stand ein Papierkorb der Stadtwerke aus Eisendrahtgitter und Blech auf dem Boden, von dem aus um 22.19 Uhr zunächst für ein paar Sekunden eine zischende, meterhohe Stichflamme aufstieg. Erst danach folgte eine ohrenbetäubende Detonation. Diesen Papierkorb zerriss die Bombe in ungezählte, scharfkantige und nagelähnliche Metallsplitter, die die grauenhafte Wirkung der Bombe auf die Opfer noch erhöhten.

14 Meter östlich des Explosionszentrums fanden die Polizeibeamten den Toten, den die Bombe am schlimmsten verstümmelt hatte. Beide Arme waren ihm an den Ellenbogengelenken abgerissen, das linke Bein war am Oberschenkel abgetrennt, der Brustraum eine einzige aufgerissene Wunde, das Gesicht verbrannt, zertrümmert, ausgelöscht. Kein anderer Toter, kein Schwerverletzter wies ein vergleichbares Verletzungsbild auf. Keines der registrierten 213 Opfer des Anschlags hatte wie der zunächst unbekannte Tote seine Hände oder Arme verloren. Der Verdacht kam auf, dass der tote junge Mann im Augenblick der Explosion beide Hände an der Bombe gehabt hatte. Die Obduktion im Gerichtsmedizinischen Institut am Samstagmorgen erhärtete diesen Verdacht. Die Mediziner und die Sprengstoffexperten lasen aus der Art, dem Umfang und der Verteilung der Wunden, der Splittereinschläge und Verbrennungen ab, in welcher Körperhaltung der noch nicht sicher identifizierte junge Mann exakt im Augenblick der Detonation verharrt haben musste, die ihn erfasste, tötete und zu dem Torso entstellte, der nun vor ihnen auf dem Sektionstisch lag: Kopf und Oberkörper über den Abfallkorb gebeugt, so verbrannte und zerbrach ihm die Bombe das Gesicht, schoss Garben von Splittern in den Brustkorb. Mit den Händen griff er gerade in den Korb, so riss ihm die Bombe die Arme ab.

Den Bauch in der Beuge nach vorne eingeknickt, so blieb der Unterleib zwischen Nabel und Scham von Splittern fast unversehrt. Das linke Bein zur Balance des vorgebeugten Oberkörpers nach vorne nahe zu dem Papierkorb gestellt, so trennte es die Bombe vom Rumpf. Sprengstoffschmauch haftete dem Toten am Hals und an den Stümpfen der Oberarme; ihn gibt es nur in unmittelbarer Nähe der Explosion. Nur dort reißt der Druck die Kleider in Fetzen vom Leib, der Leichnam des jungen Mannes aber war bis auf einige Reste seiner Hose nackt. Rücken und Gesäß waren unverletzt; sie waren der Bombe abgewandt.

Zeige deine Wunde. Kein Gericht hätte den Obduktionsbericht der Gerichtsmediziner als Schuldbeweis für den Toten angesehen. »Im Zweifel für den Angeklagten« hätte es eingeräumt, dass sich der Tote ohne Arme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der von den gerichtsmedizinischen Gutachtern beschriebenen Position direkt über dem Detonationszentrum der Bombe befunden hat. Aber für den Beweis, dass der Getötete selbst der Bombenleger und nicht etwa ein Opfer der Bombe wie alle anderen auch ist, hätte das hohe Gericht den Vertreter der Anklage aufgefordert, mehr zu präsentieren. Indizienbeweise. Zeugen.

Die Bundesanwaltschaft hätte den Zeugen Frank Lauterjung aufgerufen, dessen Aussage sie in ihrem Schlussbericht »besondere Bedeutung« zumisst.

Frank Lauterjung war etwa um Viertel nach 9 Uhr abends kurzentschlossen zu einem kleinen Wiesnbummel aufgebrochen. Er wollte Luft schnappen und Leute beobachten. Von seiner Wohnung in der Schwanthalerstraße hatte er zu Fuß nur ein paar Minuten zu gehen. Ab halb zehn flanierte er dort auf und ab, wo beständiges Kommen und Gehen war, am Eingang zur Wirtsbudenstraße. Es war Viertel nach zehn, als er einen jungen Mann wiedersah, der ihm gleich nach seiner Ankunft unten an der Brausebadinsel schon aufgefallen war und den er deswegen für ein paar Minuten aufmerksam beobachtet hatte. Jetzt stand Frank Lauterjung ziemlich genau in der Mitte der Wirtsbudenstraße vor dem Willkommensbogen.

Schlussvermerk: »Vom Standpunkt 6 aus sah ich, dass der bereits früher von mir beobachtete Mann mit dem Wuschelkopf sich in südlicher Richtung bewegte. Ich sah ihn, als er sich etwa auf der Höhe des Fahrbahnrandes befand, und zwar nicht weit von dem jetzt in der Skizze eingetragenen Detonationszentrum entfernt.

Ich hatte freie Sicht auf ihn.

In seiner linken Hand trug er das Köfferchen, in der rechten Hand die Plastiktasche. Ich habe seine Augen wiedergesehen, er hatte schreckhafte, angstvolle Augen.

Ich dachte mir: jetzt kommt er daher; ich lass ihn erst mal vorbeigehen. Ich dachte mir, jetzt schaust einmal, was auf dich zukommt, vielleicht geht er vorbei, vielleicht sucht er Kontakt.

Der Mann blieb aber plötzlich stehen. Ich sah dann, wie er sich linksseitig bückte, wobei er sich um die Körperachse nicht drehte. Die Bewegung ließ eindeutig schließen, dass er etwas absetzte. Mich befiel bei dieser Beobachtung ein ungutes Gefühl.

Zeitgleich mit dieser Beobachtung sah ich, dass meist links von mir viele Personen die Wiesn verließen. Ich erinnere mich an eine Familie mit Kindern. Die Passanten versperrten mir dann die Sicht auf den jungen Mann mit dem Wuschelkopf.

Ich erinnere mich deutlich daran, dass ich von dem Ort ausgehend, wo sich der junge Mann befand, ein deutliches, schrilles, scharfes, langgezogenes Zischen vernahm.

Als nächste konkrete Beobachtung ist mir erinnerlich, dass ich die helle Plastiktüte hochgehen sah. Ich sah auch zwei Hände. Dann sah ich eine große Stichflamme, hörte Schreie. Mit dem etwa zeitgleichen Knall erfasste mich eine ungeheure Druckwelle. Ich verlor die Besinnung. Im Unterbewusstsein nahm ich noch wahr, dass ein Körper über mich hinwegflog. Als ich wieder zur Besinnung kam, war ich 15 bis 20 Meter von meinem letzten Standort entfernt.

Nach der Explosion sah ich eine entstellte Leiche, die in der Skizze mit L 6 (der später identifizierte Gundolf Köhler) bezeichnet ist. Die Leiche lag auf dem Rücken, das Gesicht lag mit der linken Seite am Boden. Als ich ihn so liegen sah, erkannte ich in ihm die Person wieder, die ich bisher als den Mann mit dem Wuschelkopf bezeichnet habe.«

Frank Lauterjung konnte sich an das eierschalenfarbene Hemd, die Jeans und die Jacke erinnern, die dieser Junge mit der schweren Plastiktüte in der einen und dem kleinen Koffer in der anderen Hand trug. Der Vernehmungsbeamte wollte wissen, warum sich Frank Lauterjung all dies so genau gemerkt hatte, auffällig genau für einen Zeugen. Der gab zurück, er mustere als Homosexueller einen Mann, der ihm gefalle, genauso sorgfältig wie andere Männer attraktive Frauen. Er hatte seinen Blick gesucht. Er sagte nicht: Der hatte krauses Haar, sagte fast zärtlich »Wuschelkopf« zu dem Mann, dem er nachgeschaut, der ihm gefallen hatte.

Kein Augenzeuge hat die letzten Minuten und Sekunden vor dem Attentat so präzise und aus solcher Nähe schildern können wie Frank Lauterjung. Dass er ausgerechnet im Augenblick der Zündung keine Sicht auf den mutmaßlichen Bombenleger hatte, hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.

Birgit Wenzel* hatte in diesem Moment freies Blickfeld. Sie war gerade mit ihrer Familie auf dem Heimweg durch den Willkommensbogen gegangen und schaute schräg links in Richtung Ausgang, dorthin, wo die Wirtsbudenstraße in den Bavariaring einmündet.

»Von meinem Standpunkt aus sah ich nordwestlich des Verkehrszeichens ›Vorfahrt beachten‹ zwei Personen. Diese beiden standen sich in einer Entfernung von ein bis eineinhalb Metern gegenüber, beide in leicht gebückter Haltung. In der Mitte zwischen den beiden sah ich etwas Weißes, etwa 50 Zentimeter breit und ca. 35 Zentimeter hoch. Der weiße Gegenstand hatte keine Ecken, war faltig. Die beiden beobachteten Personen hatten ihre Hände dran.

Als ich die beiden sah, dachte ich: Was reißen, was zerren die denn da? – Ich dachte mir: Was machen die denn da für einen Unfug? … Das nächste Bild, das ich in Erinnerung habe: Der weiße Gegenstand fliegt nach oben. Ich sah den Gegenstand etwas über Kopfhöhe und dann in Richtung Osten oder Südosten fliegen. Ich nahm dann einen deutlichen Lichtschein wahr. Es war ein richtiger Lichtball. Woher dieses Licht kam, weiß ich nicht. Ich habe ein weiteres Bild. Während dieser großen Helligkeit sah ich aus dem beobachteten Bereich zwei Beine weglaufen, und zwar in west-südwestlicher Richtung. Jedenfalls sah ich zwei Schritte. Diese beiden Beine liefen aus dem hellen Lichtschein heraus. Ich kann mich an keinen Menschen und nichts weiter erinnern, nur die beiden laufenden Beine.

Unmittelbar nach dem Licht nahm ich einen wahnsinnigen, dumpfen, lähmenden Knall wahr. Ich kann mich auch an einen lauten, entsetzlichen Schrei erinnern. Nach diesem Schrei war lähmende Stille.«

Mitten in den Polizeiakten taucht also plötzlich ein zweiter Mann auf, schemenhaft nur, zwei Beine, die weglaufen im gleißenden Licht vor der Detonation, ein Mann, nicht weiter beschreibbar wie der erste, den Birgit Wenzel deutlicher sah und ähnlich beschrieb wie Frank Lauterjung den jungen, wuschelköpfigen Mann mit der Plastiktüte. Diese weiße Plastiktüte, die Birgit Wenzel wie Frank Lauterjung bei der Explosion sahen, war Lauterjung schon aufgefallen, als er ihn zum ersten Mal sah, ihn musterte, sich einprägte. Da stand der Wuschelkopf – Gundolf Köhler – mit seiner schwer beladenen Plastiktüte und einem Köfferchen auf der Verkehrsinsel mit dem Brausebad-Häuschen, direkt gegenüber dem Wiesneingang auf der anderen Seite des Bavariaringes, und er war nicht allein. Er unterhielt sich hektisch mit zwei jungen Männern in grünen Parkas. Die beiden standen mit dem Rücken zu ihm, ihre Gesichter habe er nicht erkennen können, nur ihre Stiftenkopffrisur sei ihm aufgefallen, sagte Frank Lauterjung.

Frank Lauterjung ist für die Ermittler ein »zuverlässiger« Zeuge – der Mann, der den Beamten unmittelbar nach dem Attentat die Größe und Form des schweren Gegenstandes in der Plastiktüte beschreibt und damit die ungefähren Abmessungen der Bombe trifft, die Sprengstoffexperten erst Tage später aus den Splitterstücken rekonstruieren konnten.

Lauterjung und Wenzel lieferten die präzisesten, wichtigsten und brisantesten Aussagen dafür, dass Gundolf Köhler am Tatort und sogar unmittelbar vor der Explosion der Bombe nicht alleine war. Weitere Zeugen bestätigen dies. Einer gibt an, zwei junge Männer in Begleitung einer dunkelhaarigen Frau zwischen 21 Uhr und 21.25 Uhr an einem Tabakwarenstand in der Nähe des Willkommensbogens gesehen zu haben. Einer der jungen Männer sei Köhler gewesen. Ein weiterer Zeuge bekundet, einen jungen Mann mit einer Plastik- oder Stofftasche gegen 21.40 Uhr in der Nähe des Willkommensbogens beobachtet zu haben. Der junge Mann sei wahrscheinlich Köhler gewesen; in seiner Begleitung habe sich ein etwa 18-jähriges schwarzhaariges Mädchen befunden.

Schlussvermerk der Sonderkommission Theresienwiese vom 13. Mai 1981, Seite 185: »Schlussbemerkung. Nach dem jetzt vorliegenden abschließenden Ermittlungsergebnis ist festzustellen, dass Gundolf Köhler als Alleintäter gehandelt hat.«

Anderthalb Jahre danach werden mit einem anderen Aktenbündel, dem Schlussbericht des Generalbundesanwaltes aus Karlsruhe, im November 1982 die Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat offiziell eingestellt. Hier lautet die Zusammenfassung der Aussagen so: »Für eine Tatbeteiligung Dritter sprechen nur einige unterschiedliche Beweiserkenntnisse, die einen abschließenden Nachweis der Tatbeteiligung jedoch nicht zulassen.«

Ein weit vorsichtigerer Satz, nicht so apodiktisch. Fast eine Aufforderung, selbst nachzuprüfen und auszuforschen, wie viel die Augenzeugen der Tatnacht in ihren Erinnerungen bewahrt haben.

Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen

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