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Kriterien der Nachprüfbarkeit

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Erstens bleiben Steiners Aussagen zwar am Ideal der Nachprüfbarkeit und Nicht-Beliebigkeit orientiert, betreten aber in ihren Inhalten oft Bereiche, die nicht einfach nachprüfbar sind. Was Steiner erzählt und denkt, ist nicht selten ungewöhnlich und mit dem alltäglichen Verstand schwer vereinbar oder im Sinn avancierter Vernunft kritisch in Frage zu stellen. So spricht er zum Beispiel von Phasen der Weltentwicklung, die mit den uns bekannten, naturwissenschaftlich erforschten Phasen nicht übereinstimmen oder überholt sind (»Atlantis«, »Lemuris«). Er verwendet Rassenbegriffe, die wir entschieden ablehnen. Er ergänzt die Darstellungen der Evangelien eigenständig. Er spricht von Engelwesen und schildert die menschliche Wesenheit in Begriffen und Aspekten, die esoterischen Überlieferungen übernommen sind. Soll das alles trotzdem Wissenschaft sein? Ist das Gefälle zwischen dem esoterischen Sonderwissen Steiners und dem entsprechenden Nicht-Wissen seiner Zuhörenden – wenn wir es denn gelten lassen – überhaupt überbrückbar? In welchem Sinn ist es möglich, Steiner zu kritisieren, Aussagen differenziert zurückzuweisen ohne damit die Gesamtheit des Werkes abzulehnen und auf die von ihm gebotenen Chancen zu verzichten? Wie wäre bei solchen Themenbereichen, in denen Steiner über ein Sonderwissen zu verfügen beansprucht, »Augenhöhe« – wenn wir sie denn als notwendige Voraussetzung sinnvoller Kritik erachten – möglich?

Diese Fragen hat zuletzt der Autor und Filmemacher Rüdiger Sünner angesprochen und er hat vorgeschlagen, Anthroposophie »als eine mythologisch-künstlerische Weltsicht« zu verstehen, »in der vieles offenbleiben und auch manches kritisiert werden muss, « eine Weltsicht, »die eher imaginative Experimente anbietet als unangreifbare Wahrheiten.«15 Diese Vorschläge, nach den mythologischen, künstlerischen und imaginativen Dimensionen der Anthroposophie zu fragen, greife ich in den folgenden Studien auf. Allerdings scheint mir aus den aufgeworfenen Fragen nicht zwangsläufig zu folgen, dass dabei der Wissenschaftsanspruch aufgegeben werden muss. Eine Rückbindung an Wissenschaftlichkeit, so meine These, bleibt gleichwohl bestehen, aber sie muss genauer bestimmt und erörtert werden. Das tue ich in den folgenden Studien, indem ich die Begriffe Dogma und Hypothese genauer untersuche und die Felder der Performativität und Narrativität als neue, zur Zeit Steiners noch nicht gegebene Forschungsfelder eine wenig beackere und zugänglich zu machen versuche. Ich führe auch, als einfaches Grundelement, die Denkform der Umkehr an, allein um zu zeigen, inwiefern esoterisches Denken im Feld der Wissenschaftlichkeit im Sinne starker begrifflicher Kohärenz zwar ansetzt, um es – in sich nachvollziehbar – zu überschreiten. Es wird sich zeigen, dass insbesondere die Forschungen der letzten Jahrzehnte wertvolle Beiträge liefern, auf deren Grundlage wir diesen Fragen solide nachgehen können. Die Begriffe von Wissenschaftlichkeit haben sich geändert. Wenn selbst die ›harten‹ Naturwissenschaften in großen Teilen als Erzählungen verstanden werden (müssen), dann ist mit dem Begriff der Narrativität eine Schnittmenge gegeben, die sowohl esoterische wie naturwissenschaftliche Aussagen trägt. Narrativitätsforschung hat selbst ›härtere‹ Naturwissenschaften in sich aufgenommen und gezeigt, wie ihre Strukturen bis in den Kern wissenschaftlicher Forschung reichen. Um es salopp zu sagen: Das dogmatische Narrativ von der Anthroposophie als Wissenschaft muss Federn lassen und sich als Erzählung verstehen, so wie der Kollektivsingular Wissenschaft bei genauem Hinsehen aus vielfältigen Forschungsansätzen besteht, die keine Einheit bilden und die in der Selbstreflexion Kritik walten lassen und – auch für sich selbst – einen anspruchsvollen Begriff von Erzählung zur Verfügung stellen. Hier gilt es hin zu schauen.

Hier, auf diesem ersten Feld, fragen wir nach den Kriterien, nach denen werden könnte, was wir einerseits unter Wissenschaftlichkeit verstehen, in welchem Verhältnis sie sich zu mythologischen, künstlerischen, imaginativen Diskursen findet und wie wir auf diesem Hintergrund wiederum Steiners Werk kritisch und zugleich angemessen verstehend nachvollziehen können. Es geht in diesem Sinne darum, Proben durchzuführen. Es geht um das Verstehen der Aussagen Steiners, um ein Verstehen auf aktuellem akademisch-wissenschaftlichem Hintergrund. Den Begriff der Hermeneutik verwende ich dafür in einem offenen, nicht festgelegten Sinn, der auch eine prähermeneutische Dimension mit meint, die nicht in Sprache aufgeht16 oder eine posthermeneutische Situation17 einschließt, die eingesteht, dass versprachlichende Sinnbildung nicht vollkommen möglich ist. Der Ausdruck »Hermeneutik« steht hier für die schlicht jeweils neu sich stellende Frage: Wie können wir Steiner angemessen verstehen? Mit ihm geht die Voraussetzung einher, dass es da etwas womöglich Lohnendes zu verstehen gebe und dass das Nachvollziehbare zu unterscheiden sei von dem kritisch zu Scheidenden. Bekanntlich kann sich »die Angemessenheit des Verstehens […] keinesfalls am Grad des Einverständnisses bemessen.«18

Der Erzähler Rudolf Steiner

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