Читать книгу Wie Österreich Weltmeister wurde - Ulrich Hesse-Lichtenberger - Страница 5
ОглавлениеFast alle der in diesem Buch gesammelten Texte wurden für eine Veröffentlichung im Internet geschrieben. Ein großer Teil von ihnen erschien Anfang des Jahrzehnts auf einem inzwischen eingestellten Fußball-Portal, andere waren auf Websites zu lesen, die nach dem Ablauf einer gewissen Frist wieder offline genommen wurden, da sie zeitlich an eine bestimmte Veranstaltung gebunden waren, zum Beispiel an eine Weltmeisterschaft.
Diese Entstehungsgeschichte der Texte erklärt drei Dinge. Zum einen, warum sie nun in dieser geballten Form in Buchform erscheinen: Der Verlag war der Meinung, es wäre schade, dass sie nicht mehr zugänglich sind – und welcher Autor würde einer solchen Einschätzung widersprechen? Einige der Geschichten wurden zwar in den vergangenen sieben Jahren durch Kollegen von mir aufgegriffen und in Büchern oder Magazinen erwähnt, aber wir reden hier von einer Zahl im einstelligen Bereich.
Zweitens erklärt der Ursprung der Texte ihren Inhalt. Etwas Verblüffendes wollten die Betreiber der angesprochenen Homepages haben, Rückblicke der unerwarteten Art, skurrile Geschichten. In jedem Fall etwas, das ein Besucher der Website – und handelte es sich auch um einen kenntnisreichen Fan – wahrscheinlich noch nicht gelesen hatte und was ihn für ein paar Minuten an die Website fesseln würde.
Ein paar Minuten. Das zielt auf das dritte Merkmal der … ja, was sind sie? Anekdoten? Kolumnen? … Texte ab: ihre Kürze. In der digitalen Welt hat offenbar niemand Zeit für etwas, oder zumindest nicht besonders viel Geduld, daher sind die Geschichten kompakt und knapp. Obwohl ich manchmal einen Trick angewendet habe und ein längeres Thema in mehreren Teilen abhandelte. Oder zumindest so etwas plante. Als ich zum Beispiel von dem Spieler hörte, der in den Lauf einer Maschinenpistole blickte, aber den Träger der Waffe dann kaltblütig umspielte, um ein Tor zu schießen, war ich so gefesselt, dass ich mehr über diesen Fußballer wissen wollte. Es stellte sich heraus, dass der Rest seiner Karriere noch bizarrer war als jene Episode. Und daher ist der mit Abstand längste Text in diesem Buch jener, der das mysteriöse Leben von Roni Kalderon behandelt. Er geriet so lang, dass ich ihn am Ende dann doch bei keiner der Internet-Plattformen einreichte; er ruhte bis heute auf der Festplatte meines Computers.
Kalderon ist in diesem Buch übrigens dahingehend in guter Gesellschaft, dass außer auf ihn noch auf drei andere Nationalspieler Schusswaffen gerichtet werden. Einer von ihnen wird entführt, damit er keine Tore mehr erzielen kann; ein anderer täuscht seinen Tod vor; der dritte stirbt wirklich. Was den Leser vermutlich zu der Frage bringt: Wie findet man solche Geschichten?
Man könnte annehmen, dass Zeitungs- oder Agenturmeldungen eine gute Quelle darstellten. Das waren aber eher Ausnahmen, denn erst in den letzten paar Jahren ist der internationale Fußball so interessant geworden, dass man auch über abseitige Dinge informiert wird, die in entlegenen Teilen der Welt passierten. Oder vielleicht auch nicht passierten … Das Problem mit Pressemeldungen ist nämlich oft, dass sie erstens nur aus ein paar Sätzen bestehen, die zweitens nicht immer fundiert sind. So musste ich eine meiner Lieblingsgeschichten fallen lassen, obwohl ich große Hoffnungen in die Meldung der französische Nachrichtenagentur Agence France-Presse gesetzt hatte, dass eine Filiale von McDonald’s umlackiert wurde, um erboste Fußball-Fans zu beruhigen. AFPs Behauptung, das Gebäude wäre tatsächlich nicht mehr in Gelb und Rot gehalten, ließ sich von mir nicht verifizieren.
Dafür fand ich im Zuge jener Nachforschungen den Hinweis auf eine schottische Stadt, in der Ampeln demoliert wurden, weil sie – wie Ampeln das von Zeit zu Zeit tun – das Grün von Celtic Glasgow anzeigten. Das wiederum ließ sich erhärten. Und auf ganz ähnliche Weise kamen viele andere Geschichten zustande. Während der Recherchen für meine anderen Bücher oder während der Arbeit an Artikeln begegneten mir oft Nebensätze, die etwas erklären sollten – für mich aber neue Fragen aufwarfen. Dass ein spanischer Klub auf seinen Stammtorwart verzichten muss, weil der sich gerade auf den Weltuntergang vorbereitet, kann nur jemand locker überlesen, der nicht neugierig ist.
Schließlich habe ich schon für Publikationen in allen möglichen Ländern geschrieben und stehe deswegen mit Journalisten aus Japan und Israel ebenso in Kontakt wie mit Kollegen aus den USA oder Australien. Unter solchen Umständen erwähnt schon einmal ein Fußball-Freund aus Schweden bei einem Bier die Geschichte von dem Spieler, der den Beginn des UEFA-Cup-Finales verpasst, weil er auf der Toilette eingeschlossen ist. Und sein deutscher Kollege erzählt davon, wie sich der Anstoß eines WM-Finales verzögert, weil keine Fahne der DDR aufzutreiben ist. Dann wird der Abend lang, und an seinem Ende ist der Bierdeckel ebenso vollgekritzelt wie das Notizbuch.
Ach ja, wenn sich der Leser jetzt am Kopf kratzt und denkt „Aber die DDR stand doch nie in einem WM-Finale und war auch nie Gastgeber“, dann ist dieses Buch das richtige für ihn.
P.S.: Der 36. Text des vorliegenden Bandes macht sich auf die Suche nach einem Team, das eine noch schlechtere Saisonbi-lanz aufzuweisen hat als Tasmania Berlins 0,23 Punkte pro Par-tie anno 1965/66. Das mag die Spieler des englischen Erstligisten Derby County auf eine Idee gebracht haben. Als nämlich die Erstauflage dieses Buches offiziell erschien, hatten sie gerade ein Unentschieden gegen Fulham errungen, lagen aber mit 11 Punkten aus 32 Spielen weiterhin mehr als nur abgeschlagen auf dem letzten Platz. In den abschließenden sechs Saisonpartien kassierte Derby dann nicht weniger als 22 Tore und ging jedes-mal als Verlierer vom Rasen. Sollte da wirklich eine Art unter-bewusstes Kalkül im Spiel gewesen sein, dann kam alle Anstren-gung zu spät: 11 Zähler aus 38 Spielen ergeben einen Schnitt von 0,29 pro Begegnung. Auch nach der alten Zwei-Punkte-Regel ist Derby noch zu gut, kommt dann nämlich auf 0,26. Der 2:2-Ausgleich gegen Fulham, zehn Minuten vor dem Ende, kostete County einen prominenteren Platz in diesem Buch als nur eine ans Ende des Vorwortes gepappte Fußnote.