Читать книгу Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen - Ulrich Chaussy - Страница 6
DAS PAKET Wie mit einer Aktenlieferung alles begann
ОглавлениеDer Postbote schnaufte, als er mir das Paket heraufbrachte. Format kleine Umzugskiste, braunes Packpapier, verschnürt, kiloschwer. Zwei zwanzig Zustellgebühr. Ich schaute auf den Absender: K. Rebmann, Karlsruhe, Herrenstraße. Keine Ahnung, warum mir der Generalbundesanwalt ein Paket schicken sollte. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass Herr Rebmann an irgendjemand ein Paket mit seinem Namen darauf einfach so schicken würde. Der wirkliche Absender bewies allein schon mit der Namenswahl einen gewissen Sinn für Humor, und das weckte meine Neugierde auf den Inhalt. Ich gab dem Postboten die Gebühr und nahm mir das Paket.
Es war nicht schlampig gepackt und auch nicht so akribisch, wie das die Poststelle einer hohen Behörde erwarten ließe. Der Wellpappkarton war vollgepackt mit Fotokopien, zwei Stapel nebeneinander, ohne erkennbare Ordnung, ohne Begleitschreiben. Ich blätterte die Papiere durch, sah Amtsnamen, Aktenzeichen, ausgefüllte Formulare, Skizzen, Fotos, Stempel und Unterschriften. Dieses Paket hätte tatsächlich von Herrn Rebmann stammen können, denn er, der Generalbundesanwalt, war der Leiter des Ermittlungsverfahrens, dessen Akten ich – in Kopie, auszugsweise – in Händen hielt. Die Tat, die darin untersucht wurde, hatte im Herbst 1980 für einige Tage die Republik erschüttert. Die Aufregung hatte einige Wochen lang in Schlagzeilen und Leitartikeln nachgebebt und war dann in Kurzmeldungen verebbt.
Beim Auspacken und Sortieren des Aktenstapels kam mir in den Sinn, wie ich einige Zeit zuvor meine Erinnerung mit ein paar leicht vergilbten Zeitungsausschnitten aus dem Archiv im Bayerischen Rundfunk aufzufrischen versucht hatte:
»Gundolf Köhler dürfte als Alleintäter gehandelt haben. Für eine Mittäterschaft oder auch nur Mitwisserschaft anderer an dem Sprengstoffanschlag auf das Münchner Oktoberfest ließen sich keine konkreten Anhaltspunkte erkennen. Zu diesem abschließenden Ergebnis kam jetzt die ›Sonderkommission Theresienwiese‹, acht Monate nach dem Bombenattentat, das am 26. September vergangenen Jahres 13 Menschenleben und über 200 Verletzte forderte.« So stand es am 2. Juni 1981 im Münchner Merkur und ähnlich in anderen Zeitungen. Meine Archivrecherche zwei Sommer später war Auftragsarbeit. Ein Rechtsanwalt hatte die Ermittlungen im Fall Oktoberfest-Attentat öffentlich kritisiert; seine Kritik fand das Interesse eines Rundfunkredakteurs, der schickte mich zum Interview mit dem Anwalt.
Ich fuhr in seine Kanzlei. Der Anwalt war vorsichtig und knapp mit seinen Auskünften gegenüber dem unbekannten Reporter. Er habe zwei Mandanten, erzählte Werner Dietrich, beide Opfer des Oktoberfest-Attentates. In ihrem Namen habe er öffentlich Protest erhoben, weil Generalbundesanwalt Kurt Rebmann im Dezember 1982 die Ermittlungen in Sachen Oktoberfest-Attentat offiziell eingestellt hatte. Er habe Akteneinsicht gefordert, um sich über das Ergebnis der Ermittlungen ein genaues Bild machen zu können. Über diesen Protest hätten im Januar 83 die Zeitungen berichtet – und dann sei Merkwürdiges geschehen. Zeugen meldeten sich. Sie alle seien sehr erstaunt, mit welchem Ergebnis der Fall zu den Akten gelegt worden sei: Da habe ein einzelner Mann, der Student Gundolf Köhler aus Donaueschingen, allein diese Bombe gebaut, nach München gebracht und gezündet. Sie selbst hätten der Polizei doch schon in den Wochen danach ganz andere Beobachtungen berichtet. Verschiedene Beobachtungen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten seien das, sagte Dietrich, doch eines sei ihnen allen gemeinsam: Gundolf Köhler sei nicht alleine in München gewesen. Um diese Angaben überprüfen zu können, müsse er mehr kennen als die Abschlussberichte der Ermittler, er fordere, es müsse ihm Einblick gewährt werden in alle Spuren- und Ermittlungsakten.
Ich schaltete mein Tonband ab und ging. Von der Redaktion aus rief ich die Bundesanwaltschaft an. Kein Kommentar, hieß es da. Herr Rechtsanwalt Dietrich solle erst mal seine geheimnisvollen Zeugen präsentieren. Aus all dem wurde ein Dreieinhalb-Minuten-Radiobericht im »Abendjournal« des Bayerischen Rundfunks.
Diese Recherchen und der daraus entstandene Radiobeitrag am 9. Mai 1983 waren der unverhofften Zustellung des Aktenpaketes vorausgegangen. Ich machte mich daran, dessen scheinbar amorphem Inhalt mit Aktenlocher, Heftstreifen, Büroklammern und Hängemappen eine Art innerer Ordnung abzutrotzen. Das Herumlesen und Bündeln ließ mit der Zeit eine klare Hierarchie des Materials erkennen. Die zahllosen kleinen, dünnen Bündel bildeten das Rohmaterial; es bestand aus Zeugenaussagen, Gutachten und Aktenvermerken der Ermittlungsbeamten. Es gab offenkundig viel mehr von diesem Stoff als das wenige, was vor mir lag und vielleicht drei Aktenordner füllte. Denn die Zeitungen hatten berichtet, es sei die letzte Amtshandlung der Sonderkommission Theresienwiese gewesen, 26 Ordner mit Ermittlungsakten zum Generalbundesanwalt nach Karlsruhe zu schaffen. Aus diesem Material hatten die Polizisten und Staatsanwälte die Bausteine ihres Puzzlebildes jener Nacht auf dem Münchner Oktoberfest zusammengesucht. Die beiden dicksten Papierbündel, die bei meiner Sortierarbeit am Ende übrigblieben, enthielten dieses Puzzlebild in zwei leicht unterschiedlichen Versionen. Da war zunächst der »Schlussvermerk« des Bayerischen Landeskriminalamtes vom Mai 1981, 187 Seiten und sechs Fotoanlagen stark. Gemessen daran, nahm sich das letzte Wort der höchsten Justizbehörde in der Sache eher schmächtig aus: Der Schlussbericht des Generalbundesanwaltes vom 23. November 1982 in Sachen »Ermittlungsverfahren gegen 1. Karl-Heinz Hoffmann aus Ermreuth u. a., 2. Unbekannt, wegen Mordes, Vergehens nach § 129 a StGB und anderer Straftaten« ist gerade 96 Seiten lang.
Mit diesen beiden Dokumenten hielt ich in der Hand, was als offizielle Wahrheit über das Oktoberfest-Attentat ermittelt und doch nie vollständig, immer nur in der matten Blaupause kurzer Pressetexte veröffentlicht worden war, Nadelöhre, durch die nur noch dünnere Presseberichte dringen konnten. Ich nahm mir vor, die Spuren der Ereignisse jener Nacht aufzunehmen und ihnen zu folgen.