Читать книгу Wie Österreich Weltmeister wurde - Ulrich Hesse-Lichtenberger - Страница 6
ОглавлениеSeit mehr als 75 Jahren finden Fußball-Weltmeisterschaften statt. Das sind Turniere, bei denen eine festgelegte Anzahl von Nationalmannschaften, die sich in der Regel für diesen Wettbewerb qualifizieren mussten, um den Weltpokal der FIFA streiten. Mal gewinnt dieses Land, mal jenes, aber meistens ist es Brasilien.
Vielleicht fragt sich der Leser jetzt, warum er gleich am Anfang mit solch banalen Informationen belästigt und ihm die Zeit gestohlen wird. Nun, zum Beispiel, weil er unter Umständen wissen möchte, wer der wahre Weltmeister ist – oder zumindest der andere. Doch zuvor will der Autor dem Leser eine Gegenfrage stellen: Ist es nicht ziemlich blödsinnig, den Fußball-Weltmeister durch solche Turniere in einem Abstand von vier Jahren zu ermitteln? Klar ist es das. Oder lässt sich eine der drei folgenden Thesen widerlegen?
These eins: Bei diesen Turnieren besteht die Gefahr, dass die eigentlich beste Mannschaft vorzeitig ausscheidet, weil zum Beispiel eine Lotterie wie das Elfmeterschießen zum Tragen kommt – siehe Holland 1998.
These zwei: Diese Turniere spiegeln möglicherweise gar nicht den aktuellen Leistungsstand wider, weil zum Beispiel ein inzwischen sehr starkes Team Monate zuvor in der Qualifikation gestolpert ist – siehe Holland 2002.
These drei: Da die Sieger dieser Turniere sich volle vier Jahre Weltmeister nennen dürfen, kann es passieren, dass die beste Elf der Welt den Titel nie holt, weil sie nur zwischen zwei WMs groß aufspielt – siehe Holland 1987 bis 1989.
Und das sind nur einige der Kritikpunkte. Dazu kämen noch Details wie der Heimvorteil, der schon so manche drittoder viertbeste Truppe zur besten werden ließ, oder die zuweilen etwas bizarren Modi, unter denen etwa eine Mannschaft Meister der Welt werden kann, die nicht ein einziges ihrer ersten drei Spiele gewinnt (Italien 1982).
So weit, so gut. Nehmen wir einfach mal an, dass der Leser jetzt zwar überzeugt ist, jedoch hartnäckig einwendet, dass es kein besseres Verfahren gäbe, um den Weltmeister zu ermitteln. Nun, zumindest James Allnutt aus Australien würde da vehement widersprechen. Schon vor langer Zeit fragte sich Mister Allnutt, wie die Fußballwelt wohl aussähe, wenn dieser Sport seine Weltmeister so ausspielen würde, wie das etwa im Profi-Boxen der Fall ist oder beim Schach mehr als ein Jahrhundert lang war: Wer den alten Weltmeister schlägt, ist neuer Weltmeister. Ganz einfach. Keine Turniere, keine Qualifikation – und vor allem: keine fragwürdigen Elfmeterschießen. (Wenn sich der Weltmeister und sein Herausforderer unentschieden trennen, verbleibt der Titel eben im Besitz des amtierenden Champions.)
Der einzige Haken an dieser sensationellen Idee war, dass Allnutt sich in der Folge durch anderthalb Jahrhunderte Fußball-Statistiken quälen musste, um den tatsächlichen aktuellen Weltmeister zu finden, weil die FIFA ja auf ihren wertlosen Turnieren beharrt. Allnutt folgerte zunächst, dass der erste Weltmeister logischerweise im ersten Länderspiel überhaupt ausgespielt worden war: England gegen Schottland am 30. November 1872. Leider lautete das Ergebnis 0:0, also sprang Allnutt zur nächsten Partie. Am 8. März 1873 spielten die beiden Länder wieder gegeneinander, und diesmal siegte England 4:2 – und wurde somit erster Weltmeister. Das Team behielt den Titel aber nur zwei Jahre, dann unterlag es Schottland.
Da die frühe Fußballgeschichte eine fast rein britische war, wechselte der Allnutt’sche Weltmeistertitel lange Jahre zwischen diesen beiden Mannschaften hin und her, und auch der erste Eindringling stammte aus Großbritannien: Im März 1903 gewann Irland gegen Schottland und kletterte so auf den Fußball-Thron. Erst 1931 wurde zum ersten Mal eine nicht-britische Mannschaft Weltmeister, auf die wir gleich noch zurückkommen werden. Bis 1950 verblieb der Titel in Europa, dann gewannen die USA mit 1:0 gegen England (übrigens bei der FIFA-WM!) und durften sich immerhin drei Tage lang als Weltmeister einer anderen Definition fühlen.
Manchmal überschneiden sich übrigens Allnutts Weltmeister mit denen der FIFA, so zuletzt bei der WM 1998. Nach diesem Turnier hielt Frankreich beide WM-Titel, den der FIFA und den von James Allnutt. Aber ein Jahr später verloren die Franzosen gegen Russland, das seinerseits zwölf Monate darauf geschlagen wurde – von Israel. Man sieht schon: Allnutts Wertung ist erstens viel demokratischer … und zweitens wahrhaft weltumspannend: In den vergangenen Jahren durften sich zum Beispiel Angola, Georgien und Venezuela Weltmeister nennen. Drittens zeichnet sich Allnutts Liste zudem auch durch etwas aus, was Engländer „poetische Gerechtigkeit“ nennen würden. So gelten nach seiner Wertung einige unbestritten große Teams als Weltmeister, obwohl ihnen die FIFA diesen Titel verwehrt.
Da wäre zum Beispiel die tolle holländische Elf der Johan-Cruyff-Ära. Sie hielt den inoffiziellen WM-Titel von Mai 1973 bis Juli 1974 (bis er wegen eines Spiels in München an Deutschland ging, übrigens auch offiziell). Und da wäre die so genannte „Wunderelf“ der Österreicher. Sie gewann bei der FIFA-WM 1934 in Italien vor allem deshalb nicht, weil sie im Halbfinale (gegen Italien) vom Schiedsrichter benachteiligt wurde. In Allnutts schöner, neuer Fußballwelt hat dieses Drama einen weniger bitteren Beigeschmack, denn nach seinen Regeln hatten die Österreicher sich schon 1931 mit ihrem legendären 5:0-Sieg über Schottland den Titel des Weltmeisters geholt, als erste nicht-britische Mannschaft, und ihn 19 Monate lang verteidigt. Für einen Weltmeister dieser Rechnung ist das eine sehr lange Zeit – denn er kann sich ja auf seinen Lorbeeren niemals ausruhen.
(Der Titel ging übrigens später, 1967, noch einmal für kurze Zeit an Österreich. Die Schweiz war 1982 Weltmeister, nach einem Sieg über Italien. Und Deutschland schließlich saß im Juni 2000 zum bisher letzten Mal auf Allnutts Thron. Der Titel wurde durch ein 3:2 gegen Tschechien errungen, ging aber wegen der 0:1-Niederlage gegen England im Rahmen der offiziellen EM bald wieder verloren.)
Jene Täuschungsversuche, die man als „Schwalben“ kennt, stellen für alle Fußballfreunde ein Ärgernis dar. Und doch fordern einige Exemplare dieser Spezies fast Bewunderung heraus. Ganz besonders gilt dies für eine von Allan Simonsen aufs Parkett gelegte Darbietung – der einst nicht etwa ein Foul vortäuschte, sondern gleich einen tödlichen Schuss aus dem Hinterhalt!
Simonsens nicht zu Unrecht als „Schauspieleinlage“ bezeichnete Vorstellung hatte in gewisser Weise mit dem größten Erfolg der dänischen Kinogeschichte zu tun, die auch in Deutschland bekannte Spielfilmserie über die „Olsenbande“. Maßgeblich beteiligt am Erfolg der Filme war Tom Hedegaard, der an den frühen Werken als Assistent mitwirkte und später Regie führte. Im Jahre 1977 aber produzierte Hedegaard einen Film unter dem Titel „Skytten“, zu Deutsch „Schütze“, der mit dem Humor der Olsenbande nichts zu tun hat.
Die Hauptfigur von „Skytten“ ist ein militanter Atomkraftgegner, der überzeugt ist, es täte dem Land Dänemark gut, wenn er wahllos ein paar Leute erschießen würde. Eines seiner Opfer ist Allan Simonsen, Star der Nationalelf und zu jener Zeit in Mönchengladbach unter Vertrag. Während eines Länderspiels legt der Heckenschütze vom Dach eines Krankenhauses auf Simonsen an und tötet ihn unter den Augen des Publikums. (Alles innerhalb der Filmhandlung, versteht sich!)
Wie nun sollte Hedegaard das inszenieren? Er konnte ja schlecht ein ganzes Länderspiel nachstellen, und in Gladbach hätte man es wohl auch nicht verstanden, wenn Simon-sen gesagt hätte, er müsse mal eben ein paar Tage nach Dänemark reisen, um ins Gras zu beißen. Also trat Hedegaard mit der Bitte an Simonsen heran, sich doch bei einem regulären Länderspiel tot zu stellen. (Dass er hinzufügte „Du weißt doch, wie man das im Strafraum macht“, ist nur ein ganz gemeines Gerücht.) Simonsen fand an der Idee Gefallen, und als er bei seinem nächsten Auftritt im dänischen Trikot zu einem Kopfball ansetzte, nutzte er die Gelegenheit, um danach zu Boden zu stürzen und einige Sekunden regungslos auf dem Rasen zu verharren. Hedegaard hatte auch den Reporter Svend Gehrs zur Mitarbeit bewegen können, und im Film sieht man, wie Gehrs in seiner Sprecherkabine sitzt und irritiert auf den Rasen blickt, während mehrere ebenso verwirrte Spieler um den wie leblosen Simonsen herumstehen.
Das Pikante an dieser Episode ist, dass Simonsen seine Mutter aller Schwalben nicht etwa in einem Freundschaftsspiel auf den Rasen zauberte, sondern im WM-Qualifikationsspiel zwischen Dänemark und Polen am 1. Mai 1977. Als es einen Eckball für die Dänen gab, wollte Simonsen wohl seinen Filmauftritt schnell hinter sich bringen, lief dem Ball entgegen und flog dann abrupt so theatralisch durch die Luft, als hätte er einen Schlag – oder eben einen Schuss – in den Rücken erhalten. Allerdings war ihm etwas Entscheidendes entgangen. Mit seinem plötzlichen Antritt hatte er nämlich seinen Bewacher so überrascht, dass der ihm gar nicht folgte. Als Simonsen seinen Tod vortäuschte, stand er daher elf Meter vor dem Tor völlig frei und hätte die Flanke erreichen können. Wenn er nicht gestorben wäre. So verloren die Dänen die Partie mit 1:2 und fuhren nicht zur WM. Simonsen bekam weder einen Elfmeter noch den Oscar.
Der Racing Club Buenos Aires ist einer der großen, legendären Vereine Südamerikas. (Eigentlich heißt er „Racing Club Avellaneda“, nach dem Schlachthofviertel von Buenos Aires, aus dem auch der bitterste Rivale des Racing Clubs kommt – Independiente.) Zwischen 1915 und 1918 gewann der Verein viermal in Folge die argentinische Meisterschaft, zwischen 1949 und 1953 sogar fünfmal. Und 1967 holte er schließlich in Montevideo (Uruguay) auch noch den Weltpokal gegen Celtic Glasgow. Aber genau an diesem glorreichen Tag begann der Niedergang des Racing Clubs. Während seine Fans nämlich den Sieg auf den Straßen von Buenos Aires feierten, brachen Anhänger von Independiente in das Stadion ihres verhassten Nachbarn ein, die berühmte „Academia“, und vergruben insgesamt sieben tote schwarze Katzen, um die Stätte mit einem Fluch zu belegen.
Jahrelang versuchten Offizielle und Fans von Racing Club alles nur Erdenkliche, um die Tierleichen zu lokalisieren. Während sie sich so abmühten, ging es mit dem Verein immer weiter bergab. Nach der 13. (!) Meisterschaft 1966 und dem nachfolgenden Weltpokal quälte sich der Klub durch 35 lange Jahre, ohne etwas zu gewinnen – 1999 stand man sogar vor dem Bankrott. In diesem Jahr fanden sich auch 100.000 Fans in der „Academia“ ein, weil ein Priester einen Exorzismus vornahm, um den Fluch vom Stadion zu nehmen. Das Problem war nämlich, dass der Racing Club im Laufe der Jahrzehnte sechs der toten Katzen gefunden und beseitigt hatte – aber eben nur sechs.
Anfang 2001 wurde Reinaldo Merlo neuer Chef des Klubs, und eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, eine großangelegte Suche nach der siebten Katze zu starten. Und „großangelegt“ bedeutet genau das. Selbst Flächen, die irgendwann nach 1967 betoniert worden waren, wurden aufgerissen, um an das Erdreich darunter zu gelangen. Und an einer dieser Stellen, die früher einmal ein Wassergraben gewesen war, fand man tatsächlich das Skelett der letzten Katze. Der Racing Club wurde noch in derselben Saison Meister.