Читать книгу Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen - Ulrich Chaussy - Страница 16

PANORAMA Lauterjungs Angst und Tod

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»Ich habe nach dem 26. September wiederholt die Gedenkstätte aufgesucht, und zwar aus tiefer innerer Bewegung.« Das hatte Frank Lauterjung in einer seiner Vernehmungen zu Protokoll gegeben. Nun ging ich mit den Protokollen des toten Zeugen in der Hand den kurzen Weg zur Brausebadinsel vor dem Wiesneingang. Dort hatte er in jener Nacht seine Beobachtungen gemacht. Nicht ganz zwei Jahre nach dem Attentat war Lauterjung gestorben, nur 38 Jahre alt. Noch merkwürdiger als dieser ungewöhnlich frühe Tod erschien mir das genaue Todesdatum.

In den Morgenstunden des 3. August 1982 hatte sich in Rodgau-Niederroden bei Frankfurt der WSG-Hoffmann-Anhänger Stefan Wagner umgebracht. Zuvor hatte er Geiseln genommen und seinen Selbstmord mit einem Tatgeständnis begründet und angekündigt: »Die Polizei ist hinter mir her. Lebend bekommen die mich nicht. Wenn die mich greifen, kriege ich mindestens zehn Jahre Zuchthaus. Ich war bei der Aktion gegen das Oktoberfest in München dabei.«

Drei Tage später starb in München mit Frank Lauterjung der einzige Zeuge, dem die Ermittler in den ersten Wochen nach dem Anschlag als Zeugen für Gegenüberstellungen und Lichtbildvorlagen zutrauten, dass er die Begleitpersonen des mutmaßlichen Bombenlegers Gundolf Köhler identifizieren könnte – bis die Soko ab Anfang November 1980 von der Alleintäterschaft Köhlers ausging, das Interesse an ihm verlor und ihm durch die letzte Vernehmung zu verstehen gab, dass man seine Beobachtungen ganz anders bewertete als er selbst. Für Lauterjung waren diese heftig mit Köhler streitenden Begleiter real. Die Ermittler erklärten sie zu Schimären, zu von ihm falsch verstandenen Zufallsbegegnungen ohne Bedeutung. Sie glaubten ihm nicht mehr. Das kann Lauterjung Angst gemacht haben.

Am Wiesneingang zog ich die bei Lauterjungs Zeugenaussage gefertigte Tatortskizze heraus und suchte seinen Standort am Anfang seines abendlichen Spazierganges am 26. 9. 1980 auf. Das Brausebad ist ein pavillonartiger, gelbgetünchter Steinbau, der auf einer großen dreieckigen Verkehrsinsel unmittelbar gegenüber dem Ende der Wirtsbudenstraße steht, vom Oval der Theresienwiese durch den Bavariaring getrennt. Zur Wirtsbudenstraße hin hat das Brausebad einen leicht pompösen Vorbau, vier Säulen, die ein kleines Kapitell tragen.

Links dieser Säulen hatte Lauterjung gestanden, mit Blickrichtung Theresienwiese.

Von hier aus, etwa zehn Meter in Richtung Straße, sieht man vier Parkbänke. Zwischen ihnen stehen Bäume, vor ihnen verläuft das Trottoir, dann eine weitere Reihe Bäume, dann erst endet die Verkehrsinsel. Schräg rechts, genau in der Mitte zwischen den beiden Parkbänken rechter Hand, ein wenig hinter diesen Bänken auf das Brausebad zu, dort hatten sich Köhler und seine Begleiter nach Lauterjungs Schilderung befunden.

Dem einen aus dieser Dreiergruppe hat er ins Gesicht gesehen, dem Jungen mit dem Wuschelkopf, der die Plastiktüte und den Koffer dabei hatte. Die andern sah er von hinten. Von hier aus schon. Aber dann ging Lauterjung weiter:

»(…) und ging dann in südlicher Richtung in Richtung Wiesneingang. Als ich die südliche Kante der Brausebadinsel passierte, kam ich in einer Entfernung von etwa fünf Meter an der Dreiergruppe vorbei. Als ich vorbeiging, schaute ich noch mal zu dem Mann mit dem Wuschelkopf und dachte, vielleicht schaut er noch mal her (…).«

Lauterjungs Beschreibung der beiden jungen Männer mit Parkas und Stiftenkopffrisuren war nur schemenhaft, verglichen mit der detaillierten Beschreibung, die er von Köhler gegeben hatte. Er habe die beiden nur von hinten gesehen. Köhler dagegen habe er direkt ins Gesicht geblickt, und ihm allein habe sein Interesse gegolten. So hatte Frank Lauterjung begründet, warum er die beiden Begleiter Köhlers nicht genauer beschreiben konnte.

Ich ging Lauterjungs Weg.

Von der Bordsteinkante aus konnte er dem Wuschelkopf kaum noch ins Gesicht geblickt haben. Ihn sah er nun von schräg hinten. Dem einen Begleiter musste er von hier aus direkt gegenübergestanden, den zweiten von schräg vorne gesehen haben.

Konnte Lauterjung sie wirklich nicht genauer beschreiben? Oder traute er sich das nicht, weil er fürchtete, dass nicht nur er sie, sondern sie auch ihn sich eingeprägt hatten?

Die ersten Auskünfte über Lauterjungs Tod bekam ich vom Hausmeister des riesigen Appartementblockes, in dem Lauterjung zur Zeit des Oktoberfest-Attentats gewohnt hatte. Der Hausmeister Peter Kreiss* konnte sich an Frank Lauterjung gut erinnern. Die beiden spielten ab und zu miteinander Karten, gingen in der Cafeteria der benachbarten Kaufhalle zusammen Kaffee trinken oder feierten auch in größerer Runde mit anderen Hausbewohnern, so zum Beispiel an Fasching oder am 30. Geburtstag von Peter Kreiss.

Nach dessen Einschätzung war Frank Lauterjung bis zu der Nacht des Attentats gesund. Gegenüber Kreiss gab sich Lauterjung recht offen und machte auch aus seiner Homosexualität kein Geheimnis. Nur Kreiss’ Frau gegenüber war dieses Thema tabu. Über seine Erlebnisse in der Nacht des Attentats aber schwieg sich Lauterjung aus, obwohl er sonst in Gesellschaft gerne Geschichten zum Besten gab. Ein einziges Mal, bei einem Gespräch unter vier Augen, hat Frank Lauterjung seinem Bekannten Kreiss von der Bombenexplosion und den bedrückenden Minuten danach erzählt. Dass er den mutmaßlichen Bombenleger und darüber hinaus zwei weitere Personen in seiner Begleitung in der Zeit zuvor beobachtet hatte, ließ er bei dieser Schilderung aus.

Nach dem Attentat, berichtete Kreiss, begann bei Frank Lauterjung ein rapider gesundheitlicher Verfall. Lauterjung habe Herzschmerzen und Herzanfälle bekommen. Des Öfteren habe ihn der Notarzt in die Klinik bringen müssen. Einige Male schlossen sich daran längere Klinik- und Kuraufenthalte an. Er sei auch operiert worden. Mit der Zeit habe Lauterjung kaum noch arbeiten können und sei von einer Krankschreibung in die nächste gerutscht.

Ich fragte den Hausmeister, ob Lauterjung vor irgendetwas oder irgendwem Angst zu haben schien.

Er hat sich riesig aufgeregt, wenn er da jeden Tag runtergeschaut hat, auf den Tatort, sagte mir Kreiss.

Kreiss nahm seinen Hausmeisterschlüsselbund und fuhr mit mir im Fahrstuhl auf das Dach des Appartementhauses. Wir stiegen über eine Absperrung und gingen ein Stück über das kiesgedeckte Dach. Kreiss blieb dann ziemlich nahe am Rand des Hausdaches stehen.

Direkt hier drunter, so sagte er, hat er gewohnt, im obersten, elften Stockwerk. Und wenn er auf seinen Balkon rausgegangen ist, dann hat er genau denselben Ausblick gehabt wie wir jetzt.

Ich schaute hinunter. Von hier oben war jede Einzelheit zu erkennen: die dreieckige Verkehrsinsel mit dem Brausebad in der Mitte, die Stelle, an der Lauterjung gestanden hatte, die Parkbänke, hinter denen Köhler und seine zwei Begleiter sich damals miteinander unterhalten hatten, der Bavariaring, der Eingangsbereich der Wirtsbudenstraße, wo man Köhlers Leiche fand, der Bronzepfeiler des Mahnmals, der die Stelle bezeichnet, an der die Bombe explodierte. Von hier aus hätte der Polizeifotograf die ideale Überblicksaufnahme über den Tatort machen können.

Was für ein Mensch war Lauterjung, fragte ich.

Der Hausmeister überlegte kurz. Lauterjung habe sehr auf Äußerlichkeiten geachtet. Wenn du einen Kaffee bei ihm in der Wohnung getrunken hast, hat er gleich danach das Geschirr aufgeräumt, da war alles picobello in seinem Tuntenkammerl – so habe er, Kreiss, auch Lauterjung gegenüber manchmal dessen Appartement getauft –, in dem es messinggerahmte Spiegel und verspieltes Inventar gab, an der Wand ein Kruzifix und irgendwo eine kleine Muttergottesfigur. Jeden Tag kombinierte er seine Kleidung anders, immer gepflegt, und wenn du nach ihm in den Aufzug bist, erinnerte sich Kreiss, da hast immer gleich geschnuppert: Aha, da ist grad der Frank gefahren. Wenn der sich einen Stricher mit in die Wohnung nahm, der musste erst mal in die Badewanne und sich ordentlich waschen. So sei er gewesen, der Frank, nur eben dann immer kränker und nervöser.

Ich fragte noch einmal, ob Lauterjung Angst hatte, sich bedroht fühlte. Er habe nie so etwas gesagt, antwortete der Hausmeister. Nur eines sei ihm aufgefallen: Anfang 1981 habe ihn Lauterjung darum gebeten, an seiner Tür ein zusätzliches Sicherheitsschloss mit einer Kette und einen Türspion einzubauen, damit er immer sehen könne, wer vor der Tür sei. Im Juli 1982 sei Lauterjung ausgezogen. Er ertrage es einfach nicht mehr, jeden Tag diese Aussicht auf diesen Ort. Vier Wochen später habe ihn Lauterjungs Vater angerufen und erzählt, er habe seinen Sohn tot in der neuen Wohnung aufgefunden.

Der Lokaltermin am Brausebad und das Gespräch mit dem Hausmeister machten mir etwas bewusst, das sich zunächst unbemerkt und ohne Folgen allenfalls ab und zu in Verwunderung Luft gemacht hatte: So manche Spur von Köhler weg mag schwach und undeutlich gewesen sein, ohne Aussicht auf Ermittlungserfolg. Andere aber fand ich deutlich und gut sichtbar. Dennoch blieb alle Arbeit der Ermittler wie auf einer unsichtbaren Schiene immer auf Kurs, immer zu dem jungen Mann Köhler hin und nirgends sonst.

Das gesicherte Ermittlungsergebnis der Behörden erschien mir mehr und mehr wie eines der Rätsel, bei dem man eine Linie von Punkt eins zu Punkt zwei und immer weiter zieht, bis aus den vielen verbundenen Punkten ein Bild entsteht. Jeder der einigermaßen bestimmbaren Punkte hatte mit Köhler zu tun. Von einem dieser Punkte lief die Linie direkt auf geradem Weg zu dem nächsten, und nie machte sie einen Bogen zu einem der etwas abseits aufscheinenden Punkte, die nur nicht so indizienhell leuchteten und mit Köhler nicht direkt zu tun hatten. Jedenfalls war diese Art der Ermittlung das Werk von Kriminalisten, die aus Tatsachenmaterial Hypothesen bilden – in einem subjektiven Prozess, der dienliche Indizien ohne allzu kritisches Ansehen in sich aufsog, um andere Tatsachen, die die Leitlinie dieser Hypothese ad absurdum führen würden, nach lustloser Prüfung von sich zu stoßen.

Ich kann nicht belegen, welche Motive, welche Einstellungen oder gar Einflüsse von außen die Ermittler des Oktoberfest-Attentates so auf ihre Einzeltäter-Hypothese fixierten – über den einfachen Grund hinaus, dass dieser eine Täter nicht nur ermittelt war, sondern sogar tot am Ort der Tat lag. Womit die Arbeit getan war.

Aber komplementär zu der Versessenheit, mit der Gundolf Köhler zum Einzeltäter gestempelt wurde, herrschte das Desinteresse, mögliche Komplizen in Erwägung zu ziehen und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, sie ausfindig zu machen. Nirgends wird das deutlicher als beim Umgang mit dem Zeugen Frank Lauterjung und seinen brisanten Beobachtungen.

Frank Lauterjung war also am Abend des 26. 9. 1980 auf Kontaktsuche. Dabei stieß er auf Gundolf Köhler. Er nahm an, dieser junge Mann suche eine Übernachtungsmöglichkeit. Das schloss er aus dem Koffer, den Köhler bei sich hatte. Lauterjung hatte keine Scheu, auf Kontaktsuche ihm unbekannte Personen ganz direkt anzusprechen. Nur die beiden jungen Parkaträger, die sich minutenlang nicht von Köhler lösten, verhinderten, dass er ihn alleine, unter vier Augen ansprechen konnte. Genau dies hatte er nach seinem vergeblichen Kontaktversuch mit Köhler getan, als er die Brausebadinsel verließ und beim Willkommensbogen einen anderen jungen Mann ansprach. Das gab er auch bei seiner Vernehmung bei der Polizei zu Protokoll. Dieses Verhalten entsprach den Lebensgewohnheiten Lauterjungs, die sein Bekannter, der Hausmeister Peter Kreiss, geschildert hatte. Als letzten Versuch zur Kontaktaufnahme ist Lauterjung in fünf Meter Entfernung an der Dreiergruppe mit Köhler vorbeigegangen. Dass er dabei auch die Gesichter der Begleiter Köhlers gesehen hat, ist wahrscheinlich – und vorstellbar ist auch, dass die beiden den Mann bemerkten, der andauernd Gundolf Köhler fixierte.

Lauterjungs Zurückhaltung, von Köhlers Begleitern zu berichten, von deren Zusammengehörigkeit er nach seinen Beobachtungen ausging, zeugt von Unsicherheit, von Angst, vielleicht sogar Furcht vor den beiden Unbekannten. In seiner ersten Aussage erwähnte er die beiden nicht. Später, als er mit den beiden herausrückte, behauptete er, sie nicht beschreiben zu können. Dann die Persönlichkeitsveränderung. Die Angst. Die Erkrankung. Der Umzug weg von der Wohnung an der Theresienwiese. Der frühe Tod, als die Ermittlungen im Fall Oktoberfest-Attentat noch liefen. Hatten sich die Münchner Ermittler mit dem Tod des Hauptzeugen Frank Lauterjung befasst? Ich nahm mir vor, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.

Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen

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