Читать книгу Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen - Ulrich Chaussy - Страница 9
NOCH EINMAL Hinweise auf Komplizen
ОглавлениеAnfang Juli hatte ich Gisela Lehmann* aufgesucht. »Ihren Bekundungen zufolge hat unmittelbar nach der Explosion ein nicht identifizierbarer jüngerer Mann in Tatortnähe weinend ausgerufen: ›I kann nicht mehr! I wollt’s nicht! I kann nichts dafür! Helft’s ma!‹«
Nur im Schlussbericht des Generalbundesanwalts war ich auf dieses sonderbare Erlebnis aufmerksam geworden, das im Schlussvermerk des Bayerischen Landeskriminalamtes nicht erwähnt ist.
Ich könne mir auf ihre Aussage keinen rechten Reim machen, sagte ich Gisela Lehmann, als ich sie telefonisch ausfindig gemacht und erreicht hatte: Wer hat da zu wem diese Sätze gesprochen, die ein wenig nach Selbstbezichtigung klingen?
Was ich eigentlich vorhätte, fragte sie zurück.
Rauskriegen, was in dieser Nacht wirklich passiert ist. Mir ein Bild machen, das ich mir aus Akten allein nicht zusammenschustern kann.
Ob ich selbst eine bestimmte Theorie hätte?
Nein, nur Zweifel.
Woher ich ihren Namen und die Aussage kenne?
Aus den Ermittlungsakten.
Es war Glück, dass die Generalprobe im Anreden gegen Misstrauen und Angst auf diese Zeugin fiel. Sie war bereit, sich mit mir zu treffen.
(Naiv von mir, nicht von Anfang an zu sehen, dass das so sein musste: Ein Verbrechen geschieht; die Polizei ermittelt; findet einen Toten, der dieses Verbrechen allein begangen haben soll; schließt die Akten. Eine Handvoll Zeugen sagten: Der war nicht allein. Kaum ist Gras über die Sache gewachsen, ruft einer an, behauptet, er sei Journalist, fragt: Wen haben Sie da gesehen? Wie sah diese Person aus? Würden Sie sie zum Beispiel wiedererkennen? – Nein. Habe alles schon gesagt. Weiß nicht, was das jetzt noch soll. Hörer auf die Gabel.)
Gisela Lehmann kam ein paar Tage später nachmittags nach der Arbeit zu mir nach Hause. Wir gingen zusammen den kurzen Weg zur Theresienwiese. Lokaltermin. Noch hatten die Aufbauarbeiten für das diesjährige Oktoberfest nicht begonnen. Ohne den Willkommensbogen und die Buden und Bierzelte blieb nur die leere, geteerte Wirtsbudenstraße. Die ging Gisela Lehmann vielleicht hundert Meter ins Innere des Platzes. Dort blieb sie stehen und drehte sich um. Ich stellte das Tonband an, und wir gingen langsam zurück.
»Also, ich stand hier mit meiner Freundin und hab was gekauft, als ich einen Riesenknall gehört hab. Die ganzen Leute schauten dann in Richtung Ausgang. Man hat einen riesigen Rauchpilz gesehen.
Wir sind dann Richtung Ausgang gegangen. Einige Leute liefen. Wir sind auch ziemlich schnell gegangen, bis ungefähr hier, wo dieses Glückslos stand, so ein Rondell. Dann haben wir die ersten Leute am Boden liegen gesehen, die sich die Beine gehalten haben. Aus den Kleidern, Hosen, Röcken kam Blut. Wir gingen weiter. Wir haben dann Leute gesehen, die abgebunden haben. Die zogen ihre Kleider aus und banden damit ab. Dann sah ich etwas hier nach dem Ausgang.«
Wir waren wieder am Ausgang angelangt und standen an dem kopfsteingepflasterten Streifen Vorplatz, der sanft absinkend die Wirtsbudenstraße in den Bavariaring einmünden lässt. Genau hier, auf dem Randstein zwischen Straße und Vorplatz, war die Leiche des tatverdächtigen jungen Mannes gefunden worden. Hierher kam Gisela Lehmann unmittelbar nach der Explosion der Bombe.
»Ich sagte zu meiner Freundin: ›Was ist denn das? Was liegt denn da?‹ Das sah erst aus wie Abfall, der zerrissen war. Dann sind wir näher hin, sind davor stehengeblieben. Ich sagte: ›Das ist ein Toter.‹
Meine Freundin sagte: ›So was habe ich noch niemals gesehen.‹ Und sie fing an zu heulen.
Ich stand eine ganze Zeit entsetzt davor, dann bin ich vier, fünf Meter weiter nach rechts. Da waren zwei Männer, ein älterer, circa 35, und ein jüngerer, der war 25, 26 Jahre; groß, hatte blonde, kurze Haare. Der Jüngere hat wild um sich geschlagen und hat immer wieder geschrien: ›Ich wollt’s nicht! Ich kann nichts dafür! Bringt’s mich um! Ich kann nichts dafür! – Ich wollt’s nicht!‹ – Das hat er mehrmals gesagt, und der andere hat versucht, ihn zu beruhigen. Dann bin ich auch noch zu ihm hin. Aber der hat so wild um sich geschlagen, dass ich dann mit meiner Freundin weitergegangen bin. Das Auffallende war, dass er ziemlich nah an diesem Toten stand.«
Dieser Tote war der junge Mann mit den abgerissenen Armen. Keiner der anderen Toten lag in seiner Nähe.
Gisela Lehmann ging erst etwa eine Woche nach dem Anschlag zur Polizei, als sie ihr Erlebnis wieder und wieder Freunden erzählt und durch die Berichterstattung in der Presse begriffen hatte, dass sich die erregte Szene vor dem Leichnam von Gundolf Köhler abgespielt hatte. Das Entsetzen, ja die Selbstbeschuldigung des jungen Mannes, er habe dies nicht gewollt, galt genau dem Toten, der in Verdacht geraten war, die Bombe gelegt zu haben. Gisela Lehmann wurde zweimal verhört – etwa eine Woche nach der Tat; einmal bekam sie dabei Lichtbilder vorgelegt, und man fragte sie, ob sie darauf den jungen Mann erkennen könne, der bei dem Toten stand. Auf den etwa zehn vorgelegten Bildern konnte sie ihn nicht entdecken. Die Polizei hat nicht versucht, mithilfe der Bevölkerung den Mann zu finden, dessen so schwer erklärliches Verhalten die Zeugin geschildert hatte. Kein Aufruf in der Presse, dieser Mann möge sich selbst melden; keine Veröffentlichung der detaillierten Beschreibung, die die Zeugin gegeben hatte. Seit ihrer zweiten Vernehmung durch die Polizei im Oktober 1980 hat die Zeugin Gisela Lehmann bis zur Einstellung der Ermittlungen nie wieder etwas von der Polizei gehört.
In ihren Träumen nach der Tatnacht seien diese Bilder wieder erschienen, erzählte Birgit Wenzel: Zwei Männer stehen sich gegenüber, vornübergebeugt, zwischen ihnen das weiße, faltige Ding – »was zerren die denn da«, sagte sie zu ihrem Mann, der selbst die Szene nicht sah, aber sich an diesen Satz seiner Frau erinnern konnte, dann der Lichtschein, das weiße Ding fliegt nach oben, im Lichtschein die Schemen der weglaufenden Beine.
Auch Birgit Wenzel begegnete mir mit Vorsicht und Angst, als ich sie bat, sie zu ihren Beobachtungen befragen zu dürfen. Sie sei sich ihrer Beobachtungen völlig sicher, so sicher, dass sie davon ausgehe, irgendwo werde dieser zweite Mann jetzt frei herumlaufen, der damals, Augenblicke vor der Detonation, an dem weißen, faltigen Etwas zerrte, in dem sich die Bombe befand. Von den unzähligen Splittern traf einer ihren Mann in den linken Oberschenkel, ein anderer sie selbst in die Brust. Die waren noch in der Nacht schnell herausoperiert. Die auf den Schultern des Vaters schlafende fünfjährige Tochter blieb unverletzt. Sie hätten Glück gehabt, gemessen am Leid anderer ein paar Schritte vor ihnen. Aber die Bilder, die Birgit Wenzel den Beamten beschrieb, verschwanden nicht, und auch nicht die Angst, noch einmal nachts zur Oktoberfest-Zeit genau dort vorbeizugehen, wo das alles geschehen war. Bis dann ihr Mann sie zwei Jahre später dazu gedrängt hatte, mit ihm noch einmal denselben Weg zu gehen – vorbei am selben Ort, zu ähnlicher Zeit, nach einem Abend im Bierzelt, nachts mitten im Strom der Besucher. Das half gegen die Angst – und gegen die Zweifel an den eigenen Erinnerungen. Die waren aufgekommen, sagte Frau Wenzel, als die Beamten sie damals Detail um Detail vernahmen. Sie seien skeptisch gewesen. Kein anderer Zeuge habe ihre Aussage von einer zweiten Person am Tatort unmittelbar bei der Zündung der Bombe bestätigt. Trotzdem sei sie bei dem geblieben, was sie gesehen hatte, und sie bekam das Gefühl, man habe gegen einigen kritischen Widerstand das akzeptiert, was sie sagte.
War es denn wirklich so, dass sie nur den einen jungen Mann genau genug gesehen hatte, um ihn später beschreiben zu können, den Mann, den gleich darauf die Bombe tötete, wollte ich wissen. War denn der andere nach Statur und Gesicht wirklich nur in Schemen zu sehen?
Das sei wirklich so gewesen, und sie nehme nicht an, sie hätte diesen Mann auf irgendwelchen Bildern wiedererkennen können. Wohl deshalb hätten ihr die Beamten keine Bilder eventuell verdächtiger Personen gezeigt. Aber auch, wenn man nach ihren Angaben nicht konkret nach ihm habe fahnden können: Dass es den zweiten Mann am Papierkorb unmittelbar vor der Bombenzündung gegeben habe, da sei sie sich sicher. Es habe ihn gegeben, den zweiten Mann, der im Lichtschein davonlief.
Die Suche nach Frank Lauterjung war schwierig. Im aktuellen Telefonbuch war er nicht verzeichnet, die Auskunft hatte keinen Eintrag. Im Telefonbuch 1981/82 fand ich ihn noch. Unter der alten Nummer meldete sich eine junge Frauenstimme. Sie kenne Herrn Lauterjung nicht, aber der habe wohl vor ihr in diesem Appartement gewohnt und sei umgezogen. Manchmal komme noch Post auf seinen Namen.
Frank Lauterjung musste also innerhalb Münchens umgezogen sein und sein Telefon abgeschafft haben. Oder er wohnte jetzt in einer ganz anderen Stadt.
Ein paar Tage später ging ich zum Einwohnermeldeamt, Abteilung Passangelegenheiten und Wohnungsauskünfte, Buchstabe L. Hinter dem Schalter saß eine Beamtin am Terminal. Die fragliche Person sei verzeichnet, stellte sie fest. Gegen eine Gebührenmarke für drei Mark könnte ich Auskunft erhalten. Auf dem Zettel mit Marke und Stempel, Betreff: Auskunft aus dem Melderegister, stand: »Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr, eine Person mit dem Familiennamen, Vornamen Frank Lauterjung ist gestorben.«